25.11.2012 | Jesaja 65,17-25 | Ewigkeitssonntag

„Ich will hundert Jahre alt werden!“ – Vielleicht habt ihr solch einen Wunsch auch schon einmal gehört, vielleicht ist er euch sogar selber schon über die Lippen gekommen. Die meisten, die solch einen Wunsch äußern, haben wohl kaum einmal miterlebt, was es für einen Menschen in aller Regel bedeutet, hundert Jahre alt zu werden. Sie träumen von einer geradezu paradiesischen Zukunft für ihr Leben, in der sie, höchstens vielleicht geplagt von dem einen oder anderen kleineren Wehwehchen, auch mit hundert Jahren noch geistig klar und körperlich gut in Schuss die Freuden des Lebens genießen und sich aus den Rentenkassen deutlich mehr herausholen, als sie je einzahlen mussten.

Von dem, was Menschen sich für ihr Leben, für ihre Zukunft so alles erträumen, ist auch in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Ewigkeitssonntags die Rede: Es sind die großen Menschheitsträume und Menschheitssehnsüchte, die hier beim Propheten Jesaja angesprochen werden: ein Leben, bei dem die durchschnittliche Lebensspanne weit überschritten wird, ein Leben, in dem nicht die Kinder vor den Eltern sterben, in dem es überhaupt keine Kinder- oder Jugendsterblichkeit mehr gibt, in dem Menschen, die folgenden Generationen noch heranwachsen sehen können, ein Leben, in dem es keinen Krieg mehr gibt, in dem Menschen nicht erleben müssen, dass wieder zerstört wird, was sie sich mit ihrer Hände Arbeit mühsam aufgebaut haben, ein Leben, in dem Menschen Erfüllung finden in dem, was sie arbeiten, und davon leben können, ein Leben, in dem man auch vor Naturgewalten keine Angst mehr haben muss, ja, ein Leben, in dem Menschen einfach nur noch fröhlich sind.

Ja, das wünschen wir Menschen uns, das wollen wir. Und natürlich geben wir uns auch kräftig Mühe, diese Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen, unseren Willen in die Tat umzusetzen.
Fröhlich sollen wir Menschen sein, möglichst ununterbrochen, wenn es nach uns ginge. Und da gibt es in der Tat in unserem Lande eine ausgeprägte Unterhaltungsindustrie, die nur darauf aus ist, bei uns Menschen gute Laune zu erzeugen und dabei mitzuhelfen, wenn wir das mit der guten Laune nicht allein hinkriegen. Spaß haben – das ist für viele, gerade jüngere, der Inbegriff paradiesischen Lebens, das man sich zumindest am Wochenende zu schaffen versucht, wenn man den Stress von Schule oder Beruf ein Stück weit hinter sich lassen kann. Nicht wenigen geht dann allerdings doch im Laufe der Zeit auf, dass Spaß doch noch einmal etwas Anderes ist als Freude, dass Spaß in sich selber zumeist eine ziemlich hohle Angelegenheit ist und dass diejenigen, die Spaß haben wollen, allmählich immer stärkere Kicks brauchen, um Spaß noch zu empfinden. Das Leben als ewige Spaßveranstaltung – das wäre, wenn man es einmal etwas genauer bedenkt, gar keine sonderlich paradiesische, ja, fast eher schon eine höllische Angelegenheit. Die Freude, die unser Leben wirklich zu erfüllen vermag, wird uns auf diese Weise jedenfalls nicht geschenkt.

