11.09.2011 | Jesaja 29,17-24 | 12. Sonntag nach Trinitatis

Es waren nicht nur zwei riesige Konstruktionen aus Stahl und Beton, die heute vor zehn Jahren am 11. September 2001 in New York mithilfe von entführten Flugzeugen zum Einsturz gebracht wurden. Mit den beiden Türmen des World Trade Centers brachen auch gewaltige Hoffnungen zusammen, die viele Menschen mit dem Anbruch des dritten Jahrtausends verknüpft hatten: Hoffnungen auf ein Zeitalter des Friedens zwischen den Völkern und Religionen, Hoffnungen darauf, dass es vielleicht doch möglich sein könnte, eine weltumspannende Friedensordnung zu schaffen, die gleichermaßen auf Vernunft und Nächstenliebe gegründet ist.

Und die vergangenen zehn Jahre, die auf diesen entsetzlichen Terroranschlag gefolgt sind, haben nun eben auch nicht unbedingt dazu beigetragen, diesen Hoffnungen neues Leben einzuhauchen. Menschliche Bemühungen, Frieden zu schaffen und dem Bösen zu wehren, haben oft genug nur das Gegenteil bewirkt, erwiesen sich, menschlich gesprochen, oft genug als ohnmächtig im Gegenüber zu den Kräften des Hasses und der Selbstsucht. Nein, dem Paradies auf Erden sind wir mit all dem, was wir versucht und angepackt haben, in den vergangenen zehn Jahren kein Stück näher gekommen.

Und da haben wir nun eben in der alttestamentlichen Lesung dieses Sonntags die Schilderung eben solcher paradiesischer Zustände vernommen, die in der Tat genau das Gegenteil dessen schildern, was wir hier auf dieser Erde immer wieder erleben. Ja, erstaunlich, um nicht zu sagen: erschreckend aktuell ist das Negativ, das hinter der wunderbar positiven Schilderung im Buch des Propheten Jesaja erkennbar wird:
Wenn Jesaja hier schildert, wie vertrocknete Landschaften in fruchtbares Land verwandelt werden, dann haben wir die Bilder von den Folgen des Klimawandels auf unserem Planeten vor Augen: Wir sehen die Menschen, die vor Dürre und Versteppung fliehen, und wir ahnen, wohin dies in Zukunft möglicherweise noch alles führen könnte. Wenn Jesaja hier schildert, wie die Ärmsten unter den Menschen fröhlich werden, dann haben wir die Bilder von diesen Ärmsten der Armen vor Augen, die uns im Fernsehen immer wieder vor Augen geführt werden, Bilder von hungernden Kindern, von Menschen, denen Katastrophen alles genommen haben, was sie zum Leben hatten und brauchten. Wenn Jesaja hier von Tyrannen spricht, dann mögen wir in diesen Tagen besonders an die Ereignisse in Syrien denken, wo ein solcher Tyrann sein eigenes Volk niedermetzeln lässt, nur um sich selber an der Macht zu halten. Und wenn Jesaja davon spricht, dass es mit denen aus sein wird, die das Recht der Unschuldigen beugen, dann müssen wir mit unseren Gedanken gar nicht nur in die weite Welt schweifen, dann denke ich beispielsweise auch an einen Bruder in unserer eigenen Gemeinde, der nur, weil er eine andere Hautfarbe hatte, kürzlich von der Polizei festgehalten wurde, dem sein gesamtes Geld weggenommen und nicht wieder zurückgegeben wurde und der nun beim Landeskriminalamt aktenkundig ist, obwohl er sich in Wirklichkeit nicht das Geringste hatte zuschulden kommen lassen. Da merkt man, wie man selbst in einem Rechtsstaat bisweilen begangenem Unrecht völlig hilflos und wehrlos gegenübersteht. Ja, hochaktuell sind die Erfahrungen, die den Hintergrund für die Ankündigungen unserer heutigen Predigtlesung bilden.
 
Und da schildert uns der Prophet Jesaja hier in diesen Versen nun eine Welt, in der alles ganz anders aussieht, in der es keine Umweltprobleme gibt, in der Arme und Elende Grund zum Jubel haben, in der es keine Tyrannen und kein Unrecht mehr geben wird. Wie sollen wir diese Worte verstehen?
 
Schaut man sich diverse Predigtvorbereitungshilfen an, die die Worte unserer heutigen Predigtlesung auslegen, dann handelt es sich bei diesen Worten des Propheten um Wunschträume von Menschen, um Hoffnungsfantasien, die Menschen sich selber machen und die sie dann dazu befähigen und motivieren, sich selber für eine gerechtere Welt einzusetzen. Was wir dann hier eben gehört haben, wäre dann so etwas Ähnliches wie ein Vorläufer jener bekannten Rede Martin Luther Kings mit den berühmten Worten: „I have a dream“.
 
