18.09.2011 | St. Markus 3,31-35 | 13. Sonntag nach Trinitatis

„Maria, hättst du abgetrieben – ihr wäret uns erspart geblieben!“ Solche Sprüche durften sich auch gestern wieder Christen anhören, die sich beim „Marsch für das Leben“ öffentlich dazu bekannt hatten, dass menschliches Leben heilig ist, Gott gehört, der Verfügungsgewalt von uns Menschen darum entnommen und daher auch unverletzlich ist. Ja, wo Christen heutzutage hier in unserer Stadt öffentlich auftreten, wo Kirche in unserer Stadt sich öffentlich zu erkennen gibt, wie dies auch in dieser kommenden Woche beim Papstbesuch wieder der Fall sein wird, da müssen wir mit aggressiven Gegenreaktionen rechnen, oft genug auch unterhalb der Gürtellinie, da tobt sich die mittlerweile weit verbreitete Christianophobie zunehmend heftig aus, zumal sie im Unterschied zu anderen in jüngster Zeit diagnostizierten Phobien im Ruf steht, politisch durchaus korrekt zu sein. Auf die Kirche lässt es sich gut einprügeln – da muss man dann anschließend auch keinen Polizeischutz für die eigene Wohnung beantragen.

Dass es zu Konflikten und auch unschönen Auseinandersetzungen kommt, wo Christus Menschen um sich schart, ist allerdings nun kein besonderes Phänomen, das sich auf die neuere Zeit und auf Berlin, das heute gerne die „Welthauptstadt des modernen Atheismus“ genannt wird, beschränkt. Sondern solch ein Konflikt wird uns auch schon im Neuen Testament selber, in der Predigtlesung des heutigen Sonntags geschildert. Über zweierlei ärgerten sich die Menschen damals schon genauso, wie sie dies heute tun:
- über den, der Menschen in seine Gemeinschaft ruft
- über die, die dieser eine zu seiner Familie erklärt

I.
Schwestern und Brüder, um die Worte unserer heutigen Predigtlesung recht verstehen zu können, müssen wir uns den Zusammenhang des gesamten Kapitels anschauen. Ansonsten gewinnt man beim Hören unserer Predigtlesung ja den Eindruck, Jesus habe einfach mal so Besuch von seiner Verwandtschaft, von seiner Mutter und seinen Geschwistern, erhalten, und dann wundert man sich darüber, warum Jesus auf diese Besuchsnachricht denn so abweisend reagiert.

Doch es geht hier nicht einfach bloß um einen harmlosen Familienbesuch. In den Versen, die unserer Predigtlesung vorausgehen, wird geschildert, wie Jesus Menschen heilt, wie Jesus als Sohn Gottes bekannt wird, wie Menschen in großen Scharen zu ihm strömen. Und eben dies veranlasst die Familie Jesu nun zum Eingreifen: Nein, sie sind nicht begeistert davon, nun solch einen berühmten Sprössling in der Familie zu haben, sondern sie sind im Gegenteil entsetzt: Wir kennen den Jungen doch, der war doch immer ganz normal. Und jetzt lässt er es sich gefallen, als Gottes Sohn verehrt zu werden, jetzt lässt er sich gefallen, dass die Menschen zu ihm strömen, von ihm Hilfe und Rettung erwarten. Da muss irgendwas fürchterlich schief gelaufen sein; der Junge ist einfach durchgeknallt – den muss man mal eine Weile aus dem Verkehr ziehen, zu seinem eigenen Schutz!