Dass Menschen so darauf aus sind, möglichst viel Spaß zu erleben, hängt natürlich vor allem damit zusammen, dass ihnen bewusst ist oder sie es zumindest unterbewusst ahnen, dass die Zeit, in der sie solchen Spaß haben können, begrenzt ist. Irgendwann ist einmal endgültig Schluss mit lustig – allerspätestens, wenn wir einmal sterben müssen, doch in vielen Fällen eben schon längst vorher, wenn wir merken, wie unsere Kräfte allmählich weniger werden, wenn wir allmählich immer weniger von dem können, wozu wir früher einmal in der Lage waren. Ja, die Spanne, in der wir unser Leben nach unserem Empfinden wenigstens ein Stück weit paradiesisch gestalten können, ist sehr begrenzt, und so richtet sich das Bemühen von uns Menschen immer wieder auf ein Doppeltes: zum einen, die Spanne etwas zu erweitern, und zum anderen, in diese Spanne möglichst viel zu packen, indem wir die Geschwindigkeit dessen, was wir tun, immer mehr erhöhen. Und dabei haben wir zweifellos Erfolge: Die Kindersterblichkeit ist in den vergangenen hundert Jahren nicht nur hier in Deutschland, sondern in sehr vielen Ländern dieser Welt deutlich zurückgegangen. Was zur Zeit des Propheten Jesaja noch beinahe normal war, dass in einer Familie zumindest das eine oder andere Kind bald nach der Geburt starb, ist heute doch die Ausnahme geworden. Umgekehrt hat sich die Lebenserwartung von uns Menschen immer weiter gesteigert. Gewiss, ein Jopi Heesters ist auch heute immer noch eine Ausnahme; aber im Schnitt sind wir doch sehr viel dichter an die einhundert Jahre herangekommen, als dies damals vor zweieinhalbtausend Jahren auch nur denkbar erschien. Und doch können uns diese Erfolge, die wir zweifellos zu verzeichnen haben, nur sehr begrenzt befriedigen, verschaffen uns nicht unbedingt das Gefühl, nun schon in einer neuen Welt zu leben. Dass Eltern am Grab ihrer Kinder stehen müssen, erleben wir doch auch heute immer wieder, empfinden es heutzutage wohl sogar als ganz besonders schmerzlich. Und während wir auf der einen Seite mit Recht froh sind, das Leben vieler kleiner Kinder heutzutage schon mithilfe der Medizin retten zu können, töten wir in unserer Gesellschaft zugleich kleine, noch ungeborene Kinder in einem Ausmaß, wie Jesaja sich das gewiss nie hätte vorstellen können, fördern eine Kultur des Todes statt einer Kultur des Lebens. Und Ähnliches gilt für das Lebensende. Natürlich ist das für sehr viele Menschen höchst erfreulich, ihr Rentnerdasein so viele Jahre genießen zu können. Doch wenn man dann erst einmal die 90 überschritten hat, nimmt die Sehnsucht danach, noch 100 Jahre alt zu werden, bei den allermeisten doch erkennbar ab, spüren so viele deutlich, dass ein längeres Leben, das sich allmählich doch dem Tode zuneigt, auch zu einer Last werden kann, statt das Paradies auf Erden zu sein. Und ob wir mit der Steigerung der Geschwindigkeit der Vollzüge in unserem Leben tatsächlich auch ein Mehr an Lebensqualität gewonnen haben, ist durchaus auch die Frage.

Nein, wir schaffen es nicht, ein Paradies hier auf Erden zu errichten, ganz gleich, wie viel Mühe wir uns auch geben mögen. Natürlich dürfen wir dankbar sein, dass wir hier in unserem Lande zurzeit erfahren dürfen, was Jesaja als Kennzeichen der neuen Welt Gottes beschreibt, dass kein Krieg zunichte macht, was wir uns selber als Lebensleistung aufgebaut haben, dass wir im Frieden alt werden und auf das Heranwachsen der nächsten Generationen schauen können. Aber wir wissen, wie wenig friedlich es in vielen anderen Teilen dieser Welt zugeht, ja wir ahnen es vielleicht und wollen es zugleich auch gar nicht so genau wissen, was für Bedrohungen des Weltfriedens in der Zukunft möglicherweise noch auf uns zukommen werden. Wir bekommen es nicht fertig, eine Welt ohne Krieg zu schaffen, und wir bekommen es offenkundig auch nicht fertig, eine Welt zu schaffen, in der die Menschen alle miteinander einen gerechten Lohn für ihre Arbeit bekommen, einen Lohn, von dem sie gut leben können. Der Kommunismus hat es nicht vermocht, ein Paradies der Werktätigen zu schaffen, und auch unsere heutige Gesellschaftsordnung ist offenkundig nicht dazu in der Lage, Zustände zu schaffen, die man auch nur annähernd als paradiesisch bezeichnen könnte. Und selbst wenn uns das alles gelänge: Da bleibt immer noch die Natur, von der Jesaja hier abschließend spricht, deren Unbilden wir letztlich immer wieder hilflos ausgeliefert sind, ja da bleibt vor allem auch das Böse in unseren menschlichen Herzen, das keine noch so große menschliche Anstrengung auszurotten vermag. Kurzum: Wir Menschen schaffen sie nicht, die neue Welt, das Paradies, die neue Erde, vom neuen Himmel mal ganz zu schweigen.

