17.06.2012 | 1. Korinther 14,1-3.20-25 | 2. Sonntag nach Trinitatis

Wie kann man eine christliche Gemeinde zum Wachsen bringen? Schwestern und Brüder, es gibt allen Ernstes Leute, die behaupten, sie könnten auf diese Frage Antworten geben, hätten Rezepte an der Hand, „how to grow a church“, wie es so schön im Englischen heißt. Und diese Rezepte klingen dann immer gleich: Schafft den traditionellen Gottesdienst ab, wandelt ihn um eine Show mit dem Pastor als Entertainer, singt nur noch Lieder mit nicht mehr als drei Zeilen Text, erzählt den Leuten immer nur Dinge, die sie nett finden, und achtet im Übrigen darauf, dass die Leute, die zur Gemeinde kommen, auch gut zueinander passen, ja möglichst denselben gesellschaftlichen Hintergrund haben. Wenn man solche Rezepte befolgt, wächst eine Gemeinde am Ende fast von allein.

Wie kann man eine christliche Gemeinde zum Wachsen bringen? Manchmal wird auch mir diese Frage gestellt von Leuten, die auf unsere Statistiken schauen und feststellen, wie schnell unsere Gemeinde in den letzten Jahren zahlenmäßig angewachsen ist. Doch leider kann ich denen, die diese Frage stellen, überhaupt nicht weiterhelfen. Wir haben unsere Gemeinde überhaupt nicht zum Wachsen gebracht; das lag nicht an uns, sondern wir können immer wieder nur darüber staunen, dass und wie unsere Gemeinde gewachsen ist, obwohl wir gar kein Gemeindewachstumskonzept haben und auch kein Gemeindeleitbild und obwohl wir unseren Gottesdienst immer weiter so feiern, wie er seit vierzig Jahren, seit der Kirchweihe, in diesem Gotteshaus gefeiert worden ist.

Wenn ich dann weiter gefragt werde, was denn unsere Gemeinde offenbar für so viele Menschen so anziehend macht, dann erzähle ich allerdings in der Tat von unseren Gottesdiensten, von unseren ganz normalen Gottesdiensten, wie wir sie immer wieder hier in unserer Kirche feiern. Ja, um zu verstehen, was da bei uns abgeht, auch jetzt und heute wieder, können uns die Worte unserer heutigen Predigtlesung eine wichtige Hilfe sein. Denn darin nennt der Apostel Paulus uns dreierlei, was Gäste eines christlichen Gottesdienstes in diesem Gottesdienst wahrnehmen und erkennen sollten:
- eine Gemeinde mit Liebe
- eine Verkündigung mit Inhalt
- eine Feier mit Gottes Gegenwart

I.
Da ging in der christlichen Gemeinde in Korinth damals so richtig die Post ab: Gemeindeglieder gerieten im Gottesdienst so richtig in Verzückung, fingen an, in einer völlig unartikulierten Sprache Gott zu loben und ihrer Freude im Glauben dadurch Ausdruck zu verleihen. „Zungenreden“, so übersetzt Martin Luther hier dieses Phänomen, das man auch heutzutage noch in bestimmten sogenannten pfingstkirchlichen Gemeinschaften beobachten kann, auch wenn man sich dort in aller Regel heutzutage nicht an die Weisung des Apostels Paulus hält, dass höchstens zwei oder drei in der Gemeinde im Gottesdienst das Zungenreden praktizieren sollten, und stattdessen die ganze Gemeinde in fromme Ekstase versetzt.

Paulus macht aus seiner Skepsis gegenüber diesem Zungenreden in Korinth keinen Hehl. Er bestreitet nicht, dass es so etwas wie Zungenreden geben kann, dass dies auch eine Gabe des Geistes Gottes sein kann. Doch er bleibt skeptisch: Wenn jemand in Zungen redet, seiner religiösen Ekstase im Gottesdienst freien Lauf lässt, dann mag er sich selber dabei gut fühlen – doch der Gemeinde nützt dies alles wenig. Der Zungenredner bleibt bei sich selbst, nimmt in seiner Ekstase weder andere Gemeindeglieder noch Gäste im Gottesdienst wahr. Und noch problematischer ist es dem Apostel Paulus zufolge, wenn diese Leute, die das Zungenreden im Gottesdienst praktizierten, dann auch noch behaupteten, sie seien ja in ganz besonderer Weise mit dem Heiligen Geist begabt, ja, sie seien im christlichen Glauben offenbar schon weiter fortgeschritten als die anderen Gemeindeglieder, die zu solchem Zungenreden nicht in der Lage waren.

