21.12.2011 | St. Johannes 14,1-6 | Tag des Apostels St. Thomas

„Driving home for Christmas“ – dieses Lied von Chris Rea wird nun schon seit Jahren in der Zeit vor Weihnachten bei den verschiedenen Radiosendern rauf- und runtergespielt. „Driving home for Christmas“ – Das Lied eines Mannes, der am Steuer seines Wagens sitzt auf dem Weg nach Hause, wo er mit seinen Lieben Weihnachten feiern will. Das Lied trifft offenkundig die Gemütslage vieler Menschen in diesen Tagen. Das hängt nicht allein damit zusammen, dass es tatsächlich viele Menschen gibt, die sich in den Tagen vor Weihnachten nach vollbrachter Arbeit auf einen längeren Weg nach Hause begeben und sehnsüchtig darauf warten, endlich dort zu Hause anzukommen. Sondern Weihnachten ist für viele eben nicht bloß irgendein Fest, sondern ist der Inbegriff für Heimat, für Zuhause schlechthin: ein Raum, in dem die Vergangenheit und damit auch meine Lebensgeschichte gleichsam aufbewahrt bleibt, wohin ich zurückkehren darf, auch wenn diese Vergangenheit für mich ansonsten das Jahr über weitgehend abgeschlossen bleibt. Aber zu Weihnachten trete ich dann wieder ein in diese heile Welt meiner Erinnerungen, darf hier auf Erden schon ein Stück himmlischer Geborgenheit erleben.

Ja, wohl dem, der die Möglichkeit hat, immer wieder so nach Hause zurückzukehren in das Weihnachten seiner Kindheit, seiner Erinnerungen, wohl dem, der etwas davon erfahren darf, wie feste Rituale Heimat stiften, Heimat, nach der sich unser Herz doch im Allertiefsten sehnt. Doch die meisten Menschen, ja gewiss auch viele unter uns, haben in ihrem Leben irgendwann einmal eben diese Erfahrung gemacht, dass ihnen diese Fahrt nach Hause nicht mehr möglich war, weil es dieses Zuhause für sie nicht mehr gab, weil es die Menschen nicht mehr gab, die diese Erfahrung von Heimat bei ihnen hervorriefen, oder weil andere Umstände sie daran hinderten, einfach in die Traumwelt ihrer Vergangenheit zurückzukehren.

Solange es für uns selbstverständlich erscheint, dass wir immer wieder in das Weihnachten unserer Erinnerungen zurückkehren können, mögen wir unser Leben am ehesten als eine Art von Kreis ansehen, in dem wir uns bewegen und in dem sich in regelmäßigen Abständen bestimmte Ereignisse immer wiederholen. Dass wir uns bei dieser Bewegung im Kreis zugleich auch nach vorne bewegen, mag uns oftmals gar nicht so bewusst werden. Doch wenn die Kreisbewegung irgendwann unterbrochen wird, wenn die Rückkehr an den Ursprung nicht mehr möglich wird, dann spätestens stellt sie sich ganz unausweichlich, die Frage, die der Apostel Thomas im Heiligen Evangelium dieses Tages formuliert: Wo geht der Weg eigentlich hin, der Weg unseres Lebens, ja, wo sollen wir am Ende einmal ankommen?

Den Jüngern Jesu war ihre Weihnachtsstimmung an einem der höchsten Feste des Jahres gerade gründlich abhanden gekommen. Jesus hatte ihnen gerade erklärt, dass die Feier mit ihren schönen festen Ritualen diesmal zum letzten Mal gemeinsam mit ihm stattfindet: Er wird nun künftig nicht mehr sichtbar mit seinen Jüngern zusammen sein. Und das zieht den Jüngern nun gleichsam den Boden unter den Füßen weg: Wie sollte es mit ihnen bloß weitergehen, wenn er, Jesus, das Zentrum ihres Lebens, seit sie mit ihm zusammen waren, wenn er, Jesus, nun nicht mehr bei ihnen sein würde? 

Doch Jesus macht seinen Jüngern deutlich: Fangt bloß nicht an, jetzt einfach nur in der Vergangenheit zu schwelgen, in der guten alten Zeit, als alles noch so traumhaft schön war. Ihr braucht nicht bloß zurückzublicken auf das, was war. Ihr dürft nach vorne schauen. Denn wenn ich jetzt von euch gehe, dann gehe ich hin, um euch euer neues Zuhause zu bereiten, eine neue Heimat, die euch einmal endgültig niemand mehr wird nehmen können. Eure wahre Heimat liegt eben nicht hinter euch, sondern sie liegt vor euch, und so dürft ihr euer ganzes Leben als eine Art von Fahrt nach Hause ansehen, dürft Heimweh nach der Zukunft, nach eurem wirklichen Zuhause haben, ja, dürft euch darauf freuen, diesem Zuhause im Laufe eures Lebens immer näher zu kommen.