Und auf diesem Hintergrund fangen die Worte der alttestamentlichen Lesung des Ewigkeitssonntags noch einmal ganz besonders an zu leuchten: Gott schafft, was wir Menschen niemals schaffen können. Ganz betont sagt er hier „Ich“, ja, ich, Gott, der Herr, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Ich unterstütze nicht bloß die eine oder andere Reparaturbemühung der Menschen, ich liefere nicht bloß ein Update 2.0 der alten Welt, sondern ich schaffe einen ganz neuen Himmel und eine ganz neue Erde, kurzum: eine ganz neue Welt, die so wunderbar neu, so großartig sein wird, dass alles, was zuvor war, völlig in Vergessenheit geraten wird.

Diese neue Welt wird nicht bloß ein überdimensionales Disneyland sein und erst recht kein Superbordell mit 70 Jungfrauen für jeden dort anwesenden Herrn, wie dies muslimischen Männern versprochen wird. Das Entscheidende an dieser neuen Welt wird sein, so kündigt es Gott hier durch den Propheten Jesaja an, dass die Menschen wieder in der unmittelbaren, ungetrübten Gemeinschaft mit ihm, Gott selber, leben werden: „Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.“ In Gottes neuer Welt wird keine Frage offenbleiben, wird keiner mehr sich den Kopf darüber zerbrechen, warum Gott das geschehen lässt, was man gerade in seinem Leben erfährt. In Gottes neuer Welt wird sich niemand mehr gottverlassen vorkommen, wird es keine Bittgebete mehr geben, sondern nur noch Dank und Lobpreis, weil Gott all unseren Bittgebeten immer schon zuvorkommen wird.

Und was das bedeutet, fasst Gott selber hier in einem Wort zusammen: Freude wird in Gottes neuer Welt herrschen, Freude, die unendlich mehr ist als Spaß, Freude, die sich nicht abnutzt, die nicht immer stärkere Kicks braucht, um weiterzubestehen: Freude, die ihren Grund darin haben wird, dass Gott sich über sein Volk nur noch freuen wird, dass er keinen Anlass mehr haben wird, über die, die zu ihm gehören, traurig zu sein. Und diese Freude Gottes über sein Volk wird sich dann widerspiegeln in der Freude derer, die in dieser neuen Welt werden leben dürfen, in ihrer Freude darüber, dass Gott noch einmal endgültig überboten haben wird, was er einst seinem Volk durch den Propheten Jesaja versprach.

Ja, was Gott hier seinem Volk durch den Propheten Jesaja ankündigt, ist einfach großartig. Und dennoch hätten wir nur begrenzt Grund, uns auf diese neue Welt, wie sie uns hier von Jesaja geschildert wird, zu freuen. Denn das letzte und tiefste Problem unseres menschlichen Lebens bliebe in dieser neuen Welt immer noch ungelöst: das Problem des Todes. Gewiss ist es schön und erfreulich, wenn man im Frieden alt werden und noch seine Enkel und Urenkel heranwachsen sehen darf. Aber wenn am Ende doch der Tod steht – was bleibt dann schließlich von dieser Freude?

