11.07.2010 | Römer 6, 3-11 (6. Sonntag nach Trinitatis)

6. SONNTAG NACH TRINITATIS – 11. JULI 2010 – PREDIGT ÜBER RÖMER 6,3-11

Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein. Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebt Gott in Christus Jesus.

Habt ihr vor einigen Jahren im Kino auch den Film „Good Bye, Lenin!“ gesehen? In diesem Film geht es um eine scheinbar überzeugte DDR-Bürgerin, die kurz vor der Wende vor 20 Jahren ins Koma fällt und aus diesem Koma erst wieder erwacht, als der westliche Lebensstil längst Einzug in die allmählich ablebende DDR gehalten hat. Da die Frau keinerlei Aufregung vertragen kann, versucht ihre Familie, in ihrer Wohnung die frühere DDR wieder aufleben zu lassen: Die Frau soll nicht mitbekommen, wie viel sich in den Monaten ihres Komas in ihrer Umgebung verändert hat, ja, dass das Herrschaftssystem, dem sie einst angehörte, längst untergegangen ist. Urkomisch ist der Film an vielen Stellen, wie man sich unschwer vorstellen kann – denn wie soll es auf die Dauer gelingen, die Mutter in ihrer Scheinwelt weiterleben zu lassen, wenn die realen Herrschaftsverhältnisse sich doch längst geändert haben?
Um so etwas Ähnliches wie „Good Bye, Lenin!“ geht es auch in der Epistel des heutigen 6. Sonntags nach Trinitatis. Auch da geht es um einen Herrschaftswechsel, um eine noch viel dramatischere Wende als die, die wir vor 20 Jahren in unserem Land miterlebt haben. Nicht Honecker oder Mielke heißen hier in unserer Epistel die alten Herrscher, sondern sie heißen „Sünde“ und „Tod“.
Nun klingt die Vorstellung, von der Sünde beherrscht zu werden, für viele Menschen heutzutage weitaus angenehmer als die Vorstellung, von Herrn Honecker oder Herrn Mielke beherrscht zu werden. Was soll schon so schlimm daran sein, von der Sünde beherrscht zu werden? Im Gegenteil: Das klingt doch beinahe ein wenig spannend: Sünde im heutigen Sprachgebrauch verleiht dem Leben doch erst den richtigen Kick, wenn man sich nicht überall ganz stur an irgendwelche Vorschriften und gesellschaftlichen Konventionen hält, wenn man einfach mal was Unvernünftiges tut! Ein Leben ohne Sünde wäre doch langweilig und spießig! Hier und da mal kräftig über die Stränge zu schlagen, Ernährungsvorschriften zu missachten, die Straßenverkehrsordnung nicht ganz so eng zu sehen, ja, auch das eine oder andere Abenteuer im Bett zu erleben, das macht das Leben doch erst so richtig aufregend! Und ist das dann nicht sogar eine wunderbare Ausrede, sagen zu können, dass ich dafür doch eigentlich gar nichts kann, wenn ich an dieser oder jener Stelle einfach schwach geworden bin, wenn ich hier und da einfach mal meiner Lust gefolgt bin, dass ich dafür doch eigentlich gar nichts kann, weil mich nun mal die Sünde beherrscht hat? Ein DDR-Bürger konnte ja auch nichts für seinen Staatsratsvorsitzenden; ihm blieb eben auch nichts Anderes übrig als so zu leben, wie die Herrschenden im Land das vorgaben!
