06.04.2012 | Hebräer 9,15.26b-28 | Karfreitag

„So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ – So lautet der Titel eines Buches, das der bereits schwer vom Krebs gezeichnete Regisseur Christoph Schlingensief nicht lange vor seinem Tod geschrieben hat. In diesem Buch ringt Schlingensief auch mit der Frage, welche Bedeutung das Leiden Christi am Kreuz auch für ihn, für sein Leben haben könnte. Aber er kommt dabei nicht weiter: „das ist schwer zu erklären, da hake ich immer wieder“, stellt er schließlich fest.

„Da hake ich immer wieder“ – Schwestern und Brüder, Christoph Schlingensief spricht aus, was nicht wenige Menschen heute empfinden, wenn sie mit dem Kruzifixus, dem leidenden und sterbenden Christus am Kreuz konfrontiert werden. Der Sinn dessen, was ihnen da vor Augen gestellt wird, erschließt sich ihnen nicht gleich, erst recht nicht der Bezug zum eigenen Leben. Doch diejenigen, bei denen es hakt, die um die Bedeutung dieses Kreuzestodes Jesu für sie, für ihr Leben ringen, haben damit vielleicht schon mehr vom Kreuz Christi begriffen als diejenigen, für die der Anblick des Kreuzes vielleicht schon allzu selbstverständlich geworden ist, für die der Sinn dieses Leidens und Sterbens Christi vielleicht gar schon logisch erscheint.

Und so wollen wir es in dieser Predigt nun auch haken lassen, wollen uns, angeregt von Christoph Schlingensief, dem nähern, was dieses Kreuz Christi, was seine Kreuzigung für uns heute bedeutet, welchen Sinn sie auch für uns hat. Anleiten lassen wollen wir uns dabei von den Worten des Hebräerbriefs, von den Worten unserer heutigen Predigtlesung, die uns beim ersten Hinhören vielleicht noch sperriger, noch unzugänglicher erscheinen mögen als der Anblick eines Kruzifixus selber. Eine Sprache gebraucht der Verfasser des Hebräerbriefs hier, die uns heutzutage sehr fernliegt, die uns nicht gleich einleuchtet und die sich bei näherer Betrachtung doch als hochaktuell erweist. Dreierlei sollen und dürfen wir beim Blick auf den Kruzifixus erkennen, so zeigt es uns der Hebräerbrief:
- die Endgültigkeit des Todes
- ein neues Gottesverhältnis
- die Zukunft unseres Lebens

I.
Das erste, was uns der Kruzifixus deutlich, ja schonungslos vor Augen stellt, ist die Einmaligkeit und Endgültigkeit des Todes. Wir haben nur ein Leben, das entsprechend auch einmal mit dem Tod endet, oder, mit den Worten des Hebräerbriefs: Es ist den Menschen bestimmt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht. Ganz deutlich wendet sich dieser Satz gegen alle möglichen Verharmlosungen des Todes, etwa auch gegen die heute in unserem Land so beliebte Vorstellung von der Seelenwanderung, von der Reinkarnation, als ob unsere Seele nach unserem jetzigen Leben noch einige weitere Ehrenrunden in anderen Körpern hier auf Erden dreht, um sich dabei allmählich immer weiter zu vervollkommnen. Und wenn ich mich jetzt in meinem Leben ein wenig danebenbenehme, dann kann ich das bei der nächsten Runde ja immer noch wiedergutmachen! Nein, kannst du nicht, sagt der Hebräerbrief. Mit dem Ende unseres Lebens hier auf Erden ist wirklich Schluss; mit unserem Tod fällt eine letzte Entscheidung, die nicht später irgendwann noch einmal korrigiert werden kann. Und eben dies gibt unserem Leben hier und jetzt auf Erden ein solch großes Gewicht: Hier und jetzt fallen in unserem Leben Entscheidungen für die Ewigkeit – und keiner weiß, wie viel Zeit uns noch hier auf Erden bleibt. Wenn wir auf den Kruzifixus blicken, schauen wir auf einen vergleichsweise jungen Mann, dessen Lebensende hier auf Erden nicht erst mit 80 oder 90 Jahren gekommen ist, sondern dessen Leben sehr viel früher endete, als man dies normalerweise erwarten konnte. Wenn wir ihn anblicken, dann erkennen wir, dass wir Menschen nicht das Recht oder gar die Garantie auf eine bestimmte Lebensspanne haben; wenn wir ihn, den Kruzifixus, anblicken, dann erkennen wir in ihm auch all das Leid und all den Schrecken, den das scheinbar allzu frühe Ende so vieler Menschenleben mit sich bringt, ja, können wir in ihm auch das so frühe Ende eines Christoph Schlingensief wiederfinden. Nicht fassen können wir es, dass ein Mensch, der vielleicht noch vor ganz kurzer Zeit gelebt, geredet, gelacht hat, nun mit einem Mal tot sein soll, endgültig tot. „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ – Christoph Schlingensief bringt in diesen Worten auf seine Weise die bittere Einsicht in die Endgültigkeit des Todes zum Ausdruck, eine Endgültigkeit, die nicht verharmlost werden kann durch die Vorstellung, dass wir nach unserem Tod ja doch alle irgendwie automatisch im Himmel ankommen. Der Tod lässt sich nicht schönreden; da geht ein Leben unwiderruflich zu Ende, fällt darin zugleich die Entscheidung, ob ein Mensch sein Leben verfehlt hat oder nicht. Der Karfreitag, der Todestag Jesu, mutet es uns zu, dieser Wahrheit ins Auge zu blicken, sie nicht zu verdrängen oder zu beschönigen.