Schwestern und Brüder: Das mit dem Zungenreden ist hier in unserer St. Mariengemeinde nicht unbedingt unser Problem. Ich gehe davon aus, dass ich wohl nur die wenigsten von euch davon abhalten muss, jetzt gleich in Ekstase zu geraten und unverständliche Laute von euch zu geben. Und doch ist das, was St. Paulus hier schreibt, auch für uns ganz aktuell. Denn er stellt der Betonung des Zungenredens schlicht und einfach die Liebe entgegen als die größte Gabe des Heiligen Geistes, die Liebe, die sich eben auch und gerade in der Art und Weise, wie eine Gemeinde ihren Gottesdienst feiert, Ausdruck verschafft.

Liebe im Gottesdienst – das bedeutet, dass uns die anderen, mit denen wir gemeinsam den Gottesdienst feiern, nicht egal sind, sondern dass wir uns über diese anderen freuen und diese Freude auch zum Ausdruck bringen: Wie gut, dass auch ihr gekommen seid, dass auch ihr da seid! Liebe im Gottesdienst – das bedeutet, dass wir nicht zuerst und vor allem darauf aus sind, dass unsere Wünsche im Gottesdienst erfüllt werden, und davon vielleicht sogar unsere Teilnahme am Gottesdienst abhängig machen, sondern dass wir darauf acht haben, was die Brüder und Schwestern um uns herum brauchen, dass wir uns nicht wie die Zungenredner in Korinth damals so sehr auf unsere Beziehung zu Gott konzentrieren, dass wir die anderen um uns herum vielleicht gar als störend empfinden. Liebe im Gottesdienst – sie geht schon damit los, dass wir überhaupt immer wieder hierher kommen, dass wir die anderen, die mit uns zusammen hier den Gottesdienst feiern, nicht allein lassen, sondern sie im Glauben ermutigen und stärken, dadurch, dass wir hier mit ihnen zusammen sind und Gott loben und anbeten. Ja, auch die Liturgie der Kirche ist ein Ausdruck der Liebe; sie verhindert, dass Gottesdienstteilnehmer, die sich vielleicht besonders geistlich begabt fühlen, im Gottesdienst in den Vordergrund drängen, ermöglicht allen miteinander in gleicher Weise die Mitwirkung im Gottesdienst.

„Strebt nach der Liebe!“ – so ruft es der Apostel Paulus den Korinthern und auch uns zu. Ja, das ist und bleibt unsere besondere Aufgabe als Gemeinde, in dieser Liebe immer weiter zu wachsen, zu lernen, Gemeindeglieder anzunehmen, die vielleicht ganz anders sind als wir, und ihnen in Liebe zu begegnen. Das ist und bleibt unsere besondere Aufgabe in der Gemeinde, wahrzunehmen, wo ein anderes Gemeindeglied, ein anderer Gottesdienstteilnehmer unsere Hilfe und Zuwendung braucht.

„Strebt nach der Liebe!“ – Schwestern und Brüder, es hat mich am letzten Sonntag bei unserem Persischen Tag besonders bewegt, wie viele unserer persischen Brüder und Schwestern besonders von der Liebe gesprochen haben, die sie in unserer Gemeinde erfahren und die ihnen den christlichen Glauben und das Leben als Christ so lieb und wichtig gemacht hat. „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“, so hatte es schon Christus seinen Jüngern im Abendmahlssaal gesagt. Wie gut, wenn auch Gäste etwas von dieser Liebe gerade in unseren Gottesdiensten wahrzunehmen vermögen, ja wenn sie davon dann auch anderen erzählen und sie zu uns einladen! Genauso stellt Christus, genauso stellt der Apostel Paulus sich das vor!

II.
Der Apostel Paulus hat noch ein weiteres Argument gegen das Zungenreden im Gottesdienst auf Lager: Das Zungenreden wirkt nicht gerade anziehend auf Gäste im Gottesdienst, im Gegenteil, so schreibt der Apostel: Wenn da ein Gast in euren Gottesdienst kommt, während ihr gerade mit dem Zungenreden loslegt, dann denkt der, ihr wärt alle miteinander völlig durchgeknallt. Zungenreden ist nicht missionarisch, sondern anti-missionarisch, so betont es der Apostel mit einem Zitat aus dem Alten Testament: Zungenreden führt Menschen nicht zum Glauben an Christus, sondern verstockt sie, verwehrt ihnen den Zugang zu Christus. Und das sollte eigentlich im Gottesdienst ja nun wirklich nicht geschehen!

Die Prophetie empfiehlt Paulus stattdessen den Korinthern, also die verständliche Rede, die zur Erbauung, zur Ermahnung und zur Tröstung dient. „Prophetie“ hat also nichts mit Zukunftsorakeln zu tun, sondern damit, dass den anderen Gottesdienstteilnehmern Weisung und Hilfe für ihr Leben im Licht des Wortes Gottes gegeben wird. Damals in der Gemeinde in Korinth geschah dies im Gottesdienst durch mehrere Gemeindeglieder. Heutzutage hat in unseren Gottesdiensten in aller Regel die Predigt diese Funktion übernommen. Doch das heißt ja nicht, dass es nicht auch in unserer Gemeinde immer wieder geschehen würde, dass Gemeindeglieder einander trösten, ermahnen und ermutigen, einander vom Glauben an Christus her weiterhelfen. Das passiert in Gesprächen und in Gesprächskreisen auch bei uns in ganz vielfältiger Weise.