Doch mit solch einem Vorverständnis von „Sünde“ können wir eben überhaupt nicht kapieren, worum es dem Apostel Paulus hier in unserer Epistel geht: Der spielt hier nicht die fleischgewordene Spaßbremse, der will uns hier nicht zum Spießertum bekehren, sondern der will uns hier vor Augen führen, wie es wirklich um uns steht und gestanden hat, ja, was Sünde eigentlich bedeutet. Um verstehen zu können, was Sünde eigentlich bedeutet, müssen wir zunächst einmal darum wissen, wozu wir Menschen eigentlich geschaffen und bestimmt sind, was eigentlich Sinn und Ziel unseres Lebens ist: Sinn und Ziel unseres Lebens bestehen nicht darin, ordentlich Geld zu verdienen, ein bisschen Spaß zu haben, Karriere zu machen und uns im Übrigen gut zu unterhalten. Sondern Sinn und Ziel unseres Lebens bestehen darin, für immer in der Gemeinschaft mit Gott zu leben, mit Gott, der uns geschaffen hat, dem wir unser Leben verdanken. Langweilig finden kann das nur jemand, der keine Ahnung von Gott hat, der keine Ahnung davon hat, was das bedeutet, Gott für immer sehen, für immer in seiner Nähe leben zu können. Da kommen keine Achterbahnfahrt und kein Millionengewinn im Lotto, kein trautes Familienleben, kein Nachtclubbesuch und noch nicht einmal der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft mit. All das ist stinklangweilig, ja uninteressant im Vergleich zu dieser Bestimmung unseres Lebens, für die wir eigentlich von Gott geschaffen worden sind.
Und Sünde bedeutet von daher eben nun nicht, dass wir hier oder da etwas Verbotenes tun, dass wir uns unanständig verhalten und uns nicht zusammenreißen können. Sondern Sünde bedeutet, dass wir Menschen Gott aus unserem Leben ausklammern, dass wir meinen, ohne ihn und sein Wort klarkommen zu können, dass uns alle möglichen anderen Dinge wichtiger sind als Gott und sein Wort, wichtiger, als für immer mit Gott in seiner Gemeinschaft leben zu können. Ach, was sage ich: Letztlich hätten wir damit immer noch nicht im Tiefsten erfasst, was Sünde eigentlich ist, wenn wir glaubten, Sünde sei etwas, was wir tun oder lassen könnten. Nein, sagt der Apostel Paulus hier: Sünde ist eine Macht, die uns von Gott fernhält, die verhindert, dass wir für immer in der Gemeinschaft mit Gott leben können. Wir Menschen wurden allesamt, so zeigt es uns der Apostel, schon in den Machtbereich der Sünde hineingeboren, genauso wie ein Mensch, der im Jahr 1960 in Ostberlin oder in Dresden geboren wurde, unter dem Herrschaftssystem der DDR geboren wurde, ohne dass er von sich aus die Möglichkeit gehabt hätte, sich dafür oder dagegen zu entscheiden. Keine Chance hatten wir von uns aus, diesem Herrschaftssystem der Sünde zu entkommen; jegliche Fluchtversuche wären von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber auf die Idee, aus diesem System fliehen zu wollen, wären wir von uns aus auch gar nicht gekommen; denn es lässt sich unter diesem System eigentlich ganz gut leben. Man kann auch ohne Gott in seinem Leben glücklich und zufrieden sein, Spaß haben, all das haben, was man scheinbar doch für sein Leben braucht. Und doch führt das Leben unter diesem Herrschaftssystem letztendlich in die Katastrophe, in die Katastrophe des ewigen Todes, so zeigt es uns St. Paulus hier: Wenn ich getrennt von Gott lebe, dann bleibe ich auch in und nach meinem Sterben getrennt von Gott, dann habe ich die Bestimmung meines Lebens endgültig verfehlt.
Doch nun hat in der Zwischenzeit die große Wende stattgefunden – und zwar gleich in doppelter Gestalt: Stattgefunden hat die große Wende zum einen schon ganz grundlegend vor zweitausend Jahren, als Christus durch seinen Tod am Kreuz die Sünde entmachtet hat, ihr das Recht genommen hat, weiter noch das Leben von uns Menschen zu beherrschen, und als Christus durch seine Auferstehung auch dem Tod die Macht genommen hat, uns Menschen für immer in seiner Gewalt festzuhalten. Und diese große Wende, die hat sich nun auch ganz konkret vollzogen in deinem Leben – scheinbar völlig unspektakulär und doch ganz real am Tag deiner heiligen Taufe. Was ist da in deiner heiligen Taufe geschehen? Scheinbar gar nicht viel: Für viele Menschen, ja selbst für viele Christen scheint sich in der Taufe nicht mehr abzuspielen, als dass da ein kleines Kind mit Wasser begossen wird, dadurch in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen wird und irgendwie von Gott so eine Art von Segen erhält. Und ein Anlass zu einer netten Familienfeier scheint solch eine Taufe allemal zu sein.
