03.12.2011 | Jesaja 63,15 - 64,3 | Vorabend zum 2. Sonntag im Advent

Im TAGESSPIEGEL gibt es samstags immer eine Kinderseite, auf der Kinder aus Berlin interviewt werden. Am vergangenen Samstag wurde ein 10jähriger Junge mit dem schönen Namen Tiberius interviewt. Eine Frage lautete: „Wenn du Gott eine Frage stellen könntest, welche wäre das?“ Tiberius antwortete darauf: „Ich bin mir nicht sicher, ob es ihn gibt. Wenn ja, würde ich gerne wissen, warum er sich nicht blicken lässt.“

Das ist also offenbar auch schon Kindern klar, dass es nicht selbstverständlich ist, dass es Gott gibt. Und das ist offenkundig ebenfalls auch schon Kindern klar, dass die Existenz Gottes gerade darum fraglich ist, weil der sich doch nicht blicken lässt, weil man von ihm doch gar nichts sehen und merken kann in dieser Welt.

Was Tiberius hier sehr vorsichtig formuliert, das haben dann viele Erwachsene ganz konsequent weitergedacht: Gott gibt es nicht – jedenfalls hat er mit uns, mit unserem Leben offenbar nicht das Geringste zu tun. Ob es ihn gibt oder nicht, kann uns Menschen doch eigentlich völlig egal sein. Wichtig wäre das ja nur, wenn dieser Gott auch in unsere Welt, in unser Leben eingreifen würde. Doch das tut er ja ganz offensichtlich nicht; sonst würde es nicht so viel Leid auf dieser Welt geben, auch nicht so viel Leid in unserem eigenen Leben; dann bliebe nicht so vieles auf dieser Welt völlig rätselhaft und irrsinnig; dann müssten wir nicht so leben, als ob es ihn gar nicht gäbe. „Ich will ja gar nicht ausschließen, dass es Gott möglicherweise gibt“, pflegt Richard Dawkins, einer der Wortführer der Atheisten-Bewegung, zu erklären. „Doch“, so fährt Dawkins fort, „diese Frage, ob es Gott gibt, interessiert mich etwa so sehr wie die Frage, ob es ein fliegendes Spaghetti-Monster gibt.“ Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass es Gott gibt, wenn man sich anguckt, wie es auf dieser Welt zugeht; aber selbst wenn es ihn gibt, hat er offenbar nicht seine Hand in dieser Welt im Spiel. Also kann ich ihn auch ignorieren, genauso wie ich es getrost ignorieren kann, ob irgendwo im Weltall ein fliegendes Spaghetti-Monster unterwegs ist. Ohne seine Existenz anzunehmen, kann man jedenfalls genauso gut leben. So stellt Dawkins die Dinge dar, und nach eben dieser Devise verhalten sich so viele Menschen auch in unserer Umgebung, in unserem Freundeskreis, vielleicht sogar in der eigenen Familie. Ja, es mag sehr wohl sein, dass uns solche Gedanken auch selber immer wieder mal durch den Kopf schießen: Ist das nicht Irrsinn, am Glauben an Gott festzuhalten? Und macht das für mein Leben eigentlich irgendeinen Unterschied, ob ich nun an ihn glaube oder nicht?

Uns mögen solche Gedanken sehr modern vorkommen – so sind wir nun einmal, die aufgeklärten Menschen von heute; wir können nicht so naiv wie die Menschen früher einfach an Gott glauben, mögen wir meinen. Doch nun haben wir eben die alttestamentliche Lesung dieses Zweiten Adventssonntags gehört, in der genau all diese scheinbar so modernen und neuen Argumente und Fragen und Erfahrungen auftauchen und behandelt werden. Hochaktuell ist das, was wir hier als Klage des Volkes Israel vernehmen; was hier angesprochen wird, entspricht genau dem, was uns in Diskussionen über Gott immer wieder entgegengehalten wird und was wir selber in unserem Herzen auch oft genug denken und empfinden mögen.

