05.08.2012 | Jeremia 1,4-10 | 9. Sonntag nach Trinitatis

Nun benutzen wir auf Facebook als St. Mariengemeinde auch die neue Chronik: Jeder, der unsere Seite aufruft, erhält gleich einen schönen Überblick darüber, was in den vergangenen Jahren in unserer Gemeinde so alles passiert ist. Dass eine Gemeinde solch eine Chronik öffentlich ins Netz stellt, ist durchaus sinnvoll und werbewirksam. Sehr viel fragwürdiger ist es schon, wenn auf der Seite einer Privatperson nun all das, was sie in den letzten Jahren so alles auf Facebook von sich gegeben hat, noch einmal nachzulesen ist. Da kann da bei vielen Chroniken die Stasi nur vor Neid erblassen, wenn man sich noch Jahre später darüber informieren kann, dass Person X es bevorzugt, in Boxershorts schlafen zu gehen, sich am 3. März in einer Kneipe in Wilmersdorf besoffen hat und in den letzten sieben Monaten dreimal eine neue Beziehung eingegangen ist. In der vergangenen Woche durfte ich auf Facebook nun sogar nachlesen, dass ein Jugendlicher aus unserer Gemeinde der geneigten Öffentlichkeit seinen bald bevorstehenden Stuhlgang ankündigte. Auch diese Äußerung werden wir unter Umständen noch nach einigen Jahren in seiner Lebenschronik nachlesen können.

Man kann über dieses Mitteilungsbedürfnis vieler Facebook-Benutzer natürlich einfach den Kopf schütteln und sich fragen, warum diese Leute nicht daran denken, dass es auch für künftige Arbeitgeber ein Leichtes ist, sich über Facebook einen sehr genauen Eindruck von dem jeweiligen Bewerber inklusive seiner öffentlich bekundeten Trinkfestigkeit zu verschaffen. Doch hinter diesem Mitteilungsbedürfnis steckt in vielen Fällen noch mehr: Dahinter verbirgt sich der Wunsch, selber sein eigenes Bild von sich in der Öffentlichkeit schaffen zu können, selber bestimmen zu können, wer oder was man denn wirklich ist. Ganz einfältige Gemüter begnügen sich vielleicht damit, als Antwort auf die Frage, wer oder was man ist, auf ein Sternzeichen zu verweisen und zu erklären, man sei Steinbock oder Wassermann. Andere bestimmen ihre Identität durch die Zahl der gemeldeten Freundinnen oder Restaurantbesuche. Doch wie auch immer wir uns in der Öffentlichkeit zu präsentieren versuchen: Wer wir wirklich sind, das bestimmen nicht wir selber, das bestimmen auch nicht die anderen, vor denen wir uns darstellen, und das lässt sich auch nicht an unserer Chronik auf Facebook ablesen. Sondern wer wir wirklich sind, das weiß und bestimmt nur einer: Gott selber, unser Schöpfer, so macht er, der Herr, es uns in der alttestamentlichen Lesung dieses Sonntags deutlich.

Wer bist du also, wer bin ich also? Eines müssen wir zunächst einmal ganz deutlich festhalten: Du bist nicht Jeremia, und ich bin es auch nicht. Was Jeremia damals hörte und erfuhr, galt ganz und gar ihm und keinem sonst; es war seine Berufung, nicht unsere. Und doch wird in der Schilderung seiner Berufung zugleich auch vieles erkennbar, was auch uns gilt und betrifft. Wer bist du also? Das sagt dir nicht deine Facebook-Chronik, das sagt dir allein Gott. Er sagt zu dir:
- Ich kenne dich.
- Ich brauche dich.
- Ich rette dich.

I.
Die Chroniken bei Facebook beginnen jeweils mit dem Tag der Geburt der jeweiligen Person. Die Chronik des Jeremia, die Gott hier in unserer Predigtlesung für ihn erstellt, beginnt noch deutlich früher: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von deiner Mutter geboren wurdest“, sagt Gott zu ihm. Für Gott beginnt das Leben eines Menschen eben nicht erst mit der Geburt oder nach dem dritten Schwangerschaftsmonat. Denn was einen Menschen zu einem Menschen macht, sind eben nicht seine Fähigkeiten, die er hat, sind nicht seine Leistungen, die er zu vollbringen vermag. Es ist nicht der aufrechte Gang oder das logische Denken und auch nicht das moralische Bewusstsein. Es ist allein Gott der Schöpfer, der einem Menschen sein Menschsein, sein Leben, seine Würde verleiht. „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur; du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu – du bist du!“ So heißt es in einem Lied, das gerade unsere Konfirmanden und Jugendlichen sehr gerne singen. Du bist du, weil Gott dich schon kannte und wollte, noch bevor Samen und Eizelle miteinander verschmolzen waren. Du bist du, weil Gott für dich und dein Leben schon einen Plan hatte, als du noch aus nicht mehr als vier Zellen bestandest. Du bist du, ganz gleich, ob du auf deinem Zeugnis lauter Vieren und Fünfen oder Einsen zu stehen hast. Du bist du, ganz gleich, ob du in deinem Leben eine große Karriere gemacht hast oder von der Unterstützung durch andere abhängig bist. Du bist du, ganz gleich, ob du krank oder gesund bist, ob dich Einschränkungen behindern oder du selber alles tun kannst, was du willst. Ein Gedanke Gottes bist du, ein genialer noch dazu. Ja, Gott kannte dich, hatte deine Lebenschronik schon vor sich, als er dir das Leben schenkte, als er deinem Leben den Anfang setzte.

