04.09.2011 | St. Matthäus 21,28-32 | 11. Sonntag nach Trinitatis

Normalerweise komme ich in den Sommerferien immer dazu, mein Amtszimmer einmal richtig gründlich aufzuräumen und alles abzuheften. Irgendwie ist das ein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass alles, was zuvor herumlag, jetzt in der richtigen Schublade liegt, im richtigen Ordner abgeheftet ist, dass alles jetzt seinen festen Platz hat, wo es hingehört. Doch im Sommer dieses Jahres sind nun in unserer Gemeinde so viele andere Dinge passiert, dass ich zum Einordnen und Sortieren irgendwie gar nicht gekommen bin; meine guten Vorsätze, alles in bestimmte Schubladen und Ordner zu packen, sie wurden mir von höherer Stelle ganz kräftig durcheinandergebracht.
 
Solch eine ähnliche Erfahrung, wie ich sie in diesem Sommer in meinem Amtszimmer gemacht habe, mutet Christus uns allen miteinander zu, nicht nur den damaligen ersten Zuhörern seiner Worte, sondern auch uns heute. Da mögen wir es ja ganz gerne in unserem Leben, Menschen in bestimmte Schubladen einzuordnen, nehmen bestimmte Erfahrungen, die wir mit ihnen gemacht haben, nehmen bestimmte Eindrücke von ihnen zum Anlass, sie irgendwo in den Ordnern unseres Lebens unterzubringen und abzuheften. Und wenn sie da erst mal drinstecken, dann kommen sie dort so einfach nicht mehr heraus. Und das gibt es durchaus auch in einer christlichen Gemeinde, gibt es auch unter Christen. Da gibt es Leute, die gehören für uns ganz fest zum Stamm der Gemeinde, mit denen rechnen wir auch ganz fest in unseren Planungen. Und da gibt es dann andere Leute, die offiziell zwar zur Gemeinde gehören, die wir aber innerlich vielleicht schon längst abgeschrieben haben: „Karteileichen“ nennen wir sie vielleicht wenig liebevoll, überlegen uns vielleicht gar, sie aus der Gemeindeliste zu streichen, weil es ja doch keinen Zweck hat, für diese Leute noch Zeit und Geld zu vergeuden. In manchen etwas frömmeren Kreisen funktioniert die Einordnung in bestimmte Schubladen sogar noch einen Zacken schärfer: Da maßen sich dann Menschen allen Ernstes an, beurteilen zu wollen, wer denn in einer christlichen Gemeinde ein richtiger Christ ist und wer nicht, wer sich denn schon bekehrt hat und wer nicht, wer von seinem Lebenswandel her schon deutlich macht, dass er offenbar kein Christ ist und wer den Ansprüchen derer, die da innerhalb der Gemeinde zu sortieren anfangen, vielleicht dann doch auch genügt. Schublade auf – Christ oder Nichtchrist rein – Schublade zu: So hat alles seine Ordnung.

