21.02.2010 | Hebräer 4, 14-16 (Invokavit)

INVOKAVIT – 21. FEBRUAR 2010 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 4,14-16

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

„Wie kann man bloß so blöd sein, nicht mehr zur Kirche zu gehen?!“ Noch gut erinnere ich mich an diesen Ausspruch eines Jugendlichen im Jugendkreis einige Jahre nach seiner Konfirmation. Auf der einen Seite freute ich mich über sein Engagement, das in diesen Worten zum Ausdruck kam; andererseits versuchte ich ihm klarzumachen, dass es vielleicht nicht unbedingt Blödheit ist, wenn Menschen, die eine Zeitlang gerne zum Gottesdienst gekommen waren, im Laufe der Zeit immer weniger kommen, dass wir vielmehr darum wissen müssen, dass wir immer in einem Kampf mit dem Widersacher Gottes stehen, der nicht aufhört zu versuchen, Menschen, die er an Christus verloren hat, wieder für sich zurückzugewinnen. „Wie kann man bloß so blöd sein, nicht mehr zur Kirche zu gehen?!“ – Derselbe Jugendliche, der dies einst verkündigte, kommt selber heute kaum noch und lässt sich an diesen seinen Spruch von damals auch nicht mehr so gerne erinnern.
Doch dies ist eben nicht erst ein Problem unserer Zeit. Genau mit demselben Phänomen hatte auch schon der Verfasser des Hebräerbriefes zu kämpfen: Da schrieb er damals seinen Brief an Christen in Italien, die mit großer Freude, mit großer Begeisterung Christen geworden waren und die auch dazu bereit gewesen waren, für ihren Glauben einzustehen, Benachteiligungen und Schikanen für ihren Glauben zu erleiden. Doch irgendwann war diese Begeisterung dann allmählich erlahmt. Nein, man hatte sich nicht unbedingt vom christlichen Glauben wieder losgesagt; aber man kam eben nur noch seltener zu den Gottesdiensten, fragte ganz offen danach, was das denn einem eigentlich noch bringen würde, immer noch am Glauben, immer noch an Christus festzuhalten. Und genau diese Christen versucht der Verfasser des Hebräerbriefes nun zu erreichen, hofft, dass sie doch noch im Gottesdienst hören, was er ihnen zu sagen hat, hofft, ihnen deutlich machen zu können, warum es für sie so entscheidend wichtig ist, nicht den Anschluss an Christus und seine Kirche zu verlieren. Ja, Schwestern und Brüder, wir merken schon, wie hochaktuell das ist, was der Verfasser des Hebräerbriefes hier schreibt, wie nötig auch wir seine Worte haben, damit auch wir dranbleiben an Christus, am Glauben an ihn. Nein, der Verfasser des Hebräerbriefs versucht hier nicht, die Empfänger seines Briefes mit irgendwelchen Nettigkeiten zu locken, dass die Gemeinschaft in der Gemeinde doch ganz nett ist und dass doch bald auch wieder ein besonderes Fest ansteht, bei dem man sich ja vielleicht mal wieder blicken lassen könnte. Sondern er argumentiert hier ganz zentral, stellt den italienischen Christen hier ganz klar vor Augen, worum es in ihrem Glauben eigentlich geht und was für sie dabei auf dem Spiel steht: Es geht um Christus, so macht er ihnen ganz einfach deutlich und entfaltet, was das für sie heißt: Ihr findet, so schreibt er hier, Christus

- über euch
- neben euch
- vor euch

I.