II.
Nach dem Tod folgt das Gericht, das letzte Urteil über unser Leben, so stellt es der Hebräerbrief hier nüchtern fest. Selbst Menschen, die mit Christus nicht viel zu tun haben wollen, ahnen etwas von diesem Gericht, können es nicht ertragen, vor anderen als schuldig dazustehen, tun alles, um anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, die doch eigentlich die ihre ist. Sündenböcke müssen nach Möglichkeit her, auf deren Schuld man so schön mit dem Finger zeigen kann, Sündenböcke, die so gut von eigener Schuld und eigenem Versagen ablenken. Ach, was tut das gut, wenn andere noch schlechter sind als man selber; das scheint doch die Chancen für einen selber im letzten Gericht gewaltig zu erhöhen!

Doch wenn vom Gericht geredet wird, muss auch vom Richter gesprochen werden, von dem, der allein das Recht dazu hat, uns und unser Leben zu beurteilen: von Gott selber. Ja, wenn vom Gericht geredet wird, ist zugleich klar, dass unser Leben eben nicht mehr so ist, wie es eigentlich sein sollte, ja, wie es von Gott selber einmal ursprünglich gewollt war. Und das hat Auswirkungen auf unser Verhältnis zu Gott, hat eine Distanz zur Folge, die wir von uns aus nicht überbrücken können, die uns immer wieder, mit Schlingensief gesprochen, „haken lässt“, weil wir an Gott nicht rankommen. Stattdessen bleibt unser Leben bestimmt von dem Schrecken, den der Tod in unserem Leben auszulösen vermag, von der Angst, am Ende als schuldig beurteilt, ja verurteilt zu werden.

Und nur auf diesem Hintergrund erschließt sich der tiefste Sinn des Kruzifixus: Der da hängt, ist ein Mittler, ja, der Mittler, so formuliert es der Hebräerbrief hier, der Mittler, dessen Aufgabe darin besteht, Gott und die Menschen wieder zueinander ins Verhältnis zu setzen, die Trennung zwischen Gott und den Menschen zu überwinden. Wer diesen Mittler eingesetzt hat, ist klar: Er kommt von Gott; seiner Initiative allein ist es zu verdanken, dass es nicht einfach bei der abgrundtiefen Kluft zwischen Gott und den Menschen bleibt. Aufgabe dieses Mittlers ist es nicht, zwischen zwei zerstrittenen Parteien einfach zu moderieren, um sie so wieder dazu zu bringen, dass sie einander wieder die Hände reichen. Da ist viel mehr kaputtgegangen in unserem Verhältnis zu Gott, als dass das so einfach möglich wäre. Es geht um Sünde, um Schuld, durch die unsere Gemeinschaft mit Gott zerbrochen, ja, zerstört ist. Die verschwindet nicht mit ein paar warmen Worten; da brauchen wir einen Sündenbock, auf den wir unsere Schuld schieben können, der an unserer Statt zum Opfer wird. Und genau dazu ist dieser Mittler da, der da am Kreuz hängt: Der lässt sich freiwillig zum Sündenbock machen; der lässt sich freiwillig zum Opfer machen; der lässt sich freiwillig umbringen – um auf diese Weise wegzuschaffen, was die Gemeinschaft zwischen Gott und uns unmöglich machte, um die Trennung zwischen Gott und uns Menschen zu überbrücken. Ja, das kann er, weil er eben nicht irgendjemand ist, erst recht nicht irgendjemand, der eigentlich mit seinen eigenen Problemen, mit seiner eigenen Schuld genug zu tun hat. Das kann er, weil er von Gott kommt, ja, weil der, der da am Kreuz hängt, selber Gott ist. Nicht Menschen machen sich daran, einen blutrünstigen Gott mit irgendwelchen Menschenopfern zu besänftigen. Sondern Gott selber ist in Jesus Christus ein für allemal, endgültig den Menschen erschienen, gibt sich für die Menschen in den Tod, um ihnen eine ewige Zukunft zu sichern. Ja, in Gottes Antlitz schaust du, wenn du auf den Kruzifixus schaust, dort erkennst du, wer Gott wirklich ist: ein Gott, der sich für dich aufopfert, weil er nichts Anderes als Leben, ewiges Leben für dich will.

Mit diesem Gott hat Christoph Schlingensief immer wieder leidenschaftlich gerungen, und mit diesem Gott mögen auch wir immer wieder ringen. Nein, wir werden ihn hier auf Erden niemals ganz verstehen. Da bleibt uns oft genug wirklich nur der Blick auf den Kruzifixus, um nicht an diesem Gott irrezuwerden – der Blick auf den Kruzifixus, in dem wir erkennen können: So ist Gott wirklich, so hat er sich endgültig festgelegt; darauf lässt er sich festnageln, dass er die Gemeinschaft mit uns will.

III.
Und er will diese Gemeinschaft nicht bloß, er hat sie auch gestiftet. Von einem Erbe spricht der Hebräerbrief hier, von einem Erbe, das uns zusteht in Kraft eines Testaments. Ein Testament wird in dem Augenblick wirksam, in dem der Erblasser stirbt. Und so ist es auch bei uns: Christus ist am Kreuz gestorben, um uns sein Erbe zukommen zu lassen. Und dieses Erbe, das reicht, das ist genug; das muss nicht erst noch ergänzt oder anderweitig aufgestockt werden. Hier auf Erden mögen wir aus Testamenten am Ende doch nicht so viel bekommen, wie wir uns vielleicht einmal erhofft haben, so haben wir es gerade auch in unserer Gemeinde wieder erfahren. Doch das Erbe, das uns durch den Tod Christi zusteht, das reicht bis in die Ewigkeit. Alles, was sein war, hat Christus dir am Kreuz vermacht: sein Leben, seine Unschuld, seine Gerechtigkeit. Da muss nichts mehr von unserer Seite ergänzt oder gar überboten werden, erst recht nicht durch unser frommes Bemühen. Die einmalige Lebenshingabe Jesu am Kreuz, sie reicht aus, reicht aus für jeden, der nicht auf die irrsinnige Idee kommt, dieses Erbe ausschlagen zu wollen.

Ja, das Opfer Jesu am Kreuz reicht aus, dass wir uns vor Gottes letztem Gericht nicht mehr zu fürchten brauchen. Auch all das, was sich in unseren Gewissen immer wieder zu Wort melden mag, liegt in Wirklichkeit doch schon längst auf den Schultern des gekreuzigten Christus. Was uns bleibt, so schreibt es der Hebräerbrief, ist allein das fröhliche Warten auf ihn, den wiederkommenden Christus, den wir klar und eindeutig werden erkennen können an seinen Nägelmalen, durch die er unserem Tod seine Endgültigkeit genommen hat. Der Tod ist nicht mehr das Allerletzte, so dürfen wir es jetzt schon erkennen, wenn wir auf ihn, den Gekreuzigten, blicken, der doch zugleich der auferstandene und wiederkommende Herr ist.

„So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“: Christoph Schlingensief weiß es jetzt schon besser. Ein Leben ohne Leid, ohne Tod, ohne Schuld ist tatsächlich noch schöner als das allerschönste Leben, das wir hier auf Erden je führen könnten. Dazu hängt er da, der Kruzifixus, damit auch du dieses Leben selber wirst erfahren dürfen, damit bei dir einmal endgültig nichts mehr haken wird. Dazu hängt er da, der Kruzifixus, damit dein einmaliger Tod dir die Zukunft nicht verbaut, sondern sie dir im Gegenteil eröffnet. Schau darum immer wieder neu auf ihn, den Kruzifixus. Du erkennst in ihm nicht weniger als deine Zukunft, die dir bevorsteht, ja, der du entgegengehst: den liebenden, ausgebreiteten Arme deines Herrn. Amen.