10.04.2011 | 1. Mose 22,1-13 | Judika

„Lieber Gott, ich möchte mit einem Fluch beginnen, oder mit einer Beschimpfung, die mir bald Erleichterung brächte. Eine Art innerer Explosion müsste es werden, die dich zerfetzte.“ – So beginnt das Buch „Gottesvergiftung“ des Psychoanalytikers Tilmann Moser, in dem dieser, bezeichnenderweise in Gebetsform, mit der religiösen Prägung seiner Kindheit und Jugend abrechnet, mit dem Gottesbild, das ihm dort vermittelt worden ist. „Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war“, so lautet das Motto, das er seinem Buch voranstellt. Und natürlich kommt er in diesem Buch auch auf die Geschichte von Isaaks Opferung zu sprechen, führt sie als Beleg dafür an, mit was für einem Gottesglauben er in frühen Jahren gequält worden sei. Ich zitiere aus Mosers zornigem Gebet zu Gott: „Es gab Jahre, wo ich dir mein Leben weihen wollte, wo zwischen dir und mir verhandelt wurde über einen Erwählungsvertrag. Du hast schon ganz früh mit meinem Größenwahn gespielt, ihn genährt, ihn an geheiligten Vorbildern gesteigert, die mir in deinem Namen vor Augen gehalten wurden. Ich habe dir so schreckliche Opfer gebracht an Fröhlichkeit, Freude an mir und anderen, und der Lohn war, neben der Steigerung des Erwähltheitsgefühls, oder dem Kampf darum, ein Quäntchen Geliebtsein vielleicht, vielleicht ein Quäntchen weniger Verdammnis.“
 
Schwestern und Brüder: Wir möchten Tilmann Moser so gerne widersprechen, versuchen, ihm deutlich zu machen, dass das alles doch nur ein Missverständnis ist, Folge einer falschen religiösen Erziehung, möchten ihm zeigen, dass Gott in Wirklichkeit doch ganz anders ist, als er ihn kennengelernt und erfahren hat. Doch da kommt uns nun die alttestamentliche Lesung dieses Sonntags in die Quere, diese erschreckende, ja geradezu scheußliche Geschichte, in der ein Mensch von Gott dazu aufgefordert wird, das Liebste, was er hat, ihm, Gott, zu opfern. Ja, was ist das für ein Gott, der so etwas von einem Menschen verlangt? Ja, muss der Glaube an solch einen Gott nicht Menschen krank machen? Ja, mehr noch: Kann man an solch einen Gott überhaupt glauben, sollte man sich ihm nicht im Gegenteil im Unterschied zu Abraham ganz bewusst verweigern, statt in jenes mehr als fragliche Lied aus einem frommen Kinderliederbuch einzustimmen: „Lass mich an dich glauben, wie Abraham es tat, was kann dem geschehen, der solchen Glauben hat? Seinen Sohn führt er zum Brandaltar, zu opfern ihn, wie’s ihm von Gott befohlen war. Lass mich an dich glauben, wie Abraham es tat!“?