Nun will ich das gar nicht irgendwie schlecht reden, wenn Menschen sich selber Bilder der Hoffnung entwerfen und sich diese als Ansporn für ihr Handeln dienen lassen. Doch solange Menschen glauben, es läge an ihnen allein, diese Hoffnungsbilder Wirklichkeit werden zu lassen, stehen sie in der Gefahr, die Umsetzung dieser Bilder entweder am Ende auch mit Gewalt durchsetzen zu wollen oder umgekehrt zu verzweifeln und zu resignieren, wenn sie merken, dass sie dem Ziel dieser Hoffnungsbilder doch nicht näherkommen.
 
Was Jesaja uns hier verkündigt, ist jedenfalls etwas ganz Anderes: kein schöner Wunschtraum und auch keine einfache Zielvorgabe für menschliches Handeln. Sondern Jesaja spricht hier von dem, was Gott schaffen wird, nicht von dem, was wir Menschen schaffen sollen oder werden. Gottes neue Welt, Gottes Möglichkeiten bilden den Inhalt dessen, was wir eben vernommen haben. Nicht von einem allmählichen Prozess spricht der Prophet hier im Auftrag Gottes, sondern von einer plötzlichen, unerwarteten Wandlung, mit der wir jederzeit rechnen sollen und dürfen.
 
Nun mag man einwenden, dass aus der kleinen Weile, die damals Jesaja vor zweieinhalbtausend Jahren angekündigt hat, mittlerweile ja wohl doch eine große Weile geworden ist. Und doch gilt für uns heute im Jahr 2011 nichts Anderes als für die Hörer des Propheten Jesaja damals: Jederzeit sollen und dürfen wir mit Gottes Eingreifen in unsere Welt, in unser Leben rechnen; jederzeit sollen und dürfen wir damit rechnen, dass Gott das, was im Augenblick noch ewig und unumstößlich erscheint, beenden und durch eine ganz neue Welt ersetzen wird. Es ist ja auch nicht so, dass seit der Ankündigung des Propheten damals gar nichts passiert wäre. Wir haben es ja eben im Heiligen Evangelium wieder gehört, wie diese neue Zeit, die Jesaja hier ankündigt, schon angebrochen ist, wie Christus damals Tauben die Ohren und Blinden die Augen geöffnet hat, wie er uns damit schon einen Vorgeschmack dessen geliefert hat, was uns in der Zukunft noch erwartet. Ja, was da auf uns zukommt, wird in Wirklichkeit sogar noch viel wunderbarer und großartiger sein, als was Jesaja uns hier in seinen Worten ankündigt; denn genau das ist Gottes Art, seine Versprechen so zu erfüllen, dass er sogar noch viel mehr tut als das, was er zuvor verheißen hatte.
 
Auf eines dürfen wir uns auf jeden Fall verlassen: Es ist nicht mehr offen, ob sich unsere Zukunftshoffnungen erfüllen oder endgültig scheitern. Unsere menschlichen Bemühungen, sie mögen immer wieder im Scheitern enden. Doch am Ende wird Gott selber das letzte Wort behalten, wird selber diese neue Welt schaffen, in der es keine Umweltprobleme, keine Krankheit, kein Leid, keine Armut, keinen Hunger, keine Terrorregimes und auch kein Unrecht mehr geben wird, ja, in der es letztlich und vor allem auch keinen Tod mehr geben wird.
 
Und das ist eben nicht bloß Zukunftsmusik: In diese neue Welt gehörst du jetzt schon hinein, so gewiss du getauft bist; in diese neue Welt gehört seit heute nun auch Miranda Berlin Mumme hinein. Was einmal für alle Augen sichtbar werden wird, daran hat sie, haben wir alle, die wir getauft sind, nun schon verborgen Anteil. Unser Leben wird nicht einfach im Dunkel der Verzweiflung und des ewigen Todes enden, sondern im strahlenden Glanz dessen, der uns schon hier und jetzt in seinem Wort die feste Zusage gegeben hat: „Siehe, ich mache alles neu!“ Was für eine wunderbare Lebensperspektive, die uns vor der Illusion, wir müssten die Welt retten, ebenso bewahrt wie vor der Verzweiflung, dass das ja doch alles keinen Zweck hat! Im Gegenteil: Unsere Zukunft hat schon begonnen!
 
Schwestern und Brüder: Das ist nun keine Vertröstung aufs Jenseits, wie der Kirche mitunter vorgeworfen wird. Denn auch wenn Gott die letzte entscheidende Wende einmal am Ende ganz allein herbeiführen wird, fängt er mit seiner neuen Welt doch schon jetzt und hier an, auch hier in unserer Mitte. In den Taufliturgien mancher Kirchen gibt es den sogenannten „Hephata“-Ritus, benannt nach dem Heiligen Evangelium dieses Sonntags: Der Pastor berührt Ohren und Mund des Täuflings und spricht dabei die Worte „Hephata“; durch die Taufe sollen dem Täufling Ohren und Mund geöffnet werden, dass er künftig Gottes Wort im Glauben annehmen und mit seinem Mund bezeugen kann.
 