In den Worten unserer heutigen Epistel werden wir vom Verfasser in eine Welt mitgenommen, die uns erst einmal recht fern zu sein scheint: Mit einem Hohenpriester haben wir heute nicht mehr unbedingt zu tun, und wenn wir denn noch irgendeinen Bezug zu diesem Wort haben, dann mag uns als erster der Hohepriester einfallen, der damals im Hohen Rat bei der Verurteilung Jesu mitgewirkt hat – keine sehr erfreuliche Erscheinung. Doch die Empfänger des Hebräerbriefes, die wussten damals noch genau, was ein Hoherpriester war und was vor allem seine Aufgabe war: Als einziger hatte er das Recht dazu, einmal im Jahr durch den Vorhang im Tempel in Jerusalem hindurch in das Allerheiligste zu gehen, dort den Namen Gottes auszusprechen und mit seinem Opfer die Versöhnung des Volkes mit Gott zu vollziehen.
Als der Hebräerbrief verfasst wurde, gab es vermutlich in Jerusalem schon keinen Hohenpriester mehr, war der Tempel schon zerstört. Doch dafür haben wir, so schreibt es der Verfasser des Hebräerbriefes hier, einen anderen Hohenpriester, ja, einen großen Hohenpriester, so betont er es ausdrücklich, einer, dessen Amt und Funktion weit über das hinausreicht, was sonst der Hohepriester in Jerusalem zu tun pflegte. Dieser große Hohepriester durchschreitet nicht einfach bloß den Vorhang zum Allerheiligsten in Jerusalem, sondern der durchschreitet die Himmel überhaupt, steht nun in der sichtbaren Gegenwart Gottes, bringt dadurch unser Verhältnis zu Gott in Ordnung und tritt dort vor seinem Angesicht für uns ein.
Schwestern und Brüder, ist das wichtig für uns heute, für uns Menschen im Jahr 2010? Muss man deshalb in die Kirche gehen? In der Tat, Schwestern und Brüder, was der Hebräerbrief hier beschreibt, das ist auch für uns Menschen heute von entscheidender Bedeutung, auch wenn sich uns die Begrifflichkeit, die der Hebräerbrief hier verwendet, nicht sofort erschließt. Denn letztlich redet der Hebräerbrief hier von unserem Verhältnis zu Gott und damit von der wichtigsten Frage unseres Lebens überhaupt. Die wichtigste Frage meines Lebens ist nicht, ob ich gesund bin. Die wichtigste Frage meines Lebens ist nicht, wie viel Geld ich verdiene, wie viel Freunde ich habe, wie viel Erfolg ich im Leben habe. Und die wichtigste Frage meines Lebens ist auch nicht, ob Hertha BSC in der Bundesliga bleibt oder nicht, ja noch nicht einmal, ob Deutschland in diesem Jahr Fußball-Weltmeister wird. Sondern die wichtigste Frage meines Lebens ist, was Gott einmal über mein Leben denken und sagen wird, zu welchem Urteil er einmal kommen wird, wenn er auf mich und mein Leben blickt. Daran allein wird sich einmal entscheiden, ob ich mein Leben verfehlt haben werde oder nicht.
Und da macht es uns der Hebräerbrief nun ganz unmissverständlich klar: Ohne Christus verfehlen wir unser Leben auf jeden Fall; ohne Christus haben wir keine Chance, für immer in der Gemeinschaft mit Gott zu leben; ohne Christus bleibt uns der Zugang zu Gott auf jeden Fall verschlossen. Wenn ich mich von Christus abwende, wenn ich glaube, in meinem Leben ohne ihn klarzukommen, dann endet mein Leben im ewigen Tod. Doch nun haben wir ihn, Christus, den großen Hohenpriester, ja, so drastisch formuliert es der Hebräerbrief hier, dass es Christus nicht bloß gibt, dass der nicht bloß irgendwo da oben ist bei Gott, sondern dass wir ihn haben, dass das, was er tut, für uns und unser Leben von unmittelbarer Bedeutung ist: Er ist die Brücke zwischen Gott und uns, er tritt für uns ein im Gebet, er macht beim Vater geltend, was er für uns am Kreuz erworben hat. Ja, genau darum und um nicht weniger geht es in der Kirche, geht es im Gottesdienst, dass wir diesen Zugang zum Vater feiern, dass wir ihn nutzen, immer wieder neu, dass wir uns dieses wichtigste Ereignis der Weltgeschichte vor Augen und Ohren halten lassen, dass Christus unser Hoherpriester geworden ist, er, der über uns ist, nicht in einem räumlichen Sinne, sondern der Sache nach, dass er bei Gott ist, für uns bittet, damit wir das Ziel unseres Lebens nicht verfehlen. Nein, wir müssen nicht zu diesem Christus in die Kirche kommen. Aber wer erkannt hat, was dieser Christus für uns getan hat und tut, der wird dem immer wieder begegnen wollen, der die wichtigste Frage unseres Lebens zu unseren Gunsten beantwortet hat.

II.

