31.12.2009 | Römer 8, 31b-39 (Altjahrsabend)

ALTJAHRSABEND – 31. DEZEMBER 2009 – PREDIGT ÜBER RÖMER 8,31b-39

Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Nun sind wir dran. Die ganzen letzten Monate haben wir es immer wieder miterlebt, wie alle möglichen Menschen und Einrichtungen Bilanz gezogen, ihre Bilanzen vorgelegt haben. Banken haben Bilanzen präsentiert und mussten dabei kleinlaut Verluste in Milliardenhöhe bekanntgeben, mussten eingestehen, dass sie alle möglichen faulen Papiere eingekauft hatten und sich damit mitunter bis an die Grenzen des Ruins verspekuliert hatten. Unternehmen präsentierten ihre Bilanzen und klagten darüber, wie sehr die Weltwirtschaftskrise sie getroffen habe. Und auch im Fernsehen wurde in den letzten Wochen kräftig Bilanz gezogen, wurden alle möglichen Jahresrückblicke präsentiert, wurden Menschen des Jahres gewählt und bejubelt. Ja, das gehört zum Jahresende offenbar mit dazu, in dieser Weise Bilanz zu ziehen.
Und nun sind wir dran. Bilanz ziehen wollen auch wir an diesem Abend, Bilanz ziehen am Ende eines Jahres, in dem wir so viel erfahren, so viel getan und nicht getan haben, was wir jetzt alles mit in diesen Gottesdienst geschleppt haben. Ehrlich soll, ja muss unsere Bilanz ausfallen; da gibt es keine Möglichkeiten, unsere Bilanz des vergangenen Jahres zu schönen, sie ein wenig gefälliger erscheinen zu lassen. Denn wir ziehen unsere Bilanz nicht bloß vor uns selber, sondern wir treten mit dieser Bilanz vor Gott, der all unsere Schönrechentricks durchschaut, dem wir nichts vormachen können, der genau weiß, was bei uns gelaufen und nicht gelaufen ist.
Und bei der Erstellung unserer Lebensbilanz erhalten wir nun wichtige Hilfe, Hilfe von keinem Geringeren als von dem Apostel Paulus selber. Der leitet uns hier dazu an, wie man das macht, eine Lebensbilanz im Angesicht Gottes zu erstellen. Drei Bereiche spricht er dabei an, die wir bei der Erstellung unserer Lebensbilanz, ganz konkret auch unserer Jahresbilanz für das Jahr 2009 berücksichtigen sollten:

- unsere Schuld
- unsere Erfahrungen
- unsere Erwartungen für die Zukunft

I.