Wenn nun im Gottesdienst die Predigt diese Aufgabe wesentlich wahrnimmt, dann gilt allerdings auch für sie, dass sie verständlich sein soll, dass diejenigen, die ihr zuhören, Gott geb’s, wahrnehmen können, dass es darin um sie, um ihr Leben geht, um ihre Schuld und die Vergebung, die sie durch Christus empfangen. Eine Predigt ist keine religiöse Rede, die ein wenig die Feierlichkeit des Gottesdienstes erhöht oder den einen oder anderen geistigen Gedankenanstoß vermittelt. Sondern in ihr ist Gott selber mit seinem Geist am Werk, bewirkt selber, dass Menschen die Predigt so hören und wahrnehmen, dass sie erkennen, dass sie gemeint sind. Schwestern und Brüder: Ich selber habe dies als Prediger nur ganz begrenzt in der Hand, kann nur von mir aus versuchen, die Predigt so zu formulieren, dass Menschen wahrnehmen, wie sie vor Gott dastehen, und von daher nach Gottes Vergebung verlangen, ja mehr noch: dass sie in der Predigt dann auch das tröstende Wort der Vergebung vernehmen. Aber offenbar geschieht dies in der Tat immer wieder, dass Menschen, die in unsere Gottesdienste kommen, die Predigten hier so wahrnehmen, dass ihnen eben dies klar wird: Ich bin gemeint, was ich hier höre, ist wichtig, entscheidend wichtig für mein Leben, weil hier nicht bloß ein Pastor zu mir spricht, sondern Gott selbst.

III.
Und damit sind wir schon beim Dritten, was nach den Worten des Apostels Gäste in unseren Gottesdiensten wahrnehmen sollen: Sie sollen Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist, so schreibt es St. Paulus hier.

Das ist also entscheidend wichtig für einen christlichen Gottesdienst, dass in ihm klar und eindeutig zu erkennen ist, dass wir als Gemeinde hier nicht unter uns sind, dass der Gottesdienst nicht bloß eine Bildungsveranstaltung ist, bei der die Teilnehmer ihre religiösen Kenntnisse aufbessern sollen, und erst recht kein Ringelpietz mit Anfassen, bei der die Gemeindeglieder untereinander die nette Gemeinschaft genießen.

Sondern alles, was im Gottesdienst geschieht, soll darauf hinweisen, dass eben nicht der Pastor der Gastgeber des Gottesdienstes ist, sondern Christus, der auferstandene Herr, selber, dass er in unserer Mitte gegenwärtig ist. Dem sollen der Altarblumenschmuck und die Gewänder ebenso dienen wie die gottesdienstlichen Gesänge, und dem dient eben in ganz besonderer Weise in jedem Gottesdienst auch die Feier des Heiligen Mahls. Da feiern wir ja immer wieder neu, dass der Himmel auf die Erde kommt, da feiern wir es immer wieder neu, dass Christus selber in unserer Mitte ist, verborgen mit seinem Leib und Blut in den Gestalten von Brot und Wein, da feiern wir es immer wieder neu, dass Gott nicht weit weg ist, sondern hier bei uns, um uns die Vergebung unserer Schuld ganz verbindlich zuteil werden zu lassen.

Auch das hat mich am letzten Sonntag bei unserem Persischen Tag sehr bewegt, wie unsere Brüder und Schwestern aus dem Iran dies immer wieder zum Ausdruck brachten: Wir verstehen nicht unbedingt alles, was hier im Gottesdienst gesagt wird; aber wir merken, dass hier etwas geschieht, was ganz anders ist als alles andere auf dieser Welt, dass hier Gott selber bei uns ist. Und so beten sie nun mit uns gemeinsam Gott an, verehren mit uns gemeinsam Christus als ihren Herrn, genauso wie so viele von euch, die auch in diesen letzten Jahren den Weg in unsere Gemeinde gefunden haben. Nein, wir waren es wirklich nicht: Gottes Gabe der Liebe war es, Gottes Wort war es, Gottes Gegenwart in unserer Mitte. Die bewirken immer wieder neu, worüber wir nur staunen können: Gemeindewachstum durch den Gottesdienst. Ja, Gott geb’s, dass wir selber immer wieder neu zu schätzen wissen, was wir an unserem Gottesdienst haben, ja, dass wir es nicht nur zu schätzen wissen, sondern Gottes Einladung dann auch folgen – und mit uns, Gott geb’s, auch in Zukunft weiterhin noch viele, die im Augenblick vielleicht noch gar nicht ahnen, was sie ohne die Teilnahme am Gottesdienst in ihrem Leben verpassen: die Begegnung mit ihm, dem lebendigen Gott, hier in unserer Mitte. Amen.