Doch nun finden wir Christus eben nicht bloß irgendwo über uns, weit entrückt von uns und unserem Leben. Christus blickt nicht irgendwo ganz von oben verständnislos auf uns herab und schüttelt den Kopf, wie wir bloß so blöd sein können zu meinen, wir könnten in unserem Leben ohne ihn auskommen. Nein, Christus versteht uns ganz genau, wie es uns geht, wie uns zumute ist, denn wir finden ihn nicht nur über uns, sondern neben uns – mit den Worten des Hebräerbriefs: Er, Christus, leidet mit unserer Schwachheit mit, und er ist versucht worden in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Brüder und Schwestern, diese Worte aus dem Hebräerbrief gehören zu den atemberaubendsten Aussagen der ganzen Heiligen Schrift: Christus ist in allem, jawohl, in allem versucht worden wie wir: Keine Versuchung, keine Verlockung des Teufels, dem Willen Gottes entgegenzuhandeln, ist ihm fremd, keine Versuchung gibt es in unserem Leben, die nicht auch er kennen und verstehen würde.
Christus weiß, was für eine Versuchung es ist, sonntags morgens im Bett liegen zu bleiben, lieber auszuschlafen, weil man doch so müde ist. Christus weiß, was für eine Versuchung es ist, sich in seinem Verhalten an dem zu orientieren, was die Mehrheit denkt, was die Freunde denken, was alle anderen auch tun. Christus weiß, was für eine Versuchung es ist, zu vergessen, was man Gott in seinem Leben, etwa bei der Konfirmation, ganz konkret versprochen hat, davon nichts mehr wissen zu wollen, weil das doch viel zu unbequem ist, sich daran zu halten. Christus kennt sie genau, die Einflüsterungen seines Widersachers, des Teufels: „Hör auf, Gott treu zu bleiben, geh deinen eigenen Weg, verwirkliche dich selbst, pass auf, dass du in deinem Leben nicht zu kurz kommst! Sieh das doch mit Gottes Wort alles nicht so eng; Gott wird schon nichts dagegen haben, wenn du da Kompromisse eingehst, wenn du dich über seine Gebote hinwegsetzt!“ Ja, Christus kennt ihn genau, den altbösen Feind, der uns ein gutes Argument nach dem anderen liefert, weshalb wir immer, wenn Christus uns einlädt, gerade wieder etwas anderes zu tun haben, weshalb es gerade da immer wieder andere Dinge gibt, die in dem Augenblick dringlicher und wichtiger sind. Christus kennt den Teufel genau – und er kennt uns, er kennt unsere Schwachheit, er weiß, was für eine Überwindung es ihn selber gekostet hat, nicht aus Steinen Brot zu machen, nicht vor der jubelnden Menschenmenge kurz mal von der Tempelmauer zu springen, nicht eine kleine Kniebeuge zu machen, um auf diese Weise die Weltherrschaft zu erringen.
Doch Christus hat standgehalten, er ist ohne Sünde geblieben, er ist der Versuchung des Widersachers Gottes nicht erlegen. Nein, damit rückt er nicht wieder unendlich weit weg von uns als gleichsam unerreichbares Vorbild, sondern genau so wird er uns zu unserem Helfer und zu unserem Trost: Wäre er selber der Versuchung erlegen, so könnte er uns nicht helfen, so wäre er selber auf Hilfe, auf Rettung, auf Vergebung angewiesen. So aber steht er uns als unser Helfer an unserer Seite, versteht uns und stärkt uns doch zugleich immer wieder neu den Rücken.
Ja, denke daran, wenn du wieder neu erlebst, wie dich alles Mögliche davon abhalten will, bei Christus zu bleiben, seiner Einladung zu folgen, in seiner Gemeinschaft zu leben: Du bist nicht allein; Christus steht dir bei, er, der dich so gut versteht und der dir gerade so die Kraft schenken will, gemeinsam den Weg zu gehen, der zum Leben führt. Ja, diese Kraft will er dir schenken, hier und jetzt, hier, wo du mit deiner Schwachheit auftanken darfst, hier in seinem Haus.

III.