Brüder und Schwestern: Wir tun jedenfalls gut daran, uns die Geschichte, die uns hier im Ersten Mosebuch berichtet wird, noch einmal etwas genauer anzuschauen.
Eine dramatische Geschichte wird uns hier vor Augen gestellt – und doch wird in ihr auf jegliche Art von Psychologisierung, auf jegliche Schilderung von Emotionen verzichtet. Nur das Allernötigste wird uns berichtet: Wir erfahren nicht, ob Sara wusste, was Abraham mit ihrem Sohn vorhatte, wir erfahren nicht, was Abraham gefühlt hatte, als er von Gott diesen unfassbaren Auftrag erhielt, was er fühlte, als er mit Isaak Schritt für Schritt dem Berg im Lande Morija entgegenging. Ja, auch davon, wie Isaak auf das Ansinnen seines Vaters reagierte, ihn auf dem Opferaltar festzubinden, um ihn abzuschlachten, erfahren wir nichts. Ganz nüchtern werden uns einfach die Geschehnisse als solche geschildert, und doch geht uns gerade so die Erzählung in ganz besonderer Weise unter die Haut:
Da hört Abraham eines Tages eine ihm bereits vertraute Stimme. Es ist dieselbe Stimme, die ihn einst dazu aufforderte, aus seinem Vaterhaus in der Stadt Haran in ein unbekanntes Land zu ziehen, dieselbe Stimme, die ihm eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am nächtlichen Himmel, versprochen hatte: Gott ruft Abraham, ruft ihn bei seinem Namen: „Abraham!“ Und Abraham meldet sich umgehend zur Stelle: „Hier bin ich!“ Doch was er dann zu hören bekommt, ist so unfasslich, klingt so grausam, dass dem Abraham gewiss der Atem gestockt haben wird, als er diesen Befehl vernahm: „Nimm Isaak“, sagt Gott zu Abraham, „ja, nimm ihn, deinen einzigen Sohn, ja, deinen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija“ – und dann kommt der Hammer: „und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde!“ Gott verlangt von Abraham ein Menschenopfer, nein, nicht das Opfer eines beliebigen Menschen – das wäre schon unfasslich und abstoßend genug! –, sondern er verlangt von Abraham, seinen eigenen Sohn abzuschlachten, ihn, an dem doch das ganze Versprechen hing, das Gott ihm, dem Abraham, gegeben hatte, ihn, an dem doch zugleich das Herz des Vaters hing, weil er der einzige, geliebte Sohn war! Gott nimmt dem Abraham seine gesamte Zukunftsperspektive, bohrt dabei gleichsam im Herzen des Abraham herum, muss dem Abraham in diesem Augenblick wie eine furchtbare Fratze erscheinen.

Doch was macht Abraham? Er diskutiert nicht mit Gott, er verhandelt nicht mit ihm, er verweigert sich erst recht nicht dem, was Gott ihm befohlen hat. Sondern ganz nüchtern berichtet der Erzähler die einzige Reaktion Abrahams: Er steht früh am Morgen auf, bereitet seinen Esel für die Reise vor, spaltet Holz für das Brandopfer, nimmt zwei seiner Knechte mit sich und den ahnungslosen Isaak. Nichts von dem, was an den beiden folgenden Tagen geschieht und gesprochen wird, wird uns im Weiteren berichtet. Wir ahnen, wie quälend lang der Weg für Abraham gewesen sein muss; doch erzählt wird uns davon nichts. Die Erzählung setzt erst wieder am dritten Tag ein: Da sieht Abraham den Berg, auf dem er Isaak opfern soll, vor sich liegen. Daraufhin lässt er die Knechte und den Esel zurück und verabschiedet sich von ihnen mit einer erstaunlichen Bemerkung: „Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.“ Ja, was redet der Abraham da: Wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen – ist das eine Notlüge, die Abraham hier gebraucht? Oder bricht sich in diesem Satz eine verzweifelte Hoffnung Bahn, dass Gott ihm am Ende doch noch einen Ausweg aus diesem scheinbaren Irrsinn weisen könnte? Oder hielt Abraham einfach so fest an Gottes Versprechen, ihm eine große Nachkommenschaft zu bescheren, dass er dieses Vertrauen auf Gottes Versprechen gleichsam gegen Gottes eigenen Befehl setzte? Vielleicht schwingt in der Ankündigung des Abraham von allem ein wenig mit. Mehr erfahren wir auch nicht, als eben dies, dass Abraham nun die letzte Etappe seines Weges vorbereitet. Je näher sie dem Ziel ihrer Reise kommen, desto mehr verlangsamt sich gleichsam das Erzähltempo, wird geradezu quälend langsam. Genau schildert der Erzähler, wie Abraham nun das Holz für das Brandopfer vom Esel nimmt und es seinem Sohn auf den Rücken packt. Und dann schildert er auch noch, wie Abraham das Feuer für das Brandopfer und das Schlachtmesser, von dem bisher noch nicht die Rede war, in seine Hand nimmt. Und dann – „gingen die beiden miteinander“, so stellt es der Erzähler lapidar fest. Mehr sagt er nicht, und doch mag es uns bei dieser knappen Aussage schon kalt den Rücken herunterlaufen: Abraham geht neben seinem Sohn her, kommt Schritt für Schritt dem Ort des Opfers näher. Stumm erscheint Abraham nun auf diesem Weg, bis die Stille schließlich von dem jungen Isaak durchbrochen wird: „Mein Vater!“ – So redet er Abraham an, und schon allein diese Anrede trifft den Abraham an seinem wundesten Punkt: Noch hat er einen Sohn, der ihn als Vater anredet – doch wie lange noch? „Hier bin ich, mein Sohn“, antwortet Abraham. Und Isaak fährt fort mit der so naheliegenden Frage, die Abraham schon befürchtet haben dürfte: „Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?“ Was soll Abraham darauf antworten? Nein, er gibt nicht preis, was Gott ihm befohlen hatte, antwortet wieder mit dieser Mischung von verzweifelter Hoffnung und Vertrauen auf das scheinbar doch Unmögliche: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Ein paar Worte, ohne weitere Erklärung. Dann schweigt Abraham wieder. „Und gingen die beiden miteinander.“ Ja, was ist das für ein Gott, der den Abraham so etwas durchmachen lässt?