Wer die bösen Buben dieses vergangenen Jahres waren, ist uns klar. Das waren und sind natürlich die Investmentbanker, das sind all diejenigen, die mit ihren wahnsinnigen Spekulationen die Wirtschaft in der ganzen Welt durcheinandergebracht und in die Krise gestürzt haben. Ja, da kann einen in der Tat die kalte Wut packen, wenn man sieht, was da gelaufen ist, wie Gier nach immer höheren Gewinnen Menschen blind gemacht hat, und wie diejenigen nachher die Suppe auslöffeln mussten und müssen, die sich an diesen Spielchen selber gar nicht beteiligt hatten.
Doch nun sind heute Abend wir dran. Es kann und darf in dieser Predigt nun nicht darum gehen, dass wir darüber schimpfen, was andere falsch gemacht haben, sondern es geht um uns, um die Bilanz unseres Lebens im Jahr 2009, ja, es geht um die Schulden, die wir dabei aufgehäuft haben.
Da mag uns manche Schuld am Ende dieses Jahres ganz offen vor Augen stehen: Wir haben Menschen weh getan, sie verletzt, sie enttäuscht, haben damit Porzellan zerbrochen, das sich so schnell nicht wieder zusammensetzen lässt. Wir haben versagt in der Wahrnehmung der Aufgaben, die uns in unserem Leben gestellt waren, als Eltern, als Großeltern, als Kinder, als Pastor, als Freund, als Freundin. Wir haben Gottes Gebote übertreten, vielleicht sogar ganz bewusst, tun es immer noch, hängen mitten drin in diesen Übertretungen und tun uns schwer damit, von uns aus irgendetwas an diesem Zustand zu ändern. Und wir haben in allem Gott selber oft so wenig ernst genommen in unserem Leben, haben uns für ihn und sein Wort oft so wenig Zeit genommen, haben unser Handeln und Urteilen oft so wenig von ihm und seinem Wort bestimmen lassen, haben ihm so wenig in unserem Leben zugetraut. Ja, wie gottlos haben wir in unserem Alltag oftmals in Wirklichkeit gelebt!
Ja, vieles davon ist uns ganz bewusst, mitsamt den Auswirkungen, die unser Versagen vor Gott und den Menschen gehabt hat. Aber das ist ja in mancherlei Hinsicht nur die berühmte Spitze des Eisbergs:
Da gibt es auch in unserem Leben so manche faule Papiere, Schuld, deren Konsequenzen wir jetzt noch gar nicht abschätzen, sie noch nicht einmal erahnen können. Da ticken vielleicht auch bei uns in unserem Leben noch so manche Zeitbomben: Schuld, die wir gut verdrängt und vertuscht haben und die doch irgendwann wieder hochzukommen droht. Ja, Schwestern und Brüder, wer von uns ist im Grunde nicht von Herzen froh darüber, dass die anderen, die auch heute Abend um uns herum sitzen, vieles von dem gar nicht ahnen, was sich hinter der Fassade unseres anständigen, christlichen Lebens in Wirklichkeit verbirgt!
Ja, anderen können wir etwas vormachen, gefälschte Bilanzen vorlegen; ja, wir können uns auch selber unser Leben schön rechnen. Doch es gibt zwei, denen können wir absolut nichts vormachen, die wissen genau, was sich hinter der Fassade unseres Lebens in Wirklichkeit abspielt. Und diese zwei, das sind Gott und der Teufel. Ja, der Teufel, er kennt unsere wahre Lebensbilanz ganz genau – er weiß, dass wir in Wirklichkeit völlig bankrott sind, keine Möglichkeit haben, uns selber zu retten und zu sanieren. Niemals wird es uns gelingen, uns selber wieder aus der Pleite herauszuarbeiten. Nein, so weiß er, am Ende unseres Lebens steht nicht nur der Totalbankrott, da wartet auf uns eine Verurteilung wegen der Veruntreuung unseres Lebens, das Gott uns doch als seine Leihgabe anvertraut hatte. Ja, die Anklageschrift gegen uns, die steckt beim Teufel schon in der Aktentasche – ach, was sage ich: Diese Anklageschrift ist so dick, die passt in eine Aktentasche gar nicht mehr rein.
Doch nun kündigt uns St. Paulus hier in der Epistel des heutigen Abends etwas geradezu Unfassliches an: Gott, der Richter der ganzen Welt, der Richter auch unseres Lebens, der wird am Ende, wenn es drauf ankommen wird, nicht der Argumentation der Anklage folgen, sondern er wird am Ende in seinem Gericht seine ganz eigene Bilanz aufmachen: Das Wort „Bilanz“ kommt ja aus dem Lateinischen: Bilanx, das ist im Lateinischen die Balkenwaage, die Doppelwaage. Wenn nun der Ankläger die ganze Schuld unseres Lebens in die eine Waagschale gepackt hat, dass sie bleischwer zu Boden sinkt, dann wird Gott der Richter in die andere Waagschale all das packen, was Christus getan hat für uns: Er, der die Strafe für unsere Schuld, für unser Versagen am Kreuz auf sich genommen hat, er bildet das Gegengewicht zu unserer bleischweren Schuld, lässt unsere Waagschale ganz nach oben schnellen bis in den Himmel. Oder, in der Sprache dieses vergangenen Jahres: Er, Christus, ist die Bad Bank, in der wir all den Schrott unseres Lebens auslagern dürfen, nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer. Er ist die Bad Bank, die es uns ermöglicht, dass wir vor Gott mit einer blitzsauberen Bilanz dastehen. Jetzt mal ohne Bild gesprochen: Er, Christus, der gekreuzigte und auferstandene Herr, der steht im Himmel für uns ein, der vertritt uns da als unser Rechtsanwalt, liegt Gott seinem Vater in den Ohren und paukt uns bei ihm durch: Nein, er erreicht nicht bloß eine Reduzierung der Strafe, er erreicht, dass die Strafe, die wir verdient haben, uns ganz erlassen wird, weil er, Christus, sie schon für uns abgebüßt hat. Ja, er erreicht allen Ernstes, dass Gott der Richter seine Neutralität aufgibt und ganz einseitig parteiisch wird: Er ist für uns, für uns Angeklagte, nicht weniger parteiisch als ein Fan von Schalke 04, der seinem Verein die Daumen drückt und für ihn jubelt.
Gott ist für uns – mit diesem unglaublichen Ergebnis wird unsere Bilanzpräsentation vor Gott einmal enden, die Präsentation unserer Schuld und unseres Versagens. Nein, Gott wägt nicht ab zwischen unserem Versagen und unseren guten Werken, prüft nicht, ob wir mit unseren guten Werken vielleicht doch unser Versagen ganz gut ausgleichen konnten. Sondern Gott wägt einzig und allein ab zwischen unserem Versagen und dem unglaublichen Geschenk, das er uns mit seinem Sohn Jesus Christus gemacht hat. Und das Ergebnis wird so klar und eindeutig ausfallen, dass Paulus allen Ernstes jetzt schon jubeln kann: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
Nein, du brauchst die Last deiner Schuld, deines Versagens nicht mit ins neue Jahr zu schleppen. Du darfst sie hier und heute abladen bei Gott, an seinem Altar. Um Christi willen nimmt Gott sie dir jetzt schon ab, um Christi willen, der seinem Vater in den Ohren liegt und sich mit seiner Fürbitte bei ihm durchsetzt. Ja, du darfst befreit, entlastet in das neue Jahr gehen, darfst befreit und entlastet auch der letzten Bilanzlegung deines Lebens entgegenblicken: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?

