17.07.2011 | 1. Mose 50,15-21 | 4. Sonntag nach Trinitatis

In letzter Zeit gibt es hier in Zehlendorf immer wieder einmal einen Bombenalarm: Wiederholt sind in den vergangenen Monaten bei Bauarbeiten Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden worden, die immer noch eine Gefahr darstellen und darum ganz vorsichtig entschärft werden müssen. Eine ungeheure Sprengkraft haben diese Bomben bis heute, und so müssen vor Beginn der Entschärfung die Häuser zumeist im Umkreis von mehreren hundert Metern geräumt werden. Eigentlich ist das ja unfasslich, dass mehr als 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Bomben dieses Krieges uns immer noch bedrohen, immer noch verborgen an vielen Stellen im Untergrund ticken und immer noch jederzeit hochgehen können.

Doch tickende Bomben liegen nicht bloß einige Meter unterhalb des Zehlendorfer Erdbodens; tickende Bomben gibt es auch an vielen Stellen im Zusammenleben von Menschen: Da ist es vielleicht auch schon viele Jahre her, dass ein Mensch an einem anderen Menschen, an einem anderen Familienmitglied vielleicht oder möglicherweise auch an der ganzen Familie schuldig geworden ist. Für den oder die Betroffenen hatte das vielleicht ernste Konsequenzen; aber richtig ausgesprochen wurde das alles nie, oder zumindest wurde seit langer Zeit nicht mehr darüber geredet. Und so tickt die Bombe immer weiter vor sich hin. Es mag sein, dass sie von allen Beteiligten ziemlich weit unter der Oberfläche verbuddelt worden ist, sodass man sie eigentlich gar nicht mehr wahrnehmen kann. Vielleicht haben alle Beteiligten sie zwischendurch sogar vergessen. Aber irgendwann kommt die ganze Geschichte dann doch wieder hoch, oftmals beispielsweise bei einem Todesfall in der Familie; da kann man dann nur darüber staunen, was für eine Sprengkraft solche Bomben auch nach vielen Jahren immer noch haben. Doch mitunter liegen diese tickenden Bomben auch gar nicht unter der Oberfläche, sondern liegen tagtäglich auf dem Küchentisch oder im Vorgarten, belasten das Zusammenleben derer, die das Ticken dieser Bombe bemerken, ganz unmittelbar. Und doch traut sich keiner an diese tickende Bombe heran, ist man eher bereit, mit dieser Bombe zu leben, als sich an die Beseitigung dieser Bombe zu machen.

Genau solch eine Geschichte wird uns auch in der alttestamentlichen Lesung dieses Vierten Sonntags nach Trinitatis erzählt. Viele Jahre war es nun schon her, da hatten sich die Söhne Jakobs an ihrem kleinen Bruder Josef grausam dafür gerächt, dass der von seinem Vater immer bevorzugt worden war, damit auch noch angegeben hatte und sich dazu auch noch als Petze bei seinem Vater betätigt hatte: Umbringen wollten sie ihn, hatten sich dann aber im letzten Moment doch dafür entschieden, ihn als Sklaven nach Ägypten zu verkaufen. Schweres musste Josef dort durchmachen, landete schließlich unschuldig im Gefängnis, bevor er dann am Ende doch auf wunderbare Weise eine Traumkarriere machte und bis zum ägyptischen Vizekönig emporstieg. Weder er noch seine Brüder hatten damit gerechnet, dass sie sich in ihrem Leben noch einmal begegnen würden. Doch dann stehen eines Tages die Brüder Josefs wieder vor ihm, ohne dass sie ihn als ihren Bruder erkennen: Eine Hungersnot hat sie dazu veranlasst, nach Ägypten zu kommen, um dort Korn zu kaufen, das man in Ägypten auf Josefs Rat hin in den Jahren zuvor in großen Mengen eingelagert hatte. Josef jagt seinen Brüdern, die ihn nicht erkennen, zunächst einmal einen großen Schreck ein, lässt sie ein wenig von der Angst erfahren, die er selber damals durchgemacht hat, ja, stellt sie auf die Probe, ob sie wohl noch einmal einen aus dem Bruderkreis preisgeben und fallenlassen wie ihn damals. Doch am Ende gibt er sich ihnen zu erkennen, verzichtet darauf, sich an den Brüdern zu rächen, lädt sie im Gegenteil dazu ein, gemeinsam mit ihrem Vater nach Ägypten zu ziehen, wo er sie besser versorgen konnte.

Ende gut – alles gut? So einfach geht die Geschichte am Schluss des 1. Mosebuches nicht zu Ende. Eindrücklich wird uns hier in unserer Predigtlesung geschildert, was für eine Langzeitwirkung Schuld haben kann, wie die Bombe immer noch weiterticken kann, selbst wenn sie scheinbar doch längst entschärft war: Da stirbt der alte Vater Jakob schließlich in Ägypten – und schon bricht bei den Brüdern Josefs wieder die Angst auf: Vielleicht hat Josef sich mit seiner Rache an ihnen nur mit Rücksicht auf seinen Vater zurückgehalten. Doch jetzt, wo er tot ist, sind wir dran; jetzt wird uns schließlich doch noch einholen, was wir ihm damals angetan haben!