Gott kannte dich, genau wie er all die Kinder kannte und kennt, die auch hier in unserem Land und in unserer Stadt Tag für Tag getötet werden, bevor sie das Licht der Welt erblicken durften. Nein, da wurden und werden keine Zellklumpen entfernt, da werden Menschen getötet, von denen Gott nicht anders als von Jeremia sagt: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete“, ja, ich kannte dich, auch wenn deine Eltern dich nie kennengelernt, dir nie einen Namen gegeben haben. Ich kannte dich, auch wenn deine Lebenschronik schon wieder gelöscht wurde, bevor sie sich überhaupt mit Ereignissen aus deinem Leben füllen konnte. Ich kannte dich, für mich warst und bleibst du ein Mensch, ob man dir nun erlaubt hat weiterzuleben oder nicht. 

Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete – darin besteht deine Würde als Mensch, die dir niemand auf dieser Welt nehmen kann. Darin besteht deine Würde als Mensch, ganz gleich, ob du in deinem Leben versagt oder nicht, ganz gleich, ob du dich selber anzunehmen vermagst oder nicht. Du bist unendlich wertvoll, weil Gott dich ansieht, weil er dich kennt, weil er dich liebt, weil er noch Großes mit dir vorhat. Das kann auch keine noch so beeindruckende Facebook-Chronik toppen.

II.
Ich kannte dich und ich kenne dich – das ist das erste, was Gott dem Jeremia damals und uns heute sagt. Doch dann fährt Gott auch gleich fort und sagt zu Jeremia: Ich brauche dich. Ich habe eine Aufgabe für dich.

Gewaltig war die Aufgabe, die Gott dem Jeremia damals übertrug: Er sollte Prophet sein für die Völker, sollte in Gottes Namen nicht nur dem jüdischen Volk, sondern auch anderen Völkern Gottes Wort verkündigen, sollte mit seiner ganzen Existenz für das einstehen, was weiterzusagen Gott ihm aufgetragen hatte. Kein Wunder, dass der Jeremia sich erst einmal mit Händen und Füßen dagegen sträubt: Er blickt auf sich selber, auf seine Fähigkeiten und Möglichkeiten, und stellt fest: Das kann ich nicht, ich kann nicht predigen, und ich bin für all das auch noch viel zu jung. Recht hat er, ganz menschlich gesprochen: Er war jung, und auch das Predigen lag ihm von sich aus nicht sonderlich. Doch Gott lässt sich von diesen guten menschlichen Argumenten nicht beeindrucken: Wichtig ist nicht, was du kannst und wie gut deine Performance ist. Wichtig ist einzig und allein, dass ich dich sende, dass ich dich mit meinem Wort losschicke. Gott braucht nicht bloß Stars, er kann nicht nur die scheinbar Perfekten und Hochbegabten gebrauchen. Er braucht auch die, die scheinbar zu jung oder zu alt, zu dumm oder zu klug, zu arm oder zu reich, zu unbegabt oder scheinbar völlig ungeeignet sind. Keinen Einwand lässt er gelten, wenn er einen Menschen braucht: Er selber, Gott, wird aus diesem Menschen schon etwas machen.

Genauso hat es Jeremia damals in seinem Leben erfahren. Es war ein schwerer Dienst, in den Gott den Jeremia gerufen hat, ein Dienst, der ihn immer wieder an die Grenzen seiner Kräfte führte. Aber Gott hat ihn durchgetragen durch diesen Dienst, hat ihm gezeigt, dass er den, den er braucht, auch hält und befähigt.

Was für Jeremia galt, gilt in ganz ähnlicher Weise für alle, die Christus in das Amt der Kirche gerufen hat: Pastor wird man nicht, weil man so begabt ist oder weil man ein gutes Examen gemacht hat. Pastor wird man nicht, weil man sich selber für geeignet oder für berufen hält. Sondern Pastor wird man einzig und allein dadurch, dass Gott zu einem in der Ordination sagt: Ich brauche dich, ja, ich brauche dich von nun an dein ganzes Leben lang. Du magst dir auch zu jung oder zu unbegabt vorkommen, du magst denken, du seist mit deiner Aufgabe völlig überfordert. Doch du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Ich brauche dich, und wenn dich die, die dir zuhören, auch noch so sehr für eine Pflaume halten. Ich brauche dich, auch wenn die, zu denen ich dich sende, dich auch noch so sehr für ungeeignet halten. Du sollst keine Olympia-Medaillen bei irgendwelchen Wertungsrichtern in deinem Dienst gewinnen, sondern mein Wort ausrichten.