Und so rücken sie also nun bei ihm an. Diskret wollen sie die ganze Angelegenheit abwickeln, ohne großes Theater. Sie rufen ihn nach draußen, vor die Tür, da, wo es hoffentlich nicht so viele Leute mitbekommen, wenn sie ihn sich schnappen und ihn abführen. Doch Jesus durchkreuzt ihren Plan. Er macht gerade nicht, was man eigentlich doch verständlicherweise von einem Sohn hätte erwarten können – er geht nicht heraus aus dem Haus, aus dem Kreis derer, die sich um ihn versammelt haben, um dem Ruf der Familie zu folgen. Hier geht es nicht um Familienetikette, hier geht es um nicht weniger als darum, wer er ist: ein durchgeknallter Spinner oder in der Tat der Sohn des lebendigen Gottes. Jesus weiß, dass er eben nicht durchgedreht ist, und so sehr er die Reaktion seiner Verwandtschaft auch verstehen mag – er kann und darf jetzt nicht aufstehen. Denn eben damit würde er den Verwandten Recht geben, würde verleugnen, wer er in Wirklichkeit ist: nicht bloß Sohn seiner Mutter, sondern Sohn seines himmlischen Vaters, ja wirklich und wahrhaftig wahrer Mensch und wahrer Gott.

„Maria, hättst du abgetrieben – ihr wäret uns erspart geblieben!“ – Diejenigen, die den Christen solche Sprüche entgegenrufen, haben das Entscheidende in der Tat erkannt: Ohne Christus keine Kirche. Die Kirche ist kein Verein zur gemeinsamen Pflege religiöser Bedürfnisse, der seinen Betrieb zur Not auch aus irgendwelchen allgemeinen religiösen Weisheiten der Weltliteratur speisen kann. Alles, wirklich alles in der Kirche hängt ohne Ausnahme allein an Christus, hängt damit auch daran, dass er wirklich der ist, als der er sich selber damals zu erkennen gegeben hat und als der er auch heute in jedem Gottesdienst der Kirche, wenn sie denn Kirche Jesu Christi sein will, verehrt und angebetet wird. Und dies macht uns St. Markus hier in unserer Predigtlesung allerdings sehr deutlich: Gegenüber diesem Jesus von Nazareth gibt es in der Tat nur zwei echte Möglichkeiten der Reaktion: Entweder mache ich es wie die Familie Jesu damals und erkläre Jesus für völlig durchgeknallt in seinem Anspruch, Gottes Sohn zu sein, oder ich falle selber vor ihm nieder und bete ihn als meinen Herrn an. Die Möglichkeit, ihn einfach nur als weisen Lehrer und Religionsstifter, als guten Menschen und Vorbild zu verehren, hat uns Jesus dagegen nicht gelassen. Zu klar und eindeutig hat er selber den Anspruch erhoben, Sohn Gottes, ja Gott selber zu sein, und erspart es uns nicht, uns so oder so zu diesem Anspruch zu verhalten, ob wir ihn nun kopfschüttelnd ablehnen oder ihm zustimmen. Genau das hat der jetzige Papst Benedikt XVI. in den beiden Bänden seines Jesusbuches gerade noch einmal in wunderbarer Klarheit und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit herausgearbeitet. Als lutherische Christen erkennen wir ihn zwar nicht als Oberhaupt unserer Kirche an; für das, was er in diesen beiden Büchern – und in vielen anderen dazu – geschrieben hat, können wir jedoch auch als Glieder der lutherischen Kirche nur sehr dankbar sein.

Und wenn wir Jesus seinen Anspruch, Sohn Gottes zu sein, abnehmen, dann sind allerdings auch heutzutage ähnliche Konflikte vorprogrammiert, wie der Evangelist St. Markus sie hier in unserer Predigtlesung beschreibt. Dann kann man sich beispielsweise eben nicht mehr im Gespräch mit anderen Religionen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückziehen und erklären, wir glaubten ja am Ende doch alle an den einen Gott. Zahlenmäßig mag das ja sehr wohl stimmen; die Übereinstimmung in der Zahl muss jedoch nicht zwangsläufig heißen, dass es jeweils auch derselbe Gott ist, an den die verschiedenen Religionen glauben. Aber vor allem kommen wir eben nicht an dieser entscheidenden Frage vorbei: Wie stehst du zu diesem Jesus? Das ist keine theologische Spezialfrage, sondern für uns Christen ist klar, dass wir über Gott eben nur so reden können, dass wir über Jesus reden, dass wir davon sprechen, dass der Gott, an den wir glauben, einen Sohn hat, dass der Gott, an den wir glauben, selber Mensch geworden ist. Denn diesen Mensch gewordenen Gott beten wir in jedem Gottesdienst an, um ihn versammeln wir uns, so macht es uns schon St. Markus deutlich, ermutigt auch uns dazu, zu diesem Jesus nicht auf Distanz zu bleiben, seinen Anspruch nicht kopfschüttelnd abzulehnen, sondern uns tatsächlich dort einzufinden, wo er sich finden lässt: in seiner Familie.