II.

Aber nun bringst du heute Abend zu deiner Bilanzlegung für das Jahr 2009 nicht bloß deine Schuld mit, sondern auch all die Erfahrungen und Erlebnisse, auf die du in diesem Jahr zurückblickst. Viele schöne Erinnerungen werden möglicherweise darunter sein, vieles, worauf du dankbar zurückblicken kannst. Doch an diesem Abend stehen dir vielleicht auch die anderen Erinnerungen dieses Jahres vor Augen: Dunkle Stunden, Abschiede, Enttäuschungen, Trauer, Krankheiten, Ängste, ja, vieles, worauf wir in diesem Jahr eigentlich dankend gerne hätten verzichten können. Doch all dies zusammen – das Schöne und Erfreuliche genauso wie das Traurige, Schmerzliche, Dunkle gehört in deine Lebensbilanz dieses Jahres 2009 hinein. Doch nun geht es darum, wie man all das, was du da erlebt hast, bewerten soll, was von all dem, was du erlebt hast, für dich wirklich bleibenden Wert hat und was du getrost vergessen kannst, was sich im Rückblick als vertane Zeit, als Seifenblase herausgestellt hat oder noch herausstellen wird.
Und da führt der Apostel Paulus nun einen ganz bemerkenswerten Bewertungsmaßstab ein für all das, was wir in diesem vergangenen Jahr erlebt haben. Und dieser Maßstab lautet: Hat mich das, was ich erfahren habe, von Christus, von seiner Liebe abgebracht oder nicht? Hat es mir vielleicht sogar geholfen, im Vertrauen auf Christus, im Vertrauen auf seine Liebe zu mir zu wachsen? Das, so macht St. Paulus deutlich, ist letztlich der einzig entscheidende Bewertungsmaßstab für das, was im letzten Jahr in unserem Leben gelaufen ist. Und wenn wir diesen Maßstab auf das anwenden, was wir im vergangenen Jahr erlebt haben, dann erscheint vieles doch noch einmal in einem ganz anderen Licht: Dann mag es durchaus sein, dass uns so manches, was schön und erfreulich war, eher von Christus weggezogen hat, weil es so schön war, dass wir für ihn, Christus, gar keine Zeit hatten, während manches Schwere, was wir in diesem vergangenen Jahr erlebt haben, uns im Gegenteil noch enger mit Christus verbunden hat, uns geholfen hat, seine Liebe zu uns noch einmal ganz neu zu erkennen. Nein, das muss nicht so sein: Es kann sein, dass die Erfahrung von Schönem und Erfreulichem uns ganz neu zum Dank an Gott angeleitet hat, und es kann sein, dass die Erfahrung von Schmerzlichem uns bitter gemacht hat, es uns schwer macht, an Christus und seine Liebe zu glauben.
Doch eines sollen und dürfen wir ganz gewiss sein, so betont es St. Paulus hier: Ganz gleich, wie wir selber es auch empfinden mögen: Gerade auch die schweren Erfahrungen, die wir in diesem vergangenen Jahr gemacht haben, sind kein Zeichen, dass Christus uns verlassen hätte, dass seine Liebe zu uns in Frage stünde. Nein, nichts von all dem Schweren, was wir erfahren haben, hat die Kraft, uns von der Liebe Christi zu scheiden, so schreibt der Apostel es hier ausdrücklich: Kein Abschied von einem geliebten Menschen, keine Enttäuschung über menschliche Gemeinheiten, keine Krankheit, keine Angst, keine dunkle Stunde. Christus ist bei uns geblieben, hat uns umfangen mit seinen liebenden Armen, auch und gerade dann, wenn wir davon nichts gespürt haben und auch jetzt davon vielleicht noch gar nichts ahnen. Nur positiv kann von daher unsere Lebensbilanz für das vergangene Jahr ausfallen: Christus, unser Herr, ist bei uns geblieben, hat uns getragen mit seiner Liebe und wird es auch weiter tun.