In der Geschichte, die uns hier erzählt wird, gelingt schließlich die dauerhafte Entschärfung der Bombe; und so erweist sich diese alte Geschichte in Wirklichkeit auch für uns als hochaktuell. Denn das soll es ja allen Ernstes auch immer wieder unter Christenmenschen geben, dass da noch solche Bomben in ihrem Leben ticken, dass Schuld und Versagen das Zusammenleben auch von Christen belasten, dass Versöhnung immer noch aussteht und letztlich keiner der Beteiligten dazu bereit ist, sich auf diesen Weg der Versöhnung zu begeben. Ja, eine Mutmachgeschichte wird uns hier in der alttestamentlichen Lesung erzählt, ohne jeden moralischen Zeigefinger, dafür ganz dicht dran auch an unserer Lebenserfahrung. Und so wollen wir uns diese Geschichte nun noch einmal genauer anschauen:
Da stehen sie sich also gegenüber – Täter und Opfer. Beziehungsweise erst einmal stehen sie sich gerade nicht direkt gegenüber. Die Brüder Josefs haben solch eine Angst vor ihm, dass sie sich nicht selber trauen, ihm unter die Augen zu treten, sondern ihm erst einmal durch einen Dritten eine Nachricht zukommen lassen. Ganz deutlich wird daran noch einmal, was für eine zerstörerische Kraft menschliche Schuld hat, wie sie dazu in der Lage ist, Verbindungen zwischen Menschen zu zerstören, dass sie einander nicht mehr anzuschauen vermögen. Ich vermute einmal, dass das die meisten von euch auch aus dem eigenen Leben kennen, dass man manchen Menschen einfach nicht unter die Augen treten möchte, sei es, weil man an ihnen schuldig geworden ist, sei es, dass sie an einem schuldig geworden sind. Und ich vermute mal, dass ihr auch schon erfahren habt, wie belastend so etwas sein kann, erst recht, wenn diese Störung der Kommunikation über eine längere Zeit anhält.

Doch in der Geschichte, die uns hier erzählt wird, belassen es die Brüder Josefs nicht beim Abbruch der Kommunikation. Gewiss, in ihrem Fall mag der Leidensdruck besonders groß gewesen sein, weil sie Josef in ihrer Lage letztlich völlig hilflos ausgeliefert waren. Doch was sie machen, ist auch ganz grundsätzlich von Bedeutung:
Sie schalten zunächst einmal jemand Dritten ein: Wenn man es nicht allein schafft, wieder miteinander an einen Tisch zu kommen, dann ist es gut, wenn man jemand Anderen ansprechen kann, der die Kommunikation wieder in Gang bringt, der ein Gespräch wieder ermöglicht. Ach, wie viele tickende Bomben in Ehen und Familien, auch in Kirche und Gemeinde, ließen sich schon allein dadurch viel einfacher entschärfen, dass die Betroffenen dazu bereit wären, die Vermittlungsdienste eines Dritten anzunehmen, statt in ihren Positionen regungslos auszuharren!

Und dann machen die Brüder etwas scheinbar so Einfaches und in Wirklichkeit doch so Schwieriges: Sie sprechen, wenn auch zunächst vermittelt durch einen Boten, ihre Schuld gegenüber ihrem Opfer aus und bitten es um Vergebung. Wir wissen, wie schwer wir uns oftmals mit diesem kleinen und doch so entscheidenden Schritt tun. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass bei uns oftmals die Rollen nicht so einfach verteilt sind wie hier in dieser Geschichte: Wir erfahren es in unserem Leben oftmals eher so, dass da auf beiden Seiten Schuld vorhanden ist und wir uns von daher immer erst einmal lieber als Opfer denn als Täter ansehen: Soll doch erst einmal der andere kommen und sich entschuldigen – dann bin ich dazu vielleicht auch bereit! Doch ganz so einfach lagen die Dinge bei Josef und seinen Brüdern damals ja auch nicht: Der Josef war ja ein Angeber und eine Petze gewesen; die Brüder hatten ihn ja nicht bloß aus heiterem Himmel so mies behandelt, sondern weil sie menschlich verständlich sauer auf ihn gewesen waren, auch wenn sie mit ihrer Gegenmaßnahme den Bogen natürlich weit überspannt hatten. Doch die Brüder Josefs versuchen nicht, sich nun doch irgendwie zu verteidigen, doch noch irgendwie schönzureden, was sie getan haben. Im Gegenteil: Sie reden Klartext, sprechen von Missetat, von Übel, von Sünde. Sie schweigen nicht, sondern fangen an zu sprechen. Und gerade so wird schließlich Versöhnung möglich.