Bei einem etwas oberflächlichen Zuhören mag man bei unserer heutigen Predigtlesung den Eindruck gewinnen, dass Jesus selber sich auch genau an solch einem Einordnen beteiligt, dass er seine Zuhörer, dass er auch uns dazu anleitet, Menschen in bestimmte Schubladen zu packen: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Doch wenn wir genauer hinschauen, stellen wir fest, dass Jesus stattdessen unser ganzes schönes System, nach dem wir unsere Schubladen füllen, ziemlich durcheinanderbringt – so sehr, dass sogar die Abschreiber der biblischen Handschriften am Ende ganz schön durcheinandergekommen sind und ihre eigenen Varianten dieses Gleichnisses geschaffen haben, die ihnen später einleuchtender erschienen. Schauen wir uns das Gleichnis also noch einmal genauer an:
Da berichtet Jesus von einem Vater, der zwei Söhne hat. Er fordert den ersten auf, in seinen Weinberg zu gehen und dort zu arbeiten. Die Antwort des Sohnes ist unfasslich: Er sagt doch allen Ernstes zu seinem Vater: Nein, ich will nicht! Seinen Vater so offen zu brüskieren, das war damals schon mehr als ungewöhnlich; das lag eigentlich jenseits dessen, was sich Menschen damals vorstellen konnten. Doch dann reut es diesen Sohn, der seinem Vater zuvor so vor den Kopf gestoßen hatte, und er geht doch hin, tut, worum ihn der Vater gebeten hatte. Der Vater war unterdessen zu dem anderen Sohn gegangen und hatte an ihn dieselbe Bitte gerichtet. Und der antwortet so, wie man es damals von einem Sohn erwarten konnte: Ja, Herr! – So redet der Sohn den Vater an. Respekt zeigt dieser Sohn gegenüber seinem Vater, zumindest nach außen hin. Denn trotz der positiven Antwort taucht dieser zweite Sohn am Ende eben doch nicht im Weinberg auf, um zu tun, wozu ihn der Vater aufgefordert hatte. Damit endet das Gleichnis. Und daraufhin stellt Jesus nun eine Frage, die, wie gesagt, beim ersten Hinhören wie eine Schubladenfrage klingt: Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Die Antwort, die uns einleuchtet, ist diejenige, die auch in unserer Lutherbibel steht: „Sie antworteten: Der erste“, also der, der erst Nein gesagt hat und dann schließlich doch gekommen ist. Doch vermutlich hatte der Evangelist St. Matthäus ursprünglich genau die gegenteilige Antwort überliefert, denn die leuchtete den Leuten damals sehr viel mehr ein: Es galt damals zur Zeit Jesu als nicht so schlimm, auf die Bitte einer höher gestellten Person mit „Ja“ zu antworten, sie aber dann nicht zu erfüllen, als dem Bittsteller ein offenes „Nein“ ins Gesicht zu sagen. Das galt als eine geradezu unverzeihliche Beleidigung, die auch nicht dadurch wiedergutgemacht werden konnte, dass man der Erfüllung der Bitte später doch noch nachkam. „Der letzte“, also der, der Ja gesagt hat, ist also wohl die Antwort der Zuhörer Jesu auf seine Frage gewesen – eine Antwort, die zugegebenermaßen nicht nur unsere Vorstellungen, sondern auch die Vorstellungen späterer Abschreiber der Heiligen Schrift ganz schön durcheinandergebracht hat. Doch Jesus bestätigt nun seine Zuhörer gerade nicht, sondern gibt eine Antwort, die in gewisser Weise seine eigene Schubladenfrage noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt: Keiner von den beiden hat den Willen des Vaters letztlich ganz getan; es gibt nur einen Unterschied: ob Menschen dies selber erkennen und entsprechend umkehren oder nicht.

Und mit dieser Antwort Jesu wird die Geschichte nun auch für uns noch einmal ganz spannend, für uns, die wir so gerne Menschen in Schubladen stecken und sie dort gut aufgehoben glauben. Dreierlei macht uns Jesus hier deutlich:
- Verlasst euch nicht auf das Ja von Menschen!
- Verlasst euch nicht auf das Nein von Menschen!
- Verlasst euch allein auf Gottes Urteil!

I.
Dass Menschen zu Gott und seiner Einladung Ja sagen, das haben wir hier in unserer Gemeinde in den vergangenen Jahren immer wieder hören und erleben können: Wollt ihr durch die Gnade Gottes in diesem Glauben bleiben und wachsen, wollt ihr euch darum zu den Gottesdiensten und Sakramenten der lutherischen Kirche halten, so wurden Hunderte von Menschen in den letzten Jahren bei uns gefragt, und die Antwort war immer die gleiche: Ja, durch Gottes Gnade, ja, mit Gottes Hilfe. Ich gehe davon aus, dass die allermeisten, die diese Frage so beantwortet haben, es zum Zeitpunkt der Antwort auch wirklich ehrlich meinten. Auch von dem Sohn, der in dem Gleichnis Jesu mit „Ja“ antwortet, wird mit keiner Silbe berichtet, dass er von vornherein eigentlich keinen Bock auf Arbeit hatte und nur mit Ja geantwortet hat, um den Alten irgendwie ruhig zu stellen. Er mag es mit seiner Antwort durchaus ehrlich gemeint haben – aber das ändert nichts daran, dass er schließlich doch nicht im Weinberg aufkreuzt. Auch Konfirmanden mögen es bei ihrer Konfirmation ganz ehrlich meinen – und doch erleben wir es auch in unserer Gemeinde immer wieder, dass Menschen, die „Ja, Herr“ gesagt haben, am Ende doch nicht im Weinberg Gottes, in seiner Kirche auftauchen, dass auf ihr Ja kein Verlass war. Das ist enttäuschend, erst recht, wenn man auf so manchen große Hoffnungen gesetzt hatte, geglaubt hatte, er oder sie würde es nun wirklich ehrlich meinen, habe nun ja wohl doch auf jeden Fall kapiert, worum es im Glauben an Christus geht.

