27.06.2010 | Römer 14, 7-13 (4.Sonntag nach Trinitatis)

VIERTER SONNTAG NACH TRINITATIS – 27. JUNI 2010 – PREDIGT ÜBER RÖMER 14,7-13

Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Zwischen Leben und Tod liegt noch nicht einmal eine Sekunde, so haben wir es an diesem vergangenen Freitag in unserer Gemeinde wieder auf schmerzlichste Weise erfahren müssen. Da geht unser Bruder Anatolij S. nichtsahnend über einen Fußgängerüberweg, als mit einem Mal ein Motorradfahrer angerast kommt und ihn umfährt. In der einen Sekunde war Anatolij S. noch am Leben, beschäftigt mit den Einkäufen für das Wochenende – und in der nächsten Sekunde schon war er tot, lag er am Boden, da konnte auch ein Notarzt nichts mehr ausrichten. So dicht liegen Tod und Leben beieinander, so unfassbar dicht, dass wir es zunächst erst einmal gar nicht begreifen können, wie real, wie wirklich der Tod ist, nicht nur eine Einbildung, nicht nur ein Gedanke, sondern eine Macht, die uns packt und nicht mehr loslässt.
Zwischen Leben und Tod liegt noch nicht einmal eine Sekunde. Darum, Schwestern und Brüder, geht es hier in der Kirche, darum kommen wir hier im Gottesdienst zusammen. Wenn du hierher zur Kirche kommst, weil nachher eine Pizza auf dich wartet, dann hast du noch nichts, aber noch gar nichts kapiert von dem, worum es hier in der Kirche, hier im Gottesdienst geht. Wenn du hierher zur Kirche kommst, weil du dich da mit einigen Freunden oder Mitkonfirmanden treffen kannst, dich vielleicht gar mit ihnen während des Gottesdienstes auf dem Klo amüsieren kannst, dann hast du noch nichts, aber auch gar nichts kapiert von dem, worum es hier in der Kirche, hier im Gottesdienst geht. Wenn du hierher zur Kirche kommst, weil der Pastor dir mal wieder auf die Füße getreten hat, dann hast du ebenfalls noch nichts, aber auch gar nichts kapiert von dem, worum es hier in der Kirche, hier im Gottesdienst geht. Ja, selbst wenn du hierher zur Kirche kommst, weil du mal wieder etwas seelische oder moralische Auferbauung brauchst, hast du eigentlich noch gar nicht richtig kapiert, worum es auch heute wieder und in jedem Gottesdienst geht. Du absolvierst hier keine Pflichtübung, sondern auch du hast es dringendst nötig, hierher zu kommen, weil eben auch bei dir zwischen deinem Leben und deinem Tod noch nicht einmal eine Sekunde liegen wird, weil keiner von uns weiß, ob er heute nach dem Gottesdienst noch lebend zu Hause ankommt, weil keiner von uns weiß, ob er seinen nächsten Geburtstag noch mit seiner Familie wird feiern können, ja, weil wir vielmehr alle darum wissen, dass diese eine Sekunde zwischen Leben und Tod uns allen in der Zukunft bevorsteht, wenn nicht Christus, unser Herr, schon zuvor wiedergekommen sein wird.
Nein, es geht hier in der Kirche nicht bloß um irgendwelche Gefühle, erst recht nicht bloß um etwas Spaß und gute Laune. Sondern es geht hier in der Kirche, so macht es uns der Apostel Paulus in der Epistel des heutigen Sonntags deutlich, um eine doppelte Realität:
Vor der einen Realität erschrecken wir heute an diesem Tag in besonderer Weise. Es ist die Realität des Todes. Dass der Tod so real ist, können wir uns oft ja gar nicht vorstellen, können sich gerade viele jüngere Menschen gar nicht so vorstellen. Den Tod erleben sie in Filmen oder bei Computerspielen, bei denen man am Ende alles wieder auf Null stellen und von vorne anfangen kann. Über den Tod quatscht man vielleicht, macht darüber blöde Sprüche. Aber dass auch du einmal genauso daliegen wirst und dich endgültig nicht mehr bewegen, nicht mehr atmen wirst, wie unser Bruder Anatolij S. seit vorgestern, das kannst du dir selber vielleicht gar nicht so vorstellen. Du kennst dich doch gar nicht anders als lebendig; darum stößt du an deine Grenzen, wenn du dir dich selber als tot vorstellen sollst. Aber es bleibt dabei: Auch bei dir wird zwischen Leben und Tod noch nicht einmal eine Sekunde liegen.