Möglich wird diese Versöhnung aber auch noch aus einem anderen Grund: „Vergib doch die Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ – so formulieren die Brüder ihre Bitte. Sie verweisen also auf den gemeinsamen Glauben, den sie nicht nur mit ihrem Vater, sondern damit eben auch mit Josef teilen. Vergebung soll und kann dadurch möglich werden, dass man sich gemeinsam auf Gott bezieht, sich vor ihm verantwortlich weiß, vor ihm, auf dessen Erbarmen alle miteinander unterschiedslos angewiesen sind.

Eine Mutmachgeschichte wird uns hier erzählt, jawohl. Mut machen will sie auch uns, nicht länger damit zu warten, Schuld auszusprechen, dort, wo sie zwischen uns und anderen Menschen steht, Schuld auszusprechen – nicht so, dass wir von der Schuld der anderen, sondern dass wir von unserer eigenen Schuld reden, selbst wenn wir noch so viele gute Gründe haben, eigentlich auch von der Schuld der anderen reden zu können. Ja, das können wir doch gerade als Christen, weil wir doch vor Gott stehen, weil uns vor ihm doch ohnehin nichts Anderes übrig bleibt, als immer wieder rückhaltlos unsere ganze Schuld einzugestehen. Wenn wir das vor Gott immer wieder einüben – dann sollte es uns doch auch möglich sein, genau dies auch gegenüber anderen Menschen auszusprechen. Und erst recht sollte uns das doch möglich sein, wenn auch unser Gegenüber selber Christ ist, wenn wir uns gemeinsam auf unseren Glauben an Gott berufen können, der seinen Sohn zur Vergebung all unserer Schuld für uns hat am Kreuz sterben lassen und der uns den Leib und das Blut seines Sohnes immer wieder austeilen lässt zur Vergebung aller unserer Sünden – rückhaltlos, ohne Ausnahme.

Und dann ist da noch der Josef, der Geschädigte, das Opfer. Bewegend ist es, wie er auf die Bitte der Brüder eingeht: Er weint zunächst einmal, weint darüber, wie Schuld Menschen verbiegt, knechtet und ängstigt, weint darüber, wie Schuld Menschen doch immer wieder zu quälen beginnt, obwohl sie doch eigentlich schon längst bereinigt war. Und dann redet er Klartext: Er ist doch nicht der Richter; er hat nicht das Recht dazu, seine Brüder wegen ihrer Schuld anzuklagen und zu verdammen. Dieses Recht hat Gott allein – und der hat in Wirklichkeit ganz anders gehandelt: Der hat aus dem Bösen, was die Brüder Josef angetan haben, Gutes entstehen lassen. Ja, hätten die Brüder damals nicht Josef als Sklaven nach Ägypten verkauft, dann wären sie später in der Zeit der Hungersnot wohl alle miteinander, Josef und seinen Vater eingeschlossen, umgekommen. Doch Gott hat es anders gefügt, hat das Böse genutzt, um Gutes zu wirken. Wie sollte Josef sich da noch an den Brüdern rächen wollen, wo Gott ihm doch längst gezeigt hat, wie er Böses in Gutes gewandelt hat? Da kann Josef doch gar nicht anders, als nun auch selber Gutes zu tun, die Brüder zu versorgen und sie zu trösten.

Genau in dieser Situation, Schwestern und Brüder, stehen auch wir heute immer wieder, wenn wir von anderen um Vergebung gebeten werden für das, was uns möglicherweise angetan worden ist. Da blicken auch wir zurück auf eine Geschichte, in der Gott aus noch viel Böserem noch unendlich Besseres hat entstehen lassen, uns zugut: Abgrundtief böse war es, ihn, den einen Sohn des Vaters, nicht bloß in einen Brunnen zu werfen oder als Sklaven zu verkaufen, sondern ihn ans Kreuz nageln zu lassen, ihn in der Tat zu töten ohne Erbarmen. Doch aus diesem Bösen hat Gott unendlich Gutes entstehen lassen: Heil und ewiges Leben für alle, die sich an diesen Sohn halten und ihre Schuld und ihr Versagen bei ihm aufgehoben wissen. Gott gedachte es gut zu machen – daraus leben wir als Christen ganz und gar. Wie sollten wir da anderen Menschen noch nachtragen, was Gott durch den Tod seines Sohnes längst wiedergutgemacht hat? Wie sollten wir uns da an Gottes Stelle setzen und verdammen, wo er zur Vergebung bereit ist?

Nicht wir müssen uns als Sprengmeister betätigen und versuchen, den Zünder aus den tickenden Bomben zu ziehen, die unser Zusammenleben mit anderen Menschen belasten. Wir dürfen ihn, Christus, heranlassen, im dankbaren Gedenken daran, dass ihn die Entschärfung dieser Bomben tatsächlich das Leben gekostet hat, damit wir leben können, versöhnt leben können, versöhnt mit Gott und mit anderen Menschen. Was für ein Trost, den wir weiterreichen dürfen – viel besser noch als Josefs Trost! Amen.