24.12.2011 | Jesaja 7,10-14 | Heilige Christnacht

Weihnachten ist Märchenzeit. So stellen es sich offenbar viele Menschen in unserem Lande vor. Denn anders lässt es sich kaum erklären, dass am Heiligen Abend und den beiden Weihnachtsfeiertagen in diesem Jahr von den verschiedenen deutschen Fernsehsendern nicht weniger als 47 Märchenfilme ausgestrahlt werden. Heute gab es im Laufe des Tages unter Anderem Dornröschen, Schneewittchen, den Froschkönig, Frau Holle, Aschenbrödel und Rotkäppchen zu sehen. Und da passt das Märchen von Maria und Joseph und dem kleinen Jesuskind in der Krippe offenbar ganz gut in diese Reihe hinein. Hauptsache, eine anrührende Geschichte, Hauptsache, eine Geschichte mit Happy End, der man noch ein paar moralische Anweisungen für den alltäglichen Gebrauch entnehmen kann!

Die Weihnachtsgeschichte – ein schönes Märchen, das uns in die Stimmung versetzt, die wir an diesem Abend erwarten und gerne haben wollen? Ein schönes Märchen, das man sich jedes Jahr gerne wieder anhört, weil es zu diesem Tag einfach dazugehört? Ein schönes Märchen, das wir vielleicht gerade darum so lieben, weil es eine Welt beschreibt, die mit uns, mit unserer Alltagswelt scheinbar gar nichts zu tun hat, in die wir an diesem Abend für kurze Zeit eintauchen und die wir dann aber auch wieder hinter uns zurücklassen können?

Schwestern und Brüder, wenn wir Weihnachten allen Ernstes nur für ein Märchen halten würden, für eine anrührende, stimmungsvolle Geschichte, dann hätten wir Weihnachten noch überhaupt nicht verstanden, so macht es uns kein Geringerer als Gott selber in der alttestamentlichen Lesung dieser Christnacht deutlich.

Aber genau an dieser Stelle wird es nun schon spannend: Von Gott habe ich nun gerade gesprochen. Aber es mag wohl sein, dass wir den in unserer weihnachtlichen Erwartungshaltung auch gleich mit in unsere weihnachtliche Märchentraumwelt packen, gleich neben ein paar vor sich dahin frohlockende leicht übergewichtige Engelchen. Von Gott habe ich gerade gesprochen, und es mag sein, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, wenn wir dieses Wort „Gott“ hören, dass dieses Wort eine Realität beschreibt, die mit uns, mit unserem Leben unmittelbar zu tun hat. Gott – er ist für uns dann nicht viel mehr als so eine Art von metaphysischem Weihnachtsmann, von dem wir keine nennenswerten Störungen unseres alltäglichen Lebens zu erwarten haben.

So ähnlich mag sich auch der König Ahas damals vor 2700 Jahren Gott vorgestellt haben. Gewiss: Von Weihnachten hatte er noch keine Ahnung, aber er ging auch damals schon so ähnlich mit Gott um wie viele Besucher der Christvespern und Christmetten an diesem Abend hier in Deutschland: Realpolitiker war er in einer Zeit, in der sein kleines jüdisches Reich sich gleich einer doppelten Bedrohung ausgesetzt sah: Bedroht war es zum einen von der Großmacht der Assyrer, und bedroht war es zum anderen von dem nördlichen Nachbarn Israel, das sich gerade daran machte, das kleine jüdische Reich anzugreifen. Und in seiner Not fing der König Ahas nun an, mit den Assyrern zu verhandeln, mit ihnen ein Bündnis zu schließen, das sie vor dem Angriff des nördlichen Nachbarn schützen sollte, auch wenn dieses Bündnis das kleine jüdische Reich einen nicht geringen Teil seiner Souveränität kostete. Und während Ahas also gerade dabei ist, seine politischen Bündnispläne zu schmieden, tritt der Prophet Jesaja an ihn heran und fordert ihn im Auftrag Gottes auf, diese ganzen taktischen Spielchen, diese Bündnispolitik zu beenden: Nicht die Assyrer werden dein Reich, werden die Hauptstadt Jerusalem schützen; das wird Gott allein tun. Gott verspricht dir, dich und dein Reich besser zu schützen, als du es mit deinen taktischen Spielchen je könntest. Verlass dich einfach auf Gottes Versprechen – dann wirst du erfahren, wie Gott seine schützende Hand über dich und die Hauptstadt Jerusalem halten wird.

Ahas zögert: Die Assyrer waren eine ganz reale Macht; die Soldaten des Nordreichs Israel waren es auch. Doch Gott – der war doch eher etwas Nebulöses, geradezu Märchenhaftes, den konnte man doch unmöglich als genauso wirklich ansehen wie diese anderen politischen Mächte; mit dessen Eingreifen konnte man doch nicht ebenso real rechnen wie mit einer möglichen Belagerung Jerusalems. Gott selber bemerkt das Zögern des Ahas. Und so macht er ihm ein geradezu unglaubliches Angebot: Ahas darf sich irgendein Zeichen wünschen, es sei auch noch so krass: Gott wird ihm dieses Zeichen geben, um ihm zu zeigen, dass er genauso real, ja noch viel wirklicher ist als die Mächte, vor denen Ahas sich fürchtete und mit denen er irgendwie fertig zu werden versuchte. Keinerlei Einschränkungen macht Gott bei seinem Angebot. Ahas hätte sich das allerverrückteste Zeichen wünschen können – und Gott hätte es ihm gegeben. Doch Ahas geht darauf nicht ein: Wenn Gott ihm dieses Zeichen gegeben hätte, dann hätte er ja anschließend all die schönen politischen und militärischen Absicherungen seines Reiches aufgeben müssen, hätte sich diesem Gott anschließend ganz anvertrauen müssen – und das war ihm dann doch zu riskant. Lieber Gott draußen vorlassen, lieber ihn zur Märchenfigur degradieren, statt sich nachher auf ihn mit seinem ganzen Leben einlassen zu müssen!