Doch genau das ist eben Gottes Art, seine Versprechen so zu erfüllen, dass er sie noch einmal überbietet. Genau so haben wir es eben in der Epistel dieses Ewigkeitssonntags vernommen: Die neue Welt, die uns dort vor Augen gestellt wird, ist aus diesem einen Grunde noch viel großartiger, weil es in ihr keinen Tod mehr geben wird, auch nicht nach hundert oder hundertzwanzig Jahren.

In diesem Gottesdienst denken wir in besonderer Weise an diejenigen Brüder und Schwestern aus unserer Gemeinde, die im vergangenen Kirchenjahr heimgegangen sind. Viele von ihnen haben ein stolzes Lebensalter erreicht, ganz gewiss. Doch ganz gleich, wie alt sie auch geworden sein mögen: Es schmerzt uns, dass wir sie nun nicht mehr in unserer Mitte haben, können uns nicht begnügen mit dem Gedanken, dass die Verstorbenen ja zumindest noch ihre Enkelkinder haben heranwachsen sehen können, ja, dass es den Verstorbenen vergönnt war, eine so lange Friedenszeit hier in unserem Land miterleben zu können.

Und dennoch dürfen wir heute an unsere heimgegangenen Geschwister ganz getröstet, ja sogar mit Freuden denken. Denn für sie ist nun schon Gegenwart, was für uns noch Zukunft ist: Sie haben nun schon Anteil an dieser neuen Welt Gottes, die Gott schaffen wird, ja, die sie nun schon schauen dürfen. Sie haben nun schon sichtbar Anteil an Gottes Freude über sein Volk, sie sitzen nun schon an Gottes Festtafel, brauchen keine Angst mehr zu haben vor Krieg und Terror, vor Krankheiten und Schicksalsschlägen. Sie brauchen keine Bedrohung durch Naturkatastrophen mehr zu fürchten, ja, mehr noch: Sie brauchen überhaupt nichts Böses mehr zu fürchten, weil das Böse, ja, der Böse in dieser neuen Welt Gottes keinen Platz mehr hat. Ja, wie schön es in dieser neuen Welt Gottes einmal sein wird, das können wir mit menschlichen Worten in der Tat gar nicht recht beschreiben; wir können es nur machen wie die Heilige Schrift selber, können nur davon reden, was es dort alles nicht mehr geben wird: Eben keinen Tod, kein Klagegeschrei, kein Leid, keine Tränen, keinen Abschied mehr.

Ja, ich weiß, für uns ist das alles noch Zukunftsmusik. Und doch verspricht Gott: Ich bin jetzt schon dabei, diese neue Welt zu schaffen. Wenn Christus uns einlädt an seine Festtafel im Heiligen Mahl, dann gibt er uns dort schon Anteil an der Speise der neuen Welt, schenkt uns schon das neue, unzerstörbare Leben, stärkt uns als Glieder seines Volkes, das in dieser neuen Welt einmal zu Hause sein wird.

Schwestern und Brüder: Ich möchte gar nicht unbedingt 100 Jahre alt werden. Gewiss, ich bin froh, dass ich jetzt hier auf dieser Erde leben darf, auch mitten in all dem Leid, das uns umgibt. Ich bin froh, jetzt und hier auf dieser Erde Menschen in Gottes neue Welt einladen zu dürfen, ihnen davon zu erzählen, dass es einmal so schön sein wird, dass wir allen Kummer, den wir jetzt haben, einmal für immer vergessen werden. Aber klammern möchte ich mich nicht an dieses Leben hier auf Erden. Ja, ich freue mich schon darauf, dann auch einmal dort sein zu dürfen, wo Gott mir auch meine Tränen einmal endgültig von den Augen abwischen wird. Und das wird in der Tat noch schöner sein, als Enkelkinder zu haben. Amen.