Ja, genau so lässt Gott seine neue Welt schon hier und jetzt anbrechen, so zeigt es uns Jesaja: Er lässt Menschen, die für sein Wort taub waren, auf Gottes Wort hören, er lässt Menschen, die in ihrem Geist irren, Verstand annehmen. Gottes Wort, es ist das einzige Machtmittel, das Gott einsetzt, um seine neue Welt schon in unserer Mitte beginnen zu lassen. Gewiss, Gott ist auch überall da in unserer Welt am Werk, wo Verantwortliche in Staat und Regierung dem Bösen wehren, die Schwachen schützen und Gottes Geboten im Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft zum Recht verhelfen. Auch wenn wir uns über Fälle von offenbarem Unrecht auch in unserem Land verständlicherweise empören, dürfen wir doch zugleich dankbar sein, dass wir hier in unserem Land in hohem Maße Frieden, Freiheit und Rechtssicherheit genießen dürfen. Auch wenn wir gerne auf die, die sich in politischer Verantwortung befinden, schimpfen: Gott erhält auch durch ihren Dienst diese vergehende Welt.
 
Doch die neue Welt schafft kein Politiker und schafft keine Partei. Die neue Welt beginnt überall dort, wo Menschen auf Gottes Wort hören und wo dadurch ihr Herz verändert wird. Die neue Welt beginnt überall dort, wo Menschen ganz Gott vertrauen, dass er sich am Ende durchsetzen wird. Ja, sie beginnt überall dort, wo Menschen aus diesem Vertrauen heraus anfangen zu handeln, sich einsetzen für Frieden und Gerechtigkeit – und wo sie ihr Scheitern immer wieder vor Gott bringen und sich von ihm Vergebung und einen Neuanfang schenken lassen.
 
Jesaja fasst diese Veränderung, die Gott an uns Menschen bewirkt, darin zusammen, dass wir beginnen, Gottes Namen zu heiligen. Wie das Gegenteil einer solchen Heiligung des Namens Gottes aussieht, das haben wir an jenem 11. September 2001 in erschreckender Weise erleben müssen, als Menschen allen Ernstes Gottes Namen als Begründung für einen Massenmord anführten und mit Berufung auf Gott und seinen Namen Tausende von Menschen mit in den Tod rissen. Das wird es in Gottes neuer Welt endgültig nicht mehr geben, dass Gottes Name in Zusammenhang mit Tod und Vernichtung gebracht wird, und das gibt es auch jetzt schon hier auf Erden nicht mehr, wo Gottes Name hier und jetzt geheiligt wird. Ein furchtbarer Missbrauch des Namens Gottes liegt immer dort vor, wo er zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt verwendet wird. Gewiss, solange wir hier auf Erden leben, wird es immer wieder auch nötig sein, Schwache notfalls auch mit Gewalt vor Angriffen des Bösen zu schützen. Doch wo Christen sich an solchem Schutz aus Liebe zum Nächsten beteiligen, werden sie es nie mit einem triumphalen „Gott mit uns!“ auf den Lippen tun können, sondern immer nur mit dem Ruf „Kyrie eleison, Gott sei mir Sünder gnädig!“
 
Jesus hat die Worte unserer heutigen alttestamentlichen Lesung aufgegriffen, als er seine Jünger gelehrt hat zu beten: „Geheiligt werde dein Name!“ Ja, wir tun gut daran, gerade auch diese Bitte des Heiligen Vaterunsers jeden Tag ganz bewusst zu beten, dass Gottes Name nicht zur Rechtfertigung von Unrecht und Gewalt, auch nicht zur Verbreitung von Irrlehren verwendet werden möge. Ja, wir tun gut daran, gerade auch diese Bitte jeden Tag ganz bewusst zu beten, dass wir selber mit unserem Leben keine Anti-Werbung für Gott machen, indem wir als Christen ganz anders leben und uns ganz anders verhalten, als es Gott gefällt. Sondern wir bitten mit dieser Bitte des Heiligen Vaterunsers darum, dass andere Menschen uns Christen etwas abspüren von dieser wunderbaren Zukunftshoffnung, die wir haben, dass andere Menschen bei uns Christen etwas davon merken, dass uns diese Hoffnung anders leben lässt: fröhlich, gelassen, liebevoll und mit einem nüchternen Blick auf das, was in unserem Leben wirklich wichtig ist. Ja, Gott geb’s, dass Gottes Reich gerade auch so sich jetzt schon auch in unserer Umgebung ausbreiten möge, dass andere sich von unserer Hoffnung und unserer Freude anstecken lassen – bis wir einmal endgültig miteinander um die Wette strahlen werden in der Welt, in der es einmal kein Ende mehr geben wird! Amen.