Doch so lässt sich Gott mit seinem Anspruch auf das Leben des Ahas nicht abwimmeln: Wenn der kein Zeichen fordert, dann kündigt Gott selbst ihm eben ein Zeichen an, nein, keinen spektakulären Knaller, sondern ein Zeichen der ganz anderen Art, ein Zeichen, das ganz leicht übersehen werden kann und das doch erkennbar macht, dass Gott keine jenseitige Märchenfigur ist, sondern mitten in dieser Welt am Werk ist: Eine Jungfrau ist schwanger, wird einen Sohn gebären und wird ihn Immanuel nennen: Gott mit uns.

Um Weihnachten geht es in dieser Geschichte zwischen dem König Ahas und dem Propheten Jesaja, um Weihnachten geht es, das heißt: Es geht um die Frage, ob Gott nur eine Märchenfigur ist oder tatsächlich der Herr der Geschichte und damit auch der Herr unseres Lebens. Es mag sein, dass uns Gott als Märchenfigur erst einmal genügen mag, als religiöses Hintergrundgeräusch für besondere Anlässe des Lebens, das die festliche Stimmung zu heben vermag. Doch Gott gibt sich mit dieser Rolle eben nicht zufrieden. Wir mögen ihn gerne aus unserem Leben draußen halten, weil wir ahnen, dass sich ansonsten ja unser ganzes Leben verändern müsste, wenn wir mit ihm, mit seiner Gegenwart, mit seinem Eingreifen in unser Leben beständig rechnen müssten. Doch Gott reicht das nicht, bloß Staffage unseres Lebens zu sein. Er will tatsächlich in unser Leben hinein, will, dass wir von ihm das Entscheidende in unserem Leben erwarten, will, dass wir ihm mit unserem Leben ganz vertrauen.

Und so hat er auch uns sein entscheidendes Zeichen gegeben: Kein spektakuläres pyrotechnisches Event, kein Knaller, der uns von den Beinen reißt, kein Zeichen, das uns zum Glauben zwingen würde. Sondern sein entscheidendes Zeichen ist die Schwangerschaft einer Jungfrau, die Geburt eines kleinen Kindes. Ein Zeichen ist das, über das Menschen bis heute ihre Witze reißen mögen, ein Zeichen, das so unspektakulär ist, dass man es glatt übersehen oder mit Kitsch zukleistern kann. Doch wer der Ankündigung des Propheten glaubt, der wird aus dem Staunen nicht mehr hinauskommen: Gott greift in diese Welt ein, ganz direkt, in einmaliger Weise. Er lässt nicht etwas geschehen, bei dem er gleichsam nur von oben zusehen würde. Sondern er kommt in diesem Zeichen selber mitten in unsere Welt hinein: „Gott mit uns“ heißt das Kind, denn in ihm ist eben kein Geringerer als Gott selber mitten unter uns Menschen gegenwärtig.

Dieses Zeichen gibt dir Gott heute Nacht. Und er stellt damit an dich die eine entscheidende Frage: Ist das Kind in der Krippe von Bethlehem für dich nur eine Märchenfigur, oder erkennst du darin den Schöpfer der Welt, den Herrn auch deines Lebens? Erkennst du in ihm, dass Gott auch dich anspricht, dass er auf nichts sehnlicher wartet, als dass du ihm Vertrauen schenkst? Erkennst du in ihm denselben Herrn und Gott, der auch heute Nacht dir wieder begegnen will, nein, nicht bloß als Märchengestalt, sondern real und leibhaftig, verborgen in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl? Ja, in diesem Heiligen Mahl kommt das Immanuel-Zeichen nun ganz direkt in dein Leben hinein. Ist dieses Mahl für dich nur eine symbolische Handlung, eine Art von inszeniertem Märchen, oder erkennst du darin den real gegenwärtigen Gott?

Gott geb’s, dass du dich auf sein Wort einlässt, dass du ihm vertraust, dass du erkennst: Er ist es selber, der Gott mit uns, den ich nun gleich mit meinem Mund empfangen darf. Und Gott geb’s, dass sich das dann auch auswirkt auf deinen Alltag, auch nach Weihnachten, dass dir das klar bleibt: Du sollst, ja du darfst mit Gott rechnen, mit dem Gott, der für dich ein kleines Kind geworden ist, um es dir zuzurufen: Vertrau mir; ich werde dich nicht fallen lassen. Vertrau mir – und du wirst leben, nicht bloß ein paar Jahre, sondern in Ewigkeit. Ich bin kein Märchenonkel; ich bin der lebendige Herr. Verlass dich drauf! Amen.