Ja, wie können und sollen wir mit diesem Wissen umgehen? Mehr als kurzsichtig wären wir, wenn wir so leben würden, wie es der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief als Lebensmotto so vieler Menschen beschreibt: Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot! Wenn wir sowieso früher oder später sterben müssen, dann wollen wir eben so lange Spaß haben, wie es möglich ist. Dann können am Ende wir selber oder zumindest unsere Angehörigen feststellen, dass wir in den Jahren, die wir hier auf der Erde zugebracht haben, doch eine Menge erlebt haben! Nein, so wünschenswert das auch für viele Menschen wäre – mit dem Tod ist eben nicht alles aus. Sondern am Ende unseres Lebens wartet auf uns, so macht es der Apostel Paulus hier in unserer Epistel sehr deutlich, Gottes Gericht; am Ende seines Lebens muss ein jeder von uns vor Gott hintreten und Rechenschaft ablegen davon, was er in seinem Leben gesagt, getan, gedacht hat, ja, welche Bedeutung Gott für ihn in seinem Leben gehabt hat. Ja, weh dem, der am Ende seines Lebens nicht mehr sagen kann als dies, dass er ordentlich Spaß gehabt hat! Er wird am Ende erkennen müssen, dass er sein Leben verpennt, verfehlt hat! Nein, es ist eben auch nicht so, dass wir nach unserem Tod alle miteinander automatisch irgendwie weiterleben, automatisch alle miteinander in den Himmel kommen. Der Tod ist kein natürlicher Übergang von einer Lebensform in eine andere, ja, wie unnatürlich, wie widersinnig er ist, das haben wir nun gerade an diesem Freitag ganz unmittelbar erfahren. Die Heilige Schrift bringt es ganz nüchtern zum Ausdruck, was der Tod ist: Er ist Folge der Sünde, Folge dessen, dass wir Menschen uns von Gott getrennt haben. Nein, damit lässt sich nicht erklären, warum Anatolij S. nun schon mit 48 Jahren sterben musste, während andere Menschen 100 Jahre alt werden, nein, das liegt nicht daran, dass er etwa schuldiger gewesen wäre als andere Menschen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Sünde und Lebensdauer. Wohl aber tun wir gut daran, den Tod nicht irgendwie schön zu reden oder ihn zu verharmlosen: Er ist furchtbar, genauso wie es furchtbar ist, dass wir Menschen uns aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeklinkt haben und allen Ernstes glauben, in unserem Leben ohne Gott auskommen zu können. Denn damit haben wir uns von der Quelle des Lebens getrennt, haben uns selber eine Lebensperspektive eingebrockt, die nicht weiter reicht als bis in das tiefe Dunkel des ewigen Todes.
Ja, um eine Realität geht es hier in der Kirche, um die Realität des Todes, vor der wir in unserem Leben die Augen verschließen mögen, die uns aber eben doch früher oder später einholt und die wir eben darum doch nicht aus unserem Leben verdrängen sollten.
Aber nun kommen wir hier in der Kirche, kommen wir hier im Gottesdienst zusammen, weil es neben der Realität des Todes eben noch eine weitere Realität gibt, von der der Apostel Paulus hier in unserer Epistel zu berichten weiß: Und diese Realität ist eine Person, diese Realität heißt Jesus Christus. Der ist in diese Welt gekommen, damit der Tod eben nicht die letzte Realität unseres Lebens bleibt, damit am Ende unseres Lebens eben nicht bloß das Schulterzucken eines Notarztes steht, ja, der ist in diese Welt gekommen, damit unser Leben am Ende eben nicht in ewiger Dunkelheit, in der ewigen Trennung von Gott versinkt. Dafür hat er sich ans Kreuz schlagen lassen, hat unsere Schuld, hat auch die Schuld von Anatolij S. auf sich genommen, damit uns, damit auch Anatolij S. Gottes Zorn nicht trifft, sondern vielmehr ihn, Christus, an unser aller Statt. Dafür ist Christus gestorben, nein, nicht so schnell wie Anatolij S. auf dem Fußgängerüberweg, sondern qualvoll, über Stunden, damit für uns mit dem Tod nicht alles aus ist. Und eben darum hat Christus am dritten Tag sein Grab wieder verlassen, damit auch wir nicht für immer in unseren Gräbern liegen bleiben werden, damit der Anblick unseres Leichnams nicht das letzte ist, was von uns übrigbleibt.