III.

Und damit sind wir schon beim dritten Teil unserer Jahresbilanz, unseren Erwartungen für die Zukunft, für das, was das neue Jahr 2010 wohl bringen wird.
In diesen Wochen sind alle möglichen Zeitschriften voll mit Jahreshoroskopen für das Jahr 2010. Die würden da wohl kaum überall drinstehen, wenn es nicht Leute gäbe, die das nicht bloß als Humbug ansehen, sondern solche Horoskope ganz ernst nehmen. Ja, die Sehnsucht danach, zu wissen, was die Zukunft bringt, die steckt ganz tief in uns drin, und auch heute Abend zu Silvester gibt es ja alle möglichen Bräuche, mit denen man ein wenig in die Zukunft blicken zu können glaubt. Ja, natürlich ist vieles von dem, was man da heute Abend auf diversen Partys machen wird, einfach nur Spielerei, natürlich ist der Glaube an die Macht von Sternzeichen, die angeblich einen Einfluss auf unser Leben haben, in Wirklichkeit völliger Schwachsinn. Doch der Apostel Paulus macht hier zum Abschluss unserer Predigtlesung deutlich, dass es tatsächlich Mächte gibt, die uns zu dem Irrglauben verführen wollen, die Zukunft läge in ihrer Hand, sie könnten einen Einfluss auf unser Schicksal ausüben. Die Grenze zwischen Spielerei und Ernst, zwischen Spaß und Okkultismus, sie ist oftmals fließend, und wir tun als Christen gut daran, sie nicht allzu weit auszutesten, uns nicht darauf einzulassen, mit Hilfe von irgendwelchen Praktiken in die Zukunft oder ins Jenseits schauen zu können. Nur allzu leicht begeben wir uns damit in Bindungen, aus denen wir nicht mehr so leicht herauskommen.
Ja, so macht uns der Apostel hier deutlich: Es gibt diese Mächte des Bösen, die unsere Neugier auf die Zukunft für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Doch in Wirklichkeit nehmen diese Mächte ihren Mund viel zu voll: Denn alle miteinander sind sie in Wirklichkeit nicht die Herren über die Zukunft, nicht diejenigen, in deren Händen unsere Zeit, auch unsere Zukunft liegt. Sondern unsere Zukunft liegt allein in den liebenden Händen unseres Herrn Jesus Christus. Keine Macht des Bösen, kein noch so schreckliches Ereignis, keine noch so gruselige Zukunftsvorhersage, auch kein noch so bedrückendes Zukunftsszenario, das Wissenschaftler entwerfen mögen, erst recht kein Sternbild kann uns von der Liebe Gottes trennen, kann ungeschehen machen, was doch schon in unserer Taufe geschehen ist: Unauflöslich gehören wir mit Christus zusammen; er allein ist unsere Zukunft. Was wir für das kommende Jahr auch erwarten mögen: Das eine steht bombenfest: die Liebe Gottes zu uns, die er uns konkret in seinem Sohn Jesus Christus zukommen lässt. Was auch im kommenden Jahr geschehen mag: Gott wird uns nicht fallen lassen, wird mit uns gehen auch durch das neue Jahr, wird uns auch weiter mit seiner Liebe umfangen. Daran wird auch keine Schuld und kein Versagen auf unserer Seite etwas ändern können. Mehr brauchen wir als Christen über unsere Zukunft auch nicht zu wissen; das reicht allemal. Hauptsache, Christus bestimmt die Bilanz unseres Lebens. Dann wird sie am Ende allemal positiv ausfallen. Amen.