II.
Und damit sind wir schon beim zweiten Ärgernis, das uns St. Markus hier in unserer Predigtlesung schildert: Es ist das Ärgernis der Kirche, es ist das Ärgernis, was für eine Bedeutung Jesus selber seiner Kirche hier einräumt: Seine Familie, seine Mutter, seine Geschwister nennt er die, die sich da um ihn versammelt haben, um sein Wort zu hören.

Zugegebenermaßen nimmt Jesus selber hier nicht das Wort „Kirche“ in den Mund; aber was uns der Evangelist hier schildert, ist eben genau das, was unsere lutherischen Bekenntnisschriften als Kirche bezeichnen: Kirche ist die Versammlung derer, die das Wort Christi hören und seine Gegenwart in ihrer Mitte erfahren, nach Ostern nun in den heiligen Sakramenten. Kirche wird sichtbar, erkennbar im Gottesdienst, ja, auch heute Morgen. Da blickt Christus nun auch euch an und sagt: Ihr seid meine Familie, die, mit denen ich aufs engste verbunden bin. Denn ihr tut den Willen meines Vaters, ihr sucht meine Nähe, ihr sammelt euch um mich, ihr nehmt mir ab, was ich euch sage.

Zum Christsein gehört also die Kirche als Mutter, gehören die Brüder und Schwestern in der Gemeinde einfach dazu, so macht es uns Christus hier in seinen Worten deutlich. Mit den Schwestern und Brüdern in der Gemeinde zusammen zu sein, ist ihm selber so wichtig, dass er dafür sogar seine leiblichen Verwandten draußen vor der Tür stehen lässt.

Zum Christsein gehört das Leben in der Kirche, in der Gemeinschaft der Familie Gottes unabdingbar dazu – was Jesus hier mit seinem Verhalten deutlich macht, war nicht nur damals für viele Beobachter ärgerlich, sondern ärgert auch heute noch viele, die sich gerne ein Christentum nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zusammenbasteln. Es muss diejenigen Richter hier in Deutschland ärgern, die den Begriff des „religiösen Existenzminimums“ erfunden haben und behaupten, man könne auch ohne Gottesdienst und Gemeinde als Christ leben, und darum könne man auch getaufte Asylbewerber wieder in ihr islamisches Herkunftsland zurückschicken – sie könnten ihr Christentum dort ja einfach nur im Herzen weiterpraktizieren. Nein, so geht das mit dem Christsein eben nicht! Zum Christsein gehört das Leben in der Kirche – das ärgert auch all diejenigen, die meinen, fein säuberlich zwischen Glaube und Kirche unterscheiden zu können, die glauben, man könne sein Christsein darauf beschränken, bestimmte christliche Bildungsinhalte zu kennen und ansonsten ein anständiger Mensch zu sein und bei all dem auch die Existenz Gottes nicht unbedingt zu leugnen. Nein, so geht das mit dem Christsein eben nicht! Ich kann mich als Christ nicht aus meiner Familie ausklinken. Was mich mit meinen Brüdern und Schwestern in der Gemeinde verbindet, das ist noch mehr, als was mich mit meinen leiblichen Verwandten verbinden mag. Taufwasser ist noch dicker als Blut.