Doch die Frage des Thomas bleibt aktuell: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? Wer zu Weihnachten nach Hause fährt, der weiß genau, wohin er fährt, und er weiß auch, wer und was ihn dort erwartet. Doch wohin sollen wir denn fahren, und was erwartet uns am Ziel? Eben darauf gibt Jesus hier die Antwort in seinem wunderbaren Ich-bin-Wort, in dem eigentlich die ganze frohe Botschaft kurz und knapp zusammengefasst ist:
Deutlich macht er zunächst einmal: Wir landen nicht automatisch irgendwann am Ende unseres Lebens bei dem Ziel, das Gott selber für unser Leben vorgesehen hat. Es mögen zwar viele Wege nach Rom führen; zu Gott dem Vater führt jedoch nur ein Weg, und dieser Weg ist er, Jesus Christus, selber, er allein. Ich kann also Jahr für Jahr nach Hause zu Weihnachten fahren, kann Jahr für Jahr wieder eintreten in die Traumwelt meiner Erinnerungen – wenn ich dabei nicht zugleich auch nach vorne schaue, wenn ich den, dessen Geburtstag wir zu Weihnachten feiern, bei meiner Weihnachtsfeierei aus den Augen verliere, dann treibe ich schließlich mit meinem Leben am Ziel vorbei. Wenn ich aus Weihnachten nur ein Fest der Liebe, des Friedens und der Familie mache, wenn ich darin allein auch die Bestimmung meines Lebens sehe, nett mit anderen Menschen zusammen sein zu können, dann verfehle ich den einzigen Weg, der zum Ziel meines Lebens führt.

Er, Christus, allein, ist der Weg zu Gott, der Weg zu den Wohnungen im Haus des Vaters, der Weg zum Ziel, ja, was ihn, Christus, betrifft, gilt tatsächlich das heute oft so abgedroschen klingende Wort: Der Weg ist das Ziel. Nein, der Weg ist nicht in dem Sinne das Ziel, dass es eigentlich egal ist, welche Richtung ich in meinem Leben einschlage – Hauptsache, ich gehe den Weg konsequent und genieße mein Leben dabei. Sondern der Weg ist allein in dem Sinne das Ziel, dass ich da, wo ich Christus habe, wo ich in seiner Gemeinschaft lebe, beides zugleich habe: Er, Christus, führt mich zum Ziel meines Lebens, und da, wo er ist, da ist zugleich auch schon das Ziel meines Lebens, weil er das Leben, das unvergängliche Leben in Person ist. Wenn ich ihn, Christus, im Sakrament so leibhaftig empfangen und berühren darf, wie es der Apostel Thomas einst nach der Auferstehung seines Herrn durfte, dann habe ich darin schon das ewige Leben, komme ich schon hier und jetzt so dicht an Christus heran, wie dies auch am Ziel meines Lebens einmal der Fall sein wird. Der Weg zum Ziel ist also gar nicht so weit: Er führt uns immer wieder neu hier an diesen Altar. „Driving home for Christmas“ – das erleben wir jedes Mal, wenn wir uns auf den Weg hier in das Haus Gottes begeben.

Doch zugleich kann sich der Weg zum Ziel für uns auch noch viel länger hinziehen als der Weg zur Weihnachtsfeier für Chris Rea. Sehnsüchtig warten wir auf die Wiederkunft unseres Herrn, warten darauf, dass er kommt, um uns zu sich zu nehmen. Doch auch, wenn wir diese Wiederkunft nicht zu unseren Lebzeiten erfahren sollten, bleibt das Zuhause, das Jesus für uns schon vorbereitet hat, doch dasselbe: Er steht am Ziel, er wartet auf uns, und darum fahren wir eben gerade keiner unbekannten Zukunft entgegen, sondern fahren Richtung Heimat: Der, bei dem wir jetzt schon zu Hause sind, der wird dann auch einmal unser ewiges Zuhause ausmachen, in dem wir für immer werden bleiben dürfen.

Wie oft habe ich diesen Wunsch schon von Menschen aus unserer Gemeinde gehört, die dem Ende ihres Lebens entgegengingen: Ich will nach Hause. Nein, sie meinten damit nicht die heimischen vier Wände, und ihre Sehnsucht galt auch nicht dem Weihnachtsbaum und dem Kerzenschein. Sie wussten, wo ihr eigentliches Zuhause war: im Hause ihres Vaters, dort wo seit ihrer Taufe auch für sie eine Wohnung vorbereitet war. Und wer dies weiß, der darf sich auf den Heimweg und die Ankunft noch viel mehr freuen als Chris Rea auf sein weihnachtliches Zuhause. Denn die Feier, die uns am Ende unseres Weges erwartet, die ist nicht schon nach ein paar Tagen vorbei, die wird ewig dauern, weil er, Christus, das Leben ist. Wie gut, dass auch wir wissen dürfen, wohin die Reise geht! Amen.