Nein, der Tod Jesu Christi am Kreuz und seine Auferstehung, sie sind nicht bloß seine Privatangelegenheit gewesen, sondern sie sollen auch für uns Auswirkungen haben, sollen sich auswirken sowohl auf unser Leben als auch auf unseren Tod, auf das, was vor und was nach dieser einen entscheidenden Sekunde, die unser Leben vom Tod trennt, geschieht. Ja, genau darum und um nicht weniger geht es hier in der Kirche, geht es in jedem Gottesdienst: Als du zu deiner Taufe gebracht worden bist oder selber hier zu diesem Taufstein gegangen bist, da ging es nicht bloß um ein nettes Familienfest, sondern da ging es genau um diese eine entscheidende Sekunde zwischen Leben und Tod, die auch dir bevorsteht. Denn da in der Taufe, da ist dir ein neues Leben geschenkt worden, das auch der Tod nicht zerstören kann, das auch kein rasender Motorradfahrer zerstören kann, auch kein Krebs und kein Herzinfarkt. Da in der Taufe bist du mit deinem Herrn Jesus Christus untrennbar verbunden worden; seitdem lebst du in ihm, mit ihm, für ihn, ist sein Leben nun auch dein Leben geworden. Und genau um diese Verbindung mit Christus geht es eben auch in jedem Gottesdienst: Wenn dir hier in der Beichte die Hand aufgelegt wird und dir die Vergebung deiner Sünden mitgeteilt wird, dann hat das Auswirkungen bis in die Sekunde deines Todes hinein, dann wird all das nicht mehr zur Sprache kommen, was dir hier und jetzt vergeben worden ist, dann wird all das nicht mehr zur Sprache kommen, wenn du dich einmal am Ende deines Lebens vor Gott verantworten musst. Wenn du hier in der Predigt das Wort deines Herrn Jesus Christus hörst, dann geht es eben nicht bloß um gute Unterhaltung, sondern dann geht es darum, dass du vorbereitet bist auf diese eine letzte Sekunde deines Lebens, dass dir klar ist, was in deinem Leben wirklich wichtig ist und zählt: dass Christus dein Herr ist und du zu ihm gehörst. Und wenn du nachher wieder hierher nach vorne kommst, um den Leib und das Blut deines Herrn im Heiligen Mahl zu empfangen, dann geht es wieder genau um diese eine letzte Sekunde deines Lebens, dann empfängst du hier und jetzt die Medizin des ewigen Lebens, dann lebt Christus in dir und wird dich einmal wieder auferwecken in der Kraft dieser Speise des Heiligen Mahles, wird nicht zulassen, dass ein Fußgängerüberweg oder ein Grab für dich die Endstation deines Lebens ist.
Ja, um Realität geht es hier im Gottesdienst: um die eine Realität, die der furchtbaren Realität des Todes standhält, um die einzige Realität, die am Ende wirklich zählt, wenn einmal alles andere keine Rolle mehr spielen wird: wie viel Geld du verdient hast, was für einen Beruf du gehabt hast, was du in deinem Leben geleistet hast. Dann zählt tatsächlich nur noch eins: ob Christus in dir gelebt hat, ob du mit ihm verbunden warst oder nicht.
Und für diejenigen, die mit Christus verbunden waren und sind, gilt tatsächlich diese geradezu unfassliche Aussage des Apostels: „Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ Wer mit Christus verbunden ist, für den ändert sich auch in dieser einen Sekunde zwischen Leben und Tod im Entscheidenden gar nichts: Ob ich auf dem Fußgängerüberweg laufe oder leblos auf dem Boden liege: Ich bin des Herrn, ich bin und bleibe mit Christus verbunden, in dessen Gemeinschaft ich für immer leben werde. Ja, der Tod hat für uns Christen die Macht verloren, schlechthin alles in unserem Leben zu beenden. Er trifft uns schmerzlich, erst recht diejenigen, die von einem geliebten Menschen Abschied nehmen müssen. Aber er hat nicht die Kraft, etwas daran zu ändern, dass wir des Herrn sind, dass wir Christus gehören und an seinem Leben Anteil haben.
Schwestern und Brüder, der Tod unseres Bruders Anatolij S. trifft und bewegt uns heute an diesem Tag ganz tief. Doch er kann und soll uns zugleich wachrütteln, dass uns wieder neu klar wird, was wir an Christus, was wir am Gottesdienst, was wir an unserer Taufe, was wir am Heiligen Abendmahl haben. Das ist alles nicht bloß eine nette Verzierung unseres Lebens für besondere Anlässe, sondern das ist letztlich das Einzige, was zählt, das Einzige, was bleibt. Noch haben wir Zeit, noch leben wir. Nutzen wir die Zeit, um bei Christus zu bleiben oder auch wieder neu in seine Gemeinschaft zurückzukehren! Dann wird die eine Sekunde zwischen Leben und Tod auch bei uns einmal ihre Bedeutung verlieren, dann wird sich auch in unserem Tod nichts Entscheidendes mehr ändern, eben weil das Entscheidende in unserem Leben schon längst festgestanden hat: Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Amen.