Doch in Wirklichkeit hat sich da auch in deiner Taufe unendlich mehr abgespielt, ein Drama, von dem man beim ersten Hinsehen erst einmal überhaupt nichts ahnt. Dort in der Taufe hat Christus dich nämlich dem Herrschaftssystem der Sünde entrissen. Und wie hat er dies gemacht? Ganz einfach dadurch, dass er dich hat sterben lassen. Er hat sich mit dir so eng in deiner Taufe verbunden, dass du mit ihm zusammen gestorben bist. Und damit hat das Herrschaftssystem, dem du bis dahin seit dem Tag deiner Geburt unterworfen warst, seinen Rechtsanspruch über dich verloren. Das kennen wir ja auch aus unserem Alltag, das kennen wir auch aus Krimis im Fernsehen: Wenn ein Mörder stirbt, dann kann die Polizei nichts mehr gegen ihn unternehmen, dann muss auch die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen einstellen: Ich kann an einen Toten keine Rechtsansprüche mehr stellen, ich kann ihn nicht bestrafen; er ist meiner Verfügungsgewalt entnommen. Und genau das hat Christus nun in der Taufe gemacht: Er hat uns einfach sterben lassen, zusammen mit ihm – und schon hatten all die Mächte, die uns von Gott fernhalten wollen, keinen Zugriff mehr auf uns. Aber natürlich ist es in der Taufe nicht dabei geblieben, dass wir einfach nur gestorben sind, dann hätte uns die ganze Rettungsaktion, die Christus da gestartet hat, natürlich nichts genützt. Sondern Christus hat uns in der Taufe so eng mit sich verbunden, dass wir auch an seinem Auferstehungsleben Anteil bekommen haben, dass wir ein neues Leben geschenkt bekommen haben, das auch der Tod nicht zerstören kann. Freie Menschen sind wir nun, Menschen, die nicht mehr so leben müssen, wie es ihnen die Sünde diktiert, Menschen, die keine Angst mehr haben müssen, dass sie in den paar Jahren bis zu ihrem Tod nicht genügend mitbekommen, weil sie doch nunmehr wissen, dass ihr Lebenshorizont unendlich weiter reicht.
Ja, Schwestern und Brüder, ich weiß, das klingt jetzt erst mal alles sehr weit hergeholt und sehr abstrakt: Wenn da ein Baby oder auch ein Erwachsener in der Taufe mit Wasser begossen wird, dann sieht man da doch nichts davon, dass da jemand stirbt oder zu einem neuen Leben aufersteht, da sieht man nichts davon, dass in diesem Augenblick ein Mensch einem tödlichen Herrschaftssystem entrissen worden ist. Doch so viel anders war das damals am 9. November 1989 eigentlich auch nicht: Als Angela Merkel an diesem Abend in die Sauna ging, lebte sie in einem Herrschaftssystem, das seine Bewohner durch eine Mauer gefangen hielt. Als sie ein paar Stunden später wieder aus der Sauna herauskam, hatte dieses Zwangssystem seine Macht und seinen Schrecken verloren, auch wenn für Angela Merkel und viele andere, die diesen Abend einfach verschliefen, davon erst einmal nicht das Geringste zu erkennen war. Und doch war es eine Realität, vor der man zwar, wie im Film „Good Bye, Lenin!“, die Augen verschließen konnte, die aber doch Bestand hatte, ob man sie nun wahr haben wollte oder nicht.