Ich brauche dich – das sagt Gott aber eben nicht bloß zu angehenden und zu ordinierten Pastoren. Das sagt er genauso auch zu dir: Ich brauche dich, auch wenn du dich selber für völlig unbegabt und überflüssig hältst. Ich brauche dich – nein, vielleicht nicht unbedingt zum Dienst als Prophet. Aber ich brauche dich, damit du je auf deine ganz eigene Weise anderen Menschen bezeugst, dass du zu Christus gehörst. Ich brauche dich jeden Sonntag, dass du den anderen mit deinem Kommen Mut machst, mit dabei zu bleiben. Ich brauche dich, dass du für die anderen in der Gemeinde die Hände faltest. Nein, sage nicht, du seist zu alt und zu schwach oder auch zu jung, du könntest nichts für die Gemeinde tun. Natürlich kannst du das, kannst für sie, kannst für die Glieder der Gemeinde beten. Ich brauche dich, sagt Gott. Ich brauche dich, ja natürlich auch mit deinen Gaben, die ich dir gegeben habe, auch wenn du sie vielleicht noch gar nicht entdeckt hast oder vielleicht auch lieber versteckst. Ich brauche dich, ganz gleich, was du von dir selber hältst, ich brauche dich, ganz gleich, wie viel oder wie wenig Deutsch du sprichst. Für mich bist du jedenfalls wichtig, ja unverzichtbar, so sagt es Gott auch zu dir.

III.
Und dann sagt Gott zu dem Jeremia und auch zu uns noch ein Drittes: Ich rette dich.
Damals hat Gott den Jeremia mit diesen Worten getröstet, dass er vor denen, die seine Botschaft mitunter auch sehr aggressiv ablehnten, keine Angst zu haben braucht: „Ich bin bei dir und will dich erretten“, so sagt es Gott dem Jeremia zu.

Rettung verspricht Gott auch uns, Rettung, die noch sehr viel weiter reicht als bei Jeremia damals. Nein, Gott verspricht uns nicht ein einfaches, sorgenfreies Leben, wenn wir Christen sind. Aber er verspricht uns, dass unser Leben weit über das hinausreichen wird, was je auf einer Facebook-Chronik festgehalten werden kann. Er verspricht uns ein Leben, das nie mehr enden wird, das einmünden wird in ein Fest, das unendlich schöner sein wird als jede Facebook-Party. Ach, was sage ich: Gott verspricht uns das nicht bloß. Der hat uns schon längst gerettet, gerettet aus einem Leben, das zwangsläufig dem Dunkel des ewigen Todes entgegenlief, hat uns schon längst an seinem neuen Leben Anteil gegeben. Heute Morgen haben wir es miterlebt, wie Gott auch Odin gerettet hat, wie er auch zu ihm gesagt hat: Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Du gehst deinen Lebensweg von nun an nie mehr allein; ich habe von heute an einen ganz festen Platz in deiner Lebenschronik. Gerettet hat Gott Odin im Wasserbad der Taufe, weil das Wort Gottes, das darin gewirkt hat, nicht weniger wirkmächtig ist als das Wort, das Gott damals dem Jeremia in den Mund gelegt hat: Ja, dieses Wort hat Kraft, zu zerstören und zu bauen, zu verderben und zu pflanzen. Das Wort Gottes, das in unserer Taufe gewirkt hat, das hat unser altes Leben ohne Gott beendet und ein neues Leben in der Gemeinschaft mit Christus in uns geschaffen. Gottes Wort wirkt, so darfst du es erfahren, wenn du in der Beichte das Wort der Vergebung hörst. Nein, das ist nicht bloß das Wort eines Menschen; da spricht Gott selber und schließt dir wieder neu die Tür zum Himmel auf. Und nichts anderes macht das Wort Gottes, das du jetzt in dieser Predigt hörst: Es arbeitet an dir und in dir in deinem Herzen, reißt aus, was Gottes Willen widerstrebt, und pflanzt ein, was Gottes Willen entspricht. Und wenn wir gleich das Heilige Mahl feiern, dann darfst du wieder erfahren, was für eine Macht das Wort Gottes hat, dem Menschen in den Mund gelegt, wie durch dieses Wort eine neue Wirklichkeit geschaffen wird, Brot und Wein Leib und Blut Christi werden. Nein, das ist kein Zirkusspektakel, das geschieht einzig und allein, damit du gerettet wirst, leben darfst in Ewigkeit. Gott kennt dich – Gott braucht dich – Gott rettet dich: Mensch, das ist wirklich mal eine Nachricht, bei der es sich lohnt, sie auf Facebook zu verbreiten! Amen.