Von einem verschlossenen, gleichsam zubetonierten Himmel spricht die Klage des Volkes Israel: Zwischen Gott und seinem Volk besteht scheinbar überhaupt keine Verbindung mehr. Dass Gott da im Himmel, in seiner Welt irgendwo ist, wird nicht bestritten. Aber mit seinem Volk will er scheinbar überhaupt nichts mehr zu tun haben. Überaus groß mag Gott ja sein – aber das nützt seinem Volk nichts; es hat keine Ahnung, wie er, Gott, sich zu seinem Volk verhält. Schaut man nur auf das, was diese Volk erlebt hat und erlebt, dann scheint es mit der Liebe Gottes zu seinem Volk nicht sehr weit her zu sein: Die heilige Stadt Jerusalem ist zerstört, der Tempel geschändet, zertreten, dem Erdboden gleich gemacht. Gottes Volk darf nicht mehr wohnen in dem Land, das Gott einst seinen Vätern versprochen hatte. Im Exil, fern vom Heiligen Land, müssen sie ein kümmerliches Dasein fristen. Ohne Gott müssen sie dort leben, gleichsam wie Atheisten, wie Leute, die zu Gott überhaupt keinen Bezug haben: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.“

Ganz modern, ganz aktuell sind die Erfahrungen, die hier in der Klage des Volkes Israel zum Ausdruck kommen. Und doch gehen die Israeliten mit diesen Erfahrungen der Verborgenheit, ja der Abwesenheit Gottes in einem entscheidenden Punkt noch einmal ganz anders um, als so viele Menschen heute dies zu tun pflegen. Heute ziehen viele aus der Erfahrung des verschlossenen, des zubetonierten Himmels die Konsequenz, das Thema „Gott“ aus ihrem Leben zu streichen, sich mit ihm einfach gar nicht mehr zu beschäftigen. Klingt ja auch logisch: Wenn Gott weg ist, wenn er scheinbar unerreichbar ist, was habe ich dann noch mit ihm zu schaffen?

Doch Israel reagierte damals anders: Es klagte über Gottes Verborgenheit, über seine Abwesenheit – aber es richtete diese Klage an ihn, den abwesenden, verborgenen Gott selber, schrie gegen die Betonmauer an in der Gewissheit, dass dieser verborgene Gott dieses Schreien auch durch die verschlossene Himmelstür hindurch hören und sich zu Herzen nehmen würde. Geradezu frech und dreist mag diese Klage in unseren Ohren klingen: „Nun schau doch endlich mal von da oben aus deiner Wohnung runter auf uns! Bekommst du denn nicht mit, wie es uns geht? Geht es dir da oben in deiner heiligen, herrlichen Wohnung so gut, dass du an uns kein Interesse mehr hast? Wo ist nun deine Macht, die wir immer besungen haben? Kannst du nicht, oder willst du nicht? Ja, mehr noch: Wenn du wirklich Gott bist, dann hättest du auch die Möglichkeit gehabt, uns von unseren Irrwegen abzubringen, die wir gegangen sind. Warum hast das du das nicht getan? Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?“ Das klingt, wie gesagt, ganz schön dreist und frech in unseren Ohren – und doch kommt in ihnen genau dies zum Ausdruck, dass Gott ernst genommen wird auch und gerade in der Erfahrung seiner Abwesenheit, seines Schweigens. So darf, ja so soll geradezu Gottes Volk mit seinem Gott sprechen, so dürfen wir es den Worten unserer heutigen Predigtlesung entnehmen.

Und das gilt nun genauso auch für uns: Gemeinsam mit denen, die sich längst von Gott abgewandt haben, die vielleicht gar seine Existenz leugnen, machen auch wir als Christen immer wieder die Erfahrung des verschlossenen Himmels, können oft genug nicht begreifen, was wir in unserem Leben, was wir in der Welt, die uns umgibt, erfahren. Doch auch wir brauchen heutzutage ebenso wenig zu verstummen wie Israel damals: Auch wir dürfen gegen alle Erfahrung zu Gott rufen, ihn geradezu anschreien, unsere Klagen bei ihm abladen und loswerden. Genau darum geht es in besonderer Weise jetzt wieder in dieser Adventszeit: Auf dem Weg zur Feier der Weihnacht überspringen wir die Erfahrung des verschlossenen Himmels nicht, machen das Warten auf Gottes Eingreifen in dieser Welt und in unserem Leben zum Thema, dieses Warten, das nicht von vornherein auf eine bestimmte überschaubare Zeitspanne eingegrenzt ist, sondern das sich in unserem Leben lange, mitunter quälend lange hinziehen kann: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?“