Und doch sollen wir nun ja nicht anfangen, wieder auf unsere Weise unsere Schubladen zu öffnen und zu füllen: Aha, das sind sie also, diejenigen, die es mit ihrem Ja zu Gott nicht ernst meinen, die es vielleicht nie ernst gemeint haben. Nein, was Jesus uns hier schildert, soll uns selber erschrecken lassen: Wie oft haben wir Gott in der Beichte schon Besserung versprochen, haben es damit vielleicht auch ganz ernst gemeint – und wie oft haben wir dann doch nicht getan, was er, der Herr, von uns erwartet hatte und auch erwarten konnte! Wie oft war auch auf unser Ja in Fragen des Glaubens und Bekennens kein Verlass! Nein, wenn wir Menschen, uns selber eingeschlossen, nur nach ihren Versprechen oder auch nach ihrem guten Willen beurteilen, dann greifen wir immer wieder ganz fürchterlich daneben, sind Enttäuschungen auch bei uns vorprogrammiert – von Gott einmal ganz zu schweigen!

II.
Das andere kennen wir aber eben auch: Dass Menschen zu Gott und seiner Einladung „Nein“ sagen. Auch dieses „Nein“ kennen wir in unterschiedlichen Varianten: Da gibt es Menschen, die in ihrem Leben vielleicht niemals so richtig mit der christlichen Botschaft erreicht wurden, die zwar getauft, vielleicht auch konfirmiert wurden, die aber zu all dem eigentlich nie einen Bezug hatten und bei jedem Versuch, sie anzusprechen, ganz deutlich signalisieren: Ich will von Gott und dem Glauben an ihn eigentlich gar nichts wissen. Da gibt es andere, die vielleicht früher sogar einmal ganz ernsthaft mit dabei waren in der Kirche, in der Gemeinde, und die dann irgendwann einmal angefangen haben, Nein zu sagen, von all dem nichts mehr wissen wollten und wollen und an die man jetzt gar nicht mehr heranzukommen scheint. Und da gibt es diejenigen, die einfach mit ihrem ganzen Lebensstil sehr deutlich machen, dass ihnen Gott und der Glaube an ihn völlig egal ist, die ein Leben führen, das mit christlichen Maßstäben nicht zu vereinbaren ist, und selber auch gar nicht auf die Idee kommen, dies zu behaupten. Das „Nein“, das sie mit ihren Worten und mit ihrem Leben sprechen, tut uns oftmals weh, weil uns an diesen Menschen liegt, weil wir uns wünschen würden, dass ihre Antwort auf die Einladung des Vaters anders ausfallen würde. Doch ihr „Nein“ scheint so endgültig festzustehen, dass wir bewusst oder unbewusst doch anfangen, diese Neinsager auch bei uns in bestimmten Schubladen einzuordnen: Der findet nie mehr den Weg zu Gott, der ist so weit weg vom Glauben, den kann man vergessen. Da lohnt es sich erst gar nicht mehr, darauf zu warten, dass sich bei dem, dass sich bei der noch etwas ändert. Neinsager, Neinsagerinnen sind sie – damit muss man sich eben abfinden.