Und genau das gilt nun auch für dich: Du bist getauft – und damit bist du ein freier Mensch. Du musst nicht tun, was alle anderen auch tun, du musst dich erst recht nicht davon beeindrucken lassen, dass so viele andere Menschen in deiner Umgebung von Gott nichts wissen wollen und doch auch jede Menge Spaß am Leben haben. Du brauchst keine Angst davor zu haben, im Leben nicht genug mitzubekommen, du brauchst dich nicht von der heimlichen Angst vor dem Tod in deinem Leben treiben zu lassen. Du bist getauft, du bist ein freier Mensch, gerettet von deinem Herrn Jesus Christus, der für dich in den Tod gegangen ist, damit dein Leben nicht im Dunkel des Todes endet. Du bist getauft, du bist ein freier Mensch, der nun nicht mehr unter einem Herrschaftssystem lebt, das auf Zwang und Druck aufgebaut ist, sondern der nun unter einem Herrscher lebt, der seine Untertanen allein mit der Kraft seiner Liebe zu bewegen und zu leiten sucht. Ja, die große Wende, sie hat stattgefunden, auch bei dir, auch in deinem Leben, ganz gewiss.
Schwestern und Brüder, eigentlich würde ich jetzt am liebsten „Amen“ sagen. Aber das kann ich noch nicht. Warum? Ganz einfach, weil wir alle miteinander immer wieder auf die völlig beknackte Idee kommen, in unserem eigenen Leben doch wieder „Good Bye, Lenin!“ zu spielen. Und das ist nun allerdings keine Komödie mehr, sondern nur noch eine Tragödie. Da sind wir kraft unserer Taufe freie Menschen, Menschen, die doch eigentlich keine Macht der Welt von Gott fernhalten kann. Und was machen wir? Wir leben doch immer wieder so, als ob wir immer noch unter dem alten Herrschaftssystem gefangen wären, leben immer noch so, als ob es für uns viel schöner und viel besser wäre, ohne Gott in unserem Leben auszukommen. Ja, immer wieder machen wir mit unserem Leben deutlich, dass wir eigentlich noch gar nicht kapiert haben, was Freiheit eigentlich heißt. Da denken wir allen Ernstes, es sei ein Akt der Freiheit, wenn wir es uns leisten, sonntags nicht zum Gottesdienst zu kommen, sondern lieber auszuschlafen oder etwas Anderes zu unternehmen. Nein, so macht es uns Gott in seinem Wort deutlich: Das ist kein Akt der Freiheit, sondern ein Rückfall in das System der Unfreiheit. Da denken wir allen Ernstes, es sei ein Akt der Freiheit, wenn wir in unserem Leben nur um uns selber, um unsere Bedürfnisse, um unseren Spaß kreisen und das das Wichtigste in unserem Leben sein lassen – und merken gar nicht, wie wir gerade so unsere Freiheit preisgeben, wenn wir uns von solchem alten, längst überholten Denken bestimmen lassen. Da denken wir allen Ernstes, es sei ein Akt der Freiheit, wenn wir andere Dinge in unserem Leben als wichtiger ansehen als Gott – und merken nicht, dass wir damit die Augen verschließen vor dem, was längst in unserer Taufe geschehen ist.
Mensch, kapiere es doch endlich: Die DDR gibt es nicht mehr, die ist Vergangenheit. Und genauso ist ein Leben ohne Gott seit deiner Taufe für dich längst Vergangenheit, ist es Realitätsverweigerung, wenn du immer noch so lebst, als sei in deiner Taufe gar nichts passiert. „Wisst ihr nicht?“ – So beginnt der Apostel Paulus hier unsere Epistel. Ja, ich hoffe, ihr wisst es eben doch, was in eurer Taufe passiert ist. Ja, ich hoffe, ihr wisst es nicht nur, sondern hört dann auch tatsächlich auf, „Good Bye, Lenin!“ in eurem Leben zu spielen, ein Leben zu führen, als wärt ihr noch gar nicht getauft. Mensch, du bist doch nicht mehr von vorgestern, du hast doch eine sagenhafte Zukunft vor dir, eben weil du zu Christus gehörst! Mehr brauche ich nun wirklich nicht zu sagen! Amen.