Und dann geht die Erzählung allmählich immer mehr in die Zeitlupe über: Vater und Sohn kommen an der Opferstätte an, Abraham baut einen Altar, nimmt das Holz vom Rücken seines Sohnes und legt es auf den Altar, nimmt seinen Sohn Isaak, bindet ihm die Hände hinter seinem Rücken fest, legt ihn auf den Altar, oben auf das Holz, reckt seine Hand aus, umfasst noch einmal das Messer in seiner Hand, um es in den Leib seines Sohnes zu stoßen und ihn damit zu schlachten. Und da, in der wirklich allerletzten Sekunde, greift Gott nun ein, ruft Abraham erneut bei seinem Namen, nun gleich doppelt, um ihn von eben dem abzuhalten, was zu tun er ihm zuvor befohlen hatte: „Lege eine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Gott weiß nun mehr, weiß nun, wie weit der Gehorsam Abrahams reicht, wie weit auch sein Vertrauen, das Abraham ihm entgegenbringt – so weit, dass er tatsächlich zur Opferung seines eigenen Sohnes bereit ist.

Ja, was ist das für ein Gott, der dem Abraham so etwas zumutet, ja, der es, so hat man den Eindruck, selber nötig hat, solch einen Test bei Abraham durchzuführen, damit er nun über ihn endlich Bescheid weiß?

Was ist das für ein Gott? Wir erfahren am Ende der Geschichte zunächst einmal, dass dieser Gott vorgesorgt hat: Es bleibt bei dem befohlenen Opfer; nur das Lebewesen, das geopfert wird, wird ausgewechselt: Ein Widder hängt schon bereit in der Hecke und wird von Abraham geopfert an seines Sohnes statt.

Ja, was ist das für ein Gott? – So fragen wir mit Recht, mögen erschrocken, ja abgestoßen sein von dem, was uns hier in der Bibel von Gott berichtet wird. Und doch, Schwestern und Brüder, ist es gut und wichtig, dass gerade auch diese Geschichte in der Heiligen Schrift zu finden ist. Denn sie schildert eine Erfahrung, die eben nicht nur der Abraham damals mit Gott gemacht hat, sondern die Menschen immer wieder mit Gott machen, Erfahrungen, die Menschen immer wieder von neuem die Frage stellen lassen: Was ist das für ein Gott?