Schwestern und Brüder, ich muss bekennen, dass ich selber innerlich auch immer wieder solche Einordnungen in Schubladen vorgenommen habe und auch weiter vornehme. Und ich muss zugleich bekennen, dass ich immer wieder dabei beschämt worden bin – beschämt dadurch, dass Neinsager schließlich doch im Weinberg Gottes auftauchten und auftauchen, die ich schon längst ganz abgeschrieben hatte. Das habe ich schon erlebt, dass Jugendliche sich am Ende des Konfirmandenunterrichts nicht konfirmieren ließen, aber anschließend doch immer wieder in der Kirche auftauchten, während andere eine glänzende Konfirmandenprüfung hinlegten und sich nach der Konfirmation nicht mehr in der Kirche blicken ließen. Das habe ich schon erlebt, dass Menschen jahrzehntelang nichts von Christus und der Kirche wissen wollten und dann doch wieder zurückkamen. Das habe ich schon erlebt, dass Menschen, über die ich leichtfertig in meinem Inneren ein Urteil gesprochen hatte, schließlich doch viel mehr an Christus und der Kirche interessiert waren, als ich dies je für möglich gehalten hätte. Ganz vorsichtig geworden bin ich von daher, Menschen abzuschreiben, sie vielleicht gar von mir aus aus der Gemeinde auszuschließen, weil sie da als Neinsager ja gar nicht oder nicht mehr hineingehören. Es mag sehr wohl sein, dass wir mit unserem Ordnungsfimmel nachher genau die falschen in unsere Schubladen einordnen!

III.
Jesus führt die Geschichte jedenfalls anders zu Ende, als wir dies zunächst einmal vermuten mögen: Er fordert seine Zuhörer, fordert auch uns nicht dazu auf, nun endlich ein anständiges Leben zu führen, endlich zu tun, was Gott von uns erwartet, damit wenigstens wir selber klar und eindeutig in die richtige Schublade passen: in die Schublade derer, die zu Gott und seinem Wort Ja sagen und es dann auch tun. Stattdessen führt er hier einen ganz anderen Maßstab ein: Entscheidend ist nicht, wie wir Menschen über andere Menschen, und seien es auch andere Gemeindeglieder, urteilen. Entscheidend ist einzig und allein, wie Gott uns und andere Menschen sieht. Und der sagt zunächst einmal zu jedem, der durch die Taufe zu ihm, zu seiner Familie gehört: Mein Sohn, meine Tochter, mein Kind. Was auch immer die beiden Söhne sagen und tun: Sie bleiben Söhne, sie bleiben Kinder des Vaters, müssen sich ihre Kindschaft weder mit ihren Worten noch mit ihrem Tun verdienen. Und dieser Vater ruft alle seine Kinder ohne Ausnahme in seinen Weinberg, dorthin, wo er auch selber zu finden ist, möchte nur dies eine, dass seine Kinder erkennen, dass es keine Strafe, keine Belastung ist, dorthin zu kommen, sondern dass es gut für einen jeden ist, der dieser Einladung, der dieser Aufforderung folgt. Und darum bestraft er hier auch keines seiner Kinder, wartet nur darauf, dass sie umkehren zu ihm, dass sie ihm und seinen Boten glauben, dass es das beste für sie ist, seinem Wort, seiner Einladung zu folgen.

Eben so sollen wir also einen jeden Menschen, ganz gleich, ob er nun in unserer Gemeinde ist oder nicht, ansehen und beurteilen: als einen, der von Gott eingeladen ist, für immer in seiner Gemeinschaft zu leben. Keinem Menschen sollen wir absprechen, dass Gottes Einladung, dass Gottes Liebe auch ihm gilt, von niemandes Verhalten sollen wir uns abschrecken lassen und unser voreiliges Urteil fällen, während Gott immer noch wartet, sollen lieber vor unserer eigenen Inkonsequenz erschrecken, als uns moralisch über das Verhalten anderer zu entrüsten. Beim großen Einmarsch in den Himmel am Ende der Zeit werden wir, Gott geb’s, hinter Prostituierten und Finanzbetrügern hergehen dürfen, werden wir einmal froh sein dürfen, mit ihnen den Himmel teilen zu dürfen. Oder, um es mit Martin Luther zu formulieren: „Es fahren mehr Christen vom Galgen gen Himmel als vom Kirchhof.“ Denn am Ende zählt nicht, wie wir Menschen einander beurteilt haben, am Ende zählt nur Gottes Urteil über uns. Und Gott geb’s, dass wir uns immer wieder dort einfinden, wo Gott uns sein letztes Urteil über uns und unser Leben jetzt schon zuspricht: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Amen.