Aushalten können wir dieses Warten, weil wir zurückblicken dürfen, genau wie Israel es damals gemacht hat: Es erinnerte sich daran, dass Gott schon von alters her der Erlöser seines Volkes gewesen ist, dass er sich schon den Vätern Abraham und Jakob zu erkennen gegeben hatte. Zugleich erkannte Israel allerdings auch, dass ihm diese Erinnerung nur begrenzt in seiner eigenen Situation nützt: „Abraham weiß von uns nichts, und Israel – gemeint ist Jakob – kennt uns nicht.“ Beide sind tot, können ihren Nachkommen in ihrer akuten Not nun nicht mehr helfen.

Wir haben es da in der Tat sehr viel besser: Wir dürfen tatsächlich schon darauf zurückblicken, dass Gott den Himmel zerrissen hat und herabgefahren ist – allerdings in der Tat ganz anders, als wir Menschen uns dies zunächst einmal vorstellen und erhoffen würden. Als der Himmel zerriss, erschien Gott selber in der Gestalt eines kleinen Kindes, nahm selber die Not von uns Menschen auf sich, ertrug unser Leid, ja erfuhr sogar selber, was es heißt, wenn sich der Himmel verschließt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So antwortet Gott auf die Klage seines Volkes, so antwortet er auch auf unsere Klagen, dass er unseren Blick auf ihn, seinen Sohn Jesus Christus, lenkt.

Gott zerreißt den Himmel und fährt herab. Genau das darfst du nun auch heute Abend wieder hier in diesem Gottesdienst erleben. Du erlebst es jetzt in dieser Predigt: Gott schweigt dich nicht an; er blickt nicht von dir weg, sondern er redet zu dir, um dich zu trösten, um dir Mut zu machen, nicht mit dem Warten auf sein Kommen, auf sein Eingreifen aufzugeben. Gott zerreißt den Himmel und fährt herab. Nicht weniger geschieht nun auch gleich wieder in der Feier des Heiligen Mahles. Da bleibt Gott nicht länger im Jenseits, in seiner heiligen, herrlichen Wohnung, da findest du ihn, Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, im Brot und Wein des Heiligen Mahles. Auch das soll dir immer wieder helfen, weiter zu warten – zu warten auf Gottes letztes großes Kommen und Eingreifen, das uns noch bevorsteht.

Ja, Gott wird unser Klagen und Schreien einmal endgültig erhören, wird sich einmal allen Menschen sichtbar zu erkennen geben, so, dass auch all diejenigen ihn sehen werden, die jetzt noch seine Existenz leugnen, die jetzt noch über uns spotten mögen, wie wir so dumm und naiv sein können, immer noch im Glauben an ihm, Gott, festzuhalten. Dann wird es keine Diskussionen mehr darüber geben, ob es Gott gibt und warum er nicht eingreift, dann wird offenbar werden, dass wir keinen Augenblick lang Gott gleichgültig gewesen sind, auch wenn wir dies selber zuvor vielleicht manchmal so empfunden hatten.

Darum warten wir als Christen eben nicht bloß auf den 24. oder 25. Dezember. Wir warten länger, erwarten unendlich Größeres als die Bescherung unter dem Weihnachtsbaum. Wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, eine neue Welt, in der uns der Zugang zu Gott immer offen stehen wird, in der seine Wohnung auch unsere Wohnung sein wird. Ja, lieber Tiberius, es gibt Gott ganz gewiss – und er wird sich einmal blicken lassen, und du wirst ihn auch sehen. Hoffentlich bist du dann darauf vorbereitet. Ja, hoffentlich sind wir dann alle darauf vorbereitet, auch wenn wir noch länger warten und auch klagen müssen, ja, vielleicht auch noch im neuen Jahr! Amen.