Ja, das gibt es, dass Gott auch heute noch von Menschen das Allerliebste fordert. Nein, er wartet nicht darauf, dass wir es ihm opfern – er nimmt es sich einfach selbst: das geliebte Kind, den geliebten Ehepartner, die Gesundheit, die Lebensperspektive. Wer so etwas selber erfahren hat, der wird den Abraham gut verstehen können, wie der gegen alle Vernunft und alle Erfahrung verzweifelt hofft, dass Gott selber alles doch noch zum Guten wenden möge. Abraham hat das tatsächlich am Ende erfahren. Doch solch ein happy end, wenn man denn davon nach all dem, was Abraham zuvor hatte durchmachen müssen, überhaupt noch sprechen will, doch solch ein happy end bleibt vielen anderen Menschen verwehrt: Die mussten schließlich ohne das geliebte Kind, ohne den geliebten Ehepartner in ihren Alltag zurückkehren, ohne Gesundheit, ohne die Lebensperspektive, die doch so felsenfest Bestand zu haben schien. Ja, das sind Erfahrungen mit Gott, die es uns geradezu unmöglich machen, von uns aus immer noch am Glauben an ihn festzuhalten, Erfahrungen, die uns Gott so fremd erscheinen lassen, dass es uns schwerfällt, diesen Gott noch als Vater anzureden. Dunkel, verborgen ist dieser Gott, rätselhaft in seinem Handeln und in seinem Ratschluss, ein Gott, vor dem man nur erschrecken, ja angesichts dessen man am Ende doch nur schweigen kann.
Ist das also das Ende dieser Predigt, dass wir angesichts dieses rätselhaften Gottes, der Menschen zum Verzicht auf das Allerliebste zwingt, nur schweigen können? Nein, Gott sei Dank: Diese Predigt geht noch weiter, muss noch weitergehen. Denn diese schauerliche Geschichte hat eine Fortsetzung erfahren, die all das, was wir bis jetzt gehört haben, noch einmal in einem neuen Licht erscheinen lässt:
Ja, schauerlich klingt zunächst auch die Fortsetzungsgeschichte: Wieder geht es um einen Vater, der seinen Sohn auf einem Hügel opfert, dem es dabei das Herz zerreißt und der sich am Ende doch von nichts und niemandem davon abhalten lässt, dieses Opfer darzubringen. Nein, er folgt dabei keinem Befehl von oben; er folgt dabei keinem anderen Antrieb als seiner Liebe, als seiner Liebe zu uns Menschen, für die er zu diesem Opfer bereit ist. Ja, Gott selber übernimmt die Rolle des Abraham, zieht los, reißt sich seinen eingeborenen Sohn vom Herzen, gibt ihn als Opfer dahin – nur damit wir Menschen ihn noch einmal ganz anders kennenlernen, ja, mehr noch: nur damit wir Menschen einmal in alle Ewigkeit werden erkennen dürfen, dass der Gott, an den wir glauben, eben doch kein Sadist, keine Fratze ist, sondern letztlich die Liebe in Person. Der Widder in der Hecke kündigt es schon an: Gott eröffnet uns die Möglichkeit der Stellvertretung: Der Widder stirbt an des Sohnes statt. Und in der Fortsetzungsgeschichte stirbt dann der Sohn an unserer statt, damit unser Lebensweg nicht in der Trennung von Gott, nicht im Dunkel der Verzweiflung zu enden braucht. Gott wechselt die Seiten, tritt auf die Seite des Opfers, tritt auf die Seite all derer, die an ihm, dem verborgenen Gott, zu zerbrechen drohen.

Was ist das also für ein Gott, an den wir glauben? Wenn wir an dem Bild Gottes, das unsere alltäglichen Erfahrungen von ihm entwerfen, irre zu werden drohen, wenn wir an den Gott, wie er sich unserer Erfahrung darstellt, einfach nicht glauben können, dann sollen und dürfen wir immer wieder hinfliehen zu ihm, dem gekreuzigten Christus. Er ist das letzte und entscheidende Bild Gottes, in ihm hat Gott selber sich im wahrsten Sinne des Wortes festnageln lassen – festnageln darauf, dass er schließlich nichts Anderes will als unser Heil, dass er nichts Anderes will, als in alle Ewigkeit gemeinsam mit uns zu leben.

Und wenn du Gott dann in deinem Leben doch wieder so gar nicht verstehen kannst, wenn das, was du von ihm erfährst, deinem Glauben an einen liebenden Gott doch wieder ganz zu widersprechen scheint? Dann mache es wie Abraham; dann halte dich an das Versprechen, das Gott dir gegeben hat, auch gegen allen Augenschein, auch gegen alle Erfahrung. Gott hat dir in deiner Taufe doch fest zugesagt, dass er dein liebender Vater ist und bleiben will, dass er dich in deinem Leben niemals fallen lassen will. Das gilt, das bleibt bestehen, ganz gleich, was du sonst noch alles für Erfahrungen in deinem Leben machen magst. Nein, nie und nimmer hast du es noch nötig, einen dunklen, rätselhaften Gott mit irgendwelchen Opfern zu versöhnen. Gott will dich nicht quälen, und er erwartet von dir erst recht nicht, dass du dich selber quälst, dass du von dir aus ihm opferst, was er von dir doch gar nicht verlangt hat. Schau auf das Kreuz, und dann blicke zurück auf Abraham, und erahne, was Gott, dein Vater, für dich durchgemacht hat, um dich mit ihm zu versöhnen. Nein, diesen Gott braucht man nicht zu verfluchen, wie Tilmann Moser dies getan hat, diesen Gott können und dürfen wir lieben – weil er uns längst zuvor geliebt hat. Amen.