Nein, Christus hetzt uns hier nicht gegen unsere Familien auf. Er ist nicht der Anführer einer Jugendsekte, der mit allen Mitteln versucht, die, die zu ihm gehören, aus allen bisherigen sozialen und familiären Bindungen herauszulösen. Im Gegenteil: Das ist natürlich das Allerbeste, wenn eine Familie als ganze auch zu Gottes Familie gehört und dort zu Hause ist. Das kann im Übrigen auch eine ganz wichtige Hilfe für die Familie sein, auch im Alltag immer fester zusammenzuwachsen. Und so freue ich mich immer wieder darüber, wenn Eltern mit ihren Kindern gemeinsam hierher zum Gottesdienst kommen, und so hoffe ich, auch Daniel und Maximilian in Zukunft immer wieder gemeinsam mit ihrer Familie hier im Haus Gottes, hier bei der Versammlung der Familie Gottes sehen zu können. Aber ich erlebe das andere eben auch immer wieder in unserer Gemeinde: Dass Kinder und Jugendliche allein hierher zur Kirche kommen, ohne ihre Eltern, ohne ihre Familie und sich mitunter vielleicht sogar den einen oder anderen blöden Spruch zu Hause anhören müssen, weshalb sie denn den Familienfrieden am Sonntagmorgen mit ihrer Rennerei zur Kirche stören. Das erlebe ich in der Gemeinde mitunter auch, dass Eltern ähnlich wie die Familie Jesu hier versuchen, ihre Kinder aus der Familie Gottes wieder herauszulösen, weil sie Angst haben, dass die dort mehr zu Hause sind als bei ihnen. Ja, wie aktuell sind die Konflikte, die uns St. Markus hier in unserer Predigtlesung schildert!

Aber ich erlebe es umgekehrt bei uns in unserer Familie Gottes hier vor Ort eben immer wieder auch ganz positiv, was es für so manches Gemeindeglied bedeutet, hier in unserer Mitte eine Familie gefunden zu haben, die es bisher entbehren musste. Das erlebe ich, wie Menschen hier in unserer Familie aufblühen, weil ihnen hier so viele Geschwister geschenkt wurden, von denen sie früher noch nicht einmal geträumt hätten. Gewiss, der alte Spruch, dass man sich Freunde aussuchen kann, Familienangehörige dagegen nicht, gilt auch für unsere Familie Gottes. Und doch erfahren wir es eben auch bei uns, dass die Bezeichnung „Familie“ für unsere Gemeinde nicht nur ein schönes Bild ist, sondern tatsächlich erlebbare Realität beschreibt. Und wir erfahren es auch, dass wir eben keine Familie sind, die sich nach außen hin abschottet und nur im eigenen Saft brät, sondern gerne dazu bereit ist, den Kreis um Jesus herum immer noch größer zu machen, damit immer noch mehr hineinkommen können, gerade auch solche, die bisher lieber noch kritisch draußen vor der Tür gestanden hatten und den Kreis bisher lieber erst mal von außen betrachtet hatten. „Kommt rein“, so ruft es Christus ihnen, ruft es uns allen zu. „Kommt rein, meine Geschwister! Es geht hier nicht bloß um nette Gemeinschaft, es geht um euer Leben, es geht um das neue, ewige Leben, das ihr nur hier bei mir und nirgends sonst bekommt! Kommt rein“, ruft Christus uns zu. „Nein, abgetrieben haben sie mich nicht; aber umgebracht haben sie mich am Ende doch. Doch schaut her: Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Die, die mich beseitigen wollten, haben es nicht geschafft und werden es auch niemals mehr schaffen. Lasst euch nicht abschrecken von dem Gequatsche anderer, lasst euch nicht abschrecken von Anfeindungen und blöden Sprüchen! Ihr seid und bleibt meine Geschwister“, sagt Christus, „und darum werde ich euch niemals aufgeben: Daniel nicht, Maximilian nicht, keinen von euch.“ Nicht aufgegeben hat Jesus im Übrigen auch seine leibliche Familie. Maria, seine Mutter, finden wir nach Ostern und Pfingsten ebenso in der ersten Christengemeinde wie zum Beispiel Jakobus, seinen Bruder. Protest, Ablehnung und Kopfschütteln müssen also nicht unbedingt die letzte Reaktion auf Jesu Anspruch bleiben. Mögen wir darum auch für diejenigen, die jetzt in den kommenden Tagen wieder laut schreien mögen, immer noch ein paar Plätze in unserem Kreis freihalten! Amen.