Und damit sind wir schon beim Dritten, was uns der Hebräerbrief hier erkennen lässt: Christus finden wir nicht nur über uns, wie er als Hoherpriester für uns eintritt und auch nicht nur neben uns als wahrer, wirklicher Mensch, der an unserer Seite ist und uns versteht. Sondern wir finden ihn zugleich und vor allem auch vor uns, ja, ganz konkret hier und jetzt in dieser Stunde:
„Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade“, so formuliert es der Hebräerbrief hier. Der Gnadenthron – mit diesem Wort beschreibt der Hebräerbrief an einer anderen Stelle die Bundeslade im Allerheiligsten des Tempels, den Ort der unmittelbaren Begegnung zwischen Gott und den Menschen. Und dieser Gnadenthron, der Ort, wo Gott uns Menschen unmittelbar begegnet, ist eben letztlich kein anderer als er, Jesus Christus, selber, er ist der Gnadenthron in Person, und wenn wir ihm begegnen, wenn wir zu ihm kommen, dann begegnen wir in ihm keinem Geringeren als dem lebendigen Gott selber.
Ja, genau darum geht es hier im Gottesdienst: Der Verfasser des Hebräerbriefes meint hier tatsächlich nicht weniger als dies: Ihr dürft mitkommen, mit dem Hohenpriester, dürft mit ihm durch den Vorhang hindurchgehen bis ins Allerheiligste, dürft vor dem lebendigen Gott stehen und ihm begegnen, vor dem lebendigen Gott, den wir eben dort finden, wo wir Christus begegnen.
Ja, genau darum und um nicht weniger geht es hier im Gottesdienst, so versuche ich es im Augenblick immer wieder neu unseren Konfirmanden nahezubringen: Ihr besucht im Gottesdienst nicht den Pastor, und es geht auch nicht darum, ob der Pastor es mitbekommt, wenn ihr euch im Gottesdienst fröhlich unterhaltet oder noch ganz andere Dinge unternehmt. Sondern ihr tretet hier vor Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, ihr tretet hier ins Allerheiligste ein, kommt hier an Christus so nahe heran wie nirgends sonst auf der Welt, wenn er zu euch redet in seinem Wort und für uns gegenwärtig wird mit seinem heiligen Leib und Blut in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl. Eigentlich müssten wir hier alle platt auf dem Boden liegen, wenn die Einsetzungsworte Christi laut werden und bewirken, was sie sagen, wenn dieser Altar gleichsam zur Bundeslade wird, zum Ort der Gegenwart des lebendigen Gottes in den unscheinbaren Gestalten des Heiligen Mahls. Eigentlich dürften wir uns ab da keinen Zentimeter mehr nach vorne bewegen, um nicht vor der Heiligkeit dieses Gottes zu vergehen, der da in unsere Mitte tritt. Doch wir dürfen uns erheben, dürfen nach vorne kommen, dürfen hinzutreten zum Thron der Gnade, ohne Angst haben zu müssen, zu vergehen, ohne Angst haben zu müssen, von ihm, Gott, niedergemacht zu werden. Nein, wir dürfen mit Zuversicht nach vorne kommen, so betont es der Hebräerbrief, ganz fröhlich und getrost, weil wir hier Barmherzigkeit und Hilfe erfahren, weil Christus uns hier mit seinem Leib und Blut alles schenkt, was wir brauchen, um unseren Weg gemeinsam mit ihm weitergehen zu gehen, um bestehen zu können im Kampf mit dem Teufel, dem Widersacher Gottes.
Ja, der Jugendliche, den ich am Anfang zitierte, hat von daher im Grunde genommen so sehr recht: Wir wären wirklich schön blöd, wenn wir das nicht erkennen würden, dass Christus hier vor uns steht und uns einlädt. Wir wären wirklich schön blöd, wenn wir nicht hinzutreten würden, Christus fernbleiben würden, der uns doch selber Mut macht, zu ihm zu kommen, um uns von ihm beschenken zu lassen.
Nein, ich kann auch nichts Anderes euch sagen, als was der Hebräerbrief damals den Christen in Italien geschrieben hat: Vergesst doch bloß Christus nicht, Christus, der über uns für uns eintritt, der neben uns steht, um uns voller Verständnis für unsere Schwachheit auf seinem Weg zu führen, und der vor uns steht, um uns hier finden zu lassen, was wir brauchen, um auf dem Weg zum Ziel nicht schlappzumachen. Ja, schön blöd wären wir, wenn wir allen Ernstes glaubten, ohne diesen Christus in unserem Leben auszukommen. Gott geb’s, dass uns klar bleibt, was wir an diesem Jesus Christus haben, ja, Gott geb’s, dass wir daraus dann auch in unserem Leben stets die Konsequenzen ziehen. Ja, kommt, lasst uns hinzutreten zum Thron der Gnade! Amen.