21.03.2012 | Mittwoch nach Laetare

VIERTE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „DAS WORT VOM KREUZ“:
„DAS WORT VOM KREUZ – NACH JOHANNES“

Sein Anblick ist uns lieb und wohlvertraut – der Kruzifixus, der über dem Altar unserer St. Marienkirche hängt. Vielleicht ist er uns sogar schon so vertraut, dass wir gar nicht mehr genau hinschauen, was und wer uns da eigentlich vor Augen gestellt wird. Falls wir uns schon zu sehr daran gewöhnt haben, sei es uns in Erinnerung gerufen: Hier wird uns zunächst einmal ein abscheuliches Verbrechen vor Augen gehalten: eine brutale Hinrichtung, ja, ein brutal Hingