28.06.2009 | St. Lukas 15, 1-10 (3. Sonntag nach Trinitatis)

DRITTER SONNTAG NACH TRINITATIS – 28. JUNI 2009 – PREDIGT ÜBER ST. LUKAS 15,1-10

Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er "eins" von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über "einen" Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und "einen" davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

„Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist. Ich stelle keinen Antrag auf Asyl, meinetwegen bleib ich hier.“ – So sangen vor einigen Jahren die „Toten Hosen“, neben den „Ärzten“ wohl die bekannteste deutsche Punkband. „Wer Messer und Gabel richtig halten kann und beim Essen grade sitzt, wer immer JA und DANKE sagt, dessen Chancen stehen nicht schlecht. Wer sich brav in jede Reihe stellt mit geputzten Schuhen, wer sein Schicksal mit Demut trägt, dem winkt die Erlösung zu. Wir sollen zuhören und aufpassen, tun, was man uns sagt, unterordnen und nachmachen, vom ersten bis zum letzten Tag. Immer schön nach den Regeln spielen, wie sie befohlen sind, wie sie im Buch des Lebens stehn, in Ewigkeit. Amen.“ – So begründen die Toten Hosen ihre fehlende Lust aufs Paradies. „Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist, wenn ich nicht rein darf, wie ich bin, bleib ich draußen vor der Tür.“
Schwestern und Brüder, ich vermute mal, dass dieses Lied nicht unbedingt Aufnahme in unser neues Lutherisches Gesangbuch finden wird. Anstößig, ja ärgerlich mag manchem erscheinen, was die Toten Hosen da singen, jedenfalls nicht unbedingt pädagogisch wertvoll. Und vielleicht mögen manche von euch von daher auch nicht unbedingt den ganz großen Wunsch verspüren, mit den Toten Hosen einen netten Abend zu verbringen, geschweige denn, dass wir es uns vorstellen könnten, solche Leute als Gemeindeglieder bei uns zu begrüßen. Wenn sie nicht ins Paradies wollen – dann sollen sie doch bleiben, wo sie sind!
Und genau damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon wieder mitten drin im Heiligen Evangelium des heutigen Tages. Da wird uns nämlich geschildert, wie Jesus mit den Toten Hosen der damaligen Zeit zusammenkam und mit ihnen kräftig feierte, mit lauter Leuten, die mit ihrem ganzen Leben dies eine zum Ausdruck brachten: „Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist. Ich stelle keinen Antrag auf Asyl, meinetwegen bleib ich hier.“ Nein, Jesus regt sich über diese Haltung nicht auf, er verlangt von den Leuten auch nicht, dass sie bitteschön erst einmal ihre Einstellung ändern, bevor er sich mit ihnen an einen Tisch setzt. Jesus hat keine Berührungsängste, was die Toten Hosen angeht, im Gegenteil: Er hat offenkundig ein besonderes Faible gerade für diese Leute. Und damit handelte er sich damals auch schon jede Menge Ärger ein, Ärger, den wir ein ganzes Stück weit nachvollziehen können: Wieso kümmert er sich denn bloß um diese Leute, wieso macht er mit ihnen gemeinsame Sache, isst und feiert mit ihnen, riskiert es, mit ihnen auf einem Foto zu erscheinen, ja, mit ihnen identifiziert zu werden? Was für Signale sendet er damit an die Jugend aus, ja, was sollen denn all diejenigen denken, die sich bemühen, ein halbwegs anständiges Leben zu führen?
Doch Jesus ist das überhaupt nicht peinlich, mit den Toten Hosen der damaligen Zeit, mit Finanzbetrügern und Prostituierten zusammenzusitzen; im Gegenteil: Gerade auch ihnen hat er etwas zu sagen, will auch ihnen, die gar keinen Bock aufs Paradies haben, etwas von dieser Welt vermitteln, von der sie offenbar herzlich wenig Ahnung haben – genauso wenig Ahnung wie all diejenigen, die sich da über ihn und seine Toten Hosen aufregen. Von Gott, seinem Vater, erzählt er ihnen und gerade auch denjenigen, die diesen Gott schon längst zu kennen scheinen und offenbar doch noch überhaupt nicht verstanden haben, wer dieser Gott eigentlich ist und was er eigentlich macht. Eine wunderbare Geschichte von Gott erzählt uns Jesus hier, die auch uns Gott noch einmal ganz neu wahrnehmen lässt. Dreierlei macht Jesus seinen Toten Hosen und auch uns deutlich:

- Gott läuft hinter euch her.
- Gott trägt euch nach Hause.
- Gott feiert euch kräftig.

I.

Da erzählt uns Jesus hier eine Geschichte von einem Menschen, der, so mögen wir beim ersten Hinhören den Eindruck haben, etwas völlig Verrücktes macht: Er ist der Besitzer einer Schafherde von hundert Schafen und stellt beim Durchzählen fest, dass eines dieser hundert Schafe fehlt. Vernünftig wäre es doch, mögen wir meinen, dass er nun umso mehr auf die neunundneunzig verbliebenen Schafe aufpasst, damit ihm nicht noch eins abhanden kommt. Aber er kann doch nicht allen Ernstes die neunundneunzig Schafe, die ihm geblieben sind, im Stich lassen und sich nur um dieses eine verlorene Schaf kümmern! Dann, so mögen wir meinen, bestünde doch die Gefahr, dass in der Zwischenzeit die anderen Schafe auch noch abgehauen sind, wenn er mit dem einen Schaf wieder zurückkommt.
Doch genau das ist hier gar nicht der Knackpunkt, um den es Jesus in seiner Geschichte geht. Als Parallele zu der Geschichte vom verlorenen Schaf erzählt Jesus hier das Gleichnis vom verlorenen Groschen. Und da setzt die Frau, die den einen Silbergroschen verloren hat, ja auch nicht die Existenz der anderen neun Groschen aufs Spiel, nur weil sie sich auf die Suche nach dem zehnten Groschen begibt. Damals in Israel war es üblich, dass mehrere Hirten sich um eine größere Schafherde kümmerten. Da konnte ein Hirte sich ganz gut auf die Suche nach einem verlorenen Schaf begeben, erst recht, wenn die anderen Schafe in einem Pferch zusammengetrieben waren und von daher leicht beaufsichtigt werden konnten. Jesus appelliert hier in seinem Gleichnis jedenfalls an die Einsicht seiner Zuhörer: Wer von euch würde es denn etwa nicht so machen wie dieser Hirte? Ihr würdet euch doch alle so auf die Suche nach dem einen Schaf begeben, so unterstellt es Jesus seinen Zuhörern.
Nein, überraschend ist nicht, dass der Hirte sich auf die Suche nach einem verlorenen Schaf begibt. Überraschend ist, dass Jesus mit dieser Geschichte seine gemeinsamen Mahlzeiten mit seinen Toten Hosen erklärt, dass er damit deutlich macht, dass Gott selbst noch hinter Leuten herläuft, die von ihm gar nichts mehr wissen wollen, die gar nicht ins Paradies wollen, dass Gott selbst noch hinter Leuten herläuft, die damals schon längst abgeschrieben waren, hinter Leuten, die auch wir in der Kirche vielleicht schon längst abgeschrieben haben.
„Ich will nicht ins Paradies“ – So erklären die Toten Hosen. Und nun müssen sie sich von Gott anhören: Ich möchte euch aber trotzdem mit dabei haben. Dass ihr keinen Antrag auf Asyl stellt, heißt nicht, dass ich euch von der Teilnehmerliste bei meinem Festmahl streiche, dass ich auf eure Teilnahme verzichte. Was für eine Überraschung für all diejenigen, die meinen, sie hätten dem lieben Gott nun wirklich deutlich genug erklärt, dass sie mit ihm nichts zu tun haben wollen! Was für eine Überraschung für all diejenigen, die so fest davon überzeugt sind, dass es diesen Gott überhaupt nicht gibt! Gott läuft auch hinter ihnen her, gibt sie nicht auf, begnügt sich nicht damit, sich einen kleinen, aber feinen Fanclub zu halten, der alles gut findet, was er macht!
Was für eine Überraschung für diejenigen, die meinen, Gott schon längst losgeworden zu sein – und was für ein Trost für uns selber: Auch wir sind für Gott nicht bloß eine Zahl in der Statistik, keine verzichtbare Größe angesichts all der vielen anderen, die doch auch zu ihm, zu seiner Kirche gehören. Gott ist es nicht egal, ob du hier mit dabei bist, ob du dich aus der Gemeinschaft mit ihm ausklinkst. Der schreibt dich nicht ab; dem lässt das keine Ruhe, wenn er dich nicht dort findet, wo er dich haben möchte – in seiner Nähe, in seiner Gemeinschaft. Ach, was ist das gut, einen solchen Hirten zu haben!
Ein Trost ist das für uns – und zugleich auch eine Anfrage an uns alle: Wen haben wir möglicherweise schon innerlich abgeschrieben, bei wem sind wir möglicherweise der Ansicht, der oder die würde doch sowieso nicht mehr zur Kirche, zum Glauben kommen oder zurückkommen, da seien alle Versuche, alle Einladungen doch nur vergebliche Liebesmüh? Ja, gibt es möglicherweise vielleicht sogar Leute, die wir hier bei uns auch gar nicht dabeihaben wollten, weil die doch gar nicht zu uns passen, weil die doch nur peinlich oder nervig wären? Gott denkt anders, der sortiert nicht aus, der gibt sich auch nicht mit 99% zufrieden. Keiner soll draußen bleiben, keiner soll verloren sein.

II.

Und damit sind wir schon beim Zweiten:
Wenn ein Hirte ein Schaf, das sich in der Wüste verirrt hatte, schließlich fand, dann geschah es tatsächlich häufig, dass das Schaf so verstört oder so mit seinen Kräften am Ende war, dass es nur noch platt auf dem Boden lag, nicht mehr dazu in der Lage war, neben dem Hirten nach Hause zu laufen. Dann blieb dem Hirten nichts anderes übrig, als das Schaf auf seine Schultern zu packen und es nach Hause zu tragen. Das klingt ja erst einmal ganz nett und romantisch, und manch einer mag das ja vielleicht sogar für ganz kuschelig halten, so ein Schaf auf den Schultern liegen zu haben. Doch in Wirklichkeit war das ein schweres Stück Arbeit, das der Hirte da zu leisten hatte. So ein Schaf wog ja locker 40 oder 50 Kilogramm. Stellt euch das nur mal vor, ihr müsstet 50 Kilogramm auf euren Schultern quer durch die Wüste tragen. Doch der Hirte macht es, auch wenn es ihm schwerfällt, weil er weiß: Ohne diese Schlepperei wäre das Schaf verloren; nur so kann ich es retten, dass ich es selber nach Hause trage, zurück zu den anderen Schafen.
Christus packt uns als der gute Hirte auf seine Schultern und trägt uns nach Hause. Wisst ihr, wie Christus selber diesen Vorgang hier nennt? Er nennt ihn Buße. Genau das ist also nach der Beschreibung Jesu Buße: Dass er, dass Gott selber uns auf seine Schultern packt und uns wieder zurückträgt, dorthin, wo wir hingehören. Und mit dieser Beschreibung überrascht Christus sie nun alle miteinander – die Gottlosen und die Frommen. Die Toten Hosen überrascht Christus, die doch glaubten, es sei so schwierig, ins Paradies zu kommen, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Die Toten Hosen überrascht Christus, die allen Ernstes glauben, der liebe Gott würde bürgerliche Wohlanständigkeit zur Voraussetzung für den Einlass in den Himmel machen, würde Wert auf geputzte Schuhe und anständige Tischmanieren legen und am Ende dafür Noten verteilen. Und stattdessen zeigt Christus seinen Toten Hosen hier, wie Gott sich abschleppt, ja sich auch mit ihnen abschleppt, keine Leistung von ihnen verlangt, sondern sie nach Hause trägt, weil er weiß, dass sie allein das sowieso nicht schaffen würden. Und all die Frommen überrascht Christus gleich mit – all diejenigen, die meinen, irgendeinen Beitrag müssten wir selber doch auch leisten, um gerettet zu werden, könnten uns doch nicht einfach über die Schultern des guten Hirten hängen lassen und gar nichts tun! So ein ganz bisschen müssen wir uns den Himmel ja wohl doch verdienen – das wäre ja wohl nicht gerecht, wenn der liebe Gott die Toten Hosen genauso in den Himmel ließe wie uns, die wir jeden Sonntag in die Kirche gegangen sind! Ja, was für eine tröstliche Provokation ist diese Schilderung der Buße, die Christus uns hier in diesem Gleichnis liefert: Buße heißt: Gott trägt uns nach Hause, schleppt sich mit uns ab, auch mit der ganzen Last unserer Schuld, wartet nicht auf unsere Entscheidung, gibt uns nicht bloß einen Stups und lässt uns liegen, wenn wir uns dann nicht allein auf den Weg machen. Er weiß doch: Wir könnten es allein nicht schaffen, und darum packt er uns auf seine Schultern, trägt uns nach Hause, damit wir nicht verloren gehen.

III.

Und dann wird gefeiert: Der Hirte trommelt seine Freunde und Nachbarn zusammen und feiert mit ihnen ein Fest. Weshalb? Weil er sich vor Freude nicht mehr einkriegt über dieses eine verlorene Schaf, das er wiedergefunden hat. Und genauso feiert die Frau, die den einen Silbergroschen aus ihrer Aussteuer wiedergefunden hat, ja, auch sie lädt ihre Freundinnen und Nachbarinnen ein und teilt ihre Freude mit ihnen, weil sie diese Freude einfach nicht für sich behalten kann.
Ja, genau solch ein Fest wird schon längst gefeiert – im Himmel, bei Gott, so erzählt es uns Jesus hier. Gott kriegt sich vor Freude nicht mehr ein über einen jeden, den er auf seinen Schultern zurückgetragen hat, Gott kriegt sich vor Freude nicht mehr ein über einen jeden, den er wieder in seiner Herde, in seiner Gemeinde sieht. Nein, Gott freut sich nicht einfach still vor sich hin; er teilt seine Freude mit allen, die ihn umgeben: mit allen Engeln und all denen, die jetzt schon in seiner sichtbaren Gegenwart leben. Nein, auch das reicht ihm noch nicht, und darum lässt er uns schon einmal mitfeiern: Jeder Gottesdienst ist solch ein Freudenfest, ein Fest, bei dem uns Gott Anteil gibt an seiner Freude über uns, an seiner Freude darüber, dass er auch uns in seiner Herde, in seiner Gemeinde, an seinem Altar antrifft.
Darum hat Jesus damals mit den Zöllnern und Sündern kräftig gefeiert, gegessen und getrunken, weil sie bei ihm waren, den Weg zu ihm gefunden hatten, mit dem Gleichnis gesprochen: weil sie nach Hause getragen worden waren. Und darum ist auch jeder Gottesdienst bei uns ein großes Fest, weil Gott uns hier immer wieder neu mit seiner Freude anstecken will, mit seiner Freude über uns, die er hier in die Gemeinde getragen hat. Ach, was meint ihr, was jedes Mal im Himmel los ist, wenn ihr in der Beichtandacht hierher nach vorne kommt, um Gottes Vergebung zu empfangen. Was meint ihr, wie da die Engel jubeln und singen, wenn sie euch hier am Altar knien sehen! Ja, feiern will Gott mit euch, und darum lädt er euch auch heute wieder an seinen Altar, um euch teilhaben zu lassen an seinem himmlischen Freudenmahl, um euch darin schon einen kleinen Vorgeschmack der Freude erfahren zu lassen, die euch am Ende eures Lebens einmal erwartet.
Ja, wer schon einmal etwas von dieser Freude mitbekommen hat, der will dann auch gar nicht mehr für immer hier bleiben wie die Toten Hosen. Das klappt ja ohnehin nicht, dass wir für immer hier bleiben; dass das keine Alternative ist, das wissen eigentlich ja auch die Toten Hosen ganz genau. Aber das brauchen wir eben auch nicht zu verdrängen, dass wir nicht für immer hierbleiben können; im Gegenteil: Wir fangen jetzt schon an zu feiern, erleben es jetzt schon, dass der Himmel keine Veranstaltung für Spießer ist, sondern dass bei Gott alle einen Platz haben, die sich seiner Einladung zur Freude nicht verweigern. Feiern wir darum kräftig weiter bei uns, lassen wir uns weiter von Gottes Freude über uns anstecken, hören wir nicht auf, auch andere zu diesem Fest einzuladen, und halten wir auch in unserer Mitte für alle einen Platz frei, die Gott noch bei uns anschleppt – vielleicht ja auch noch für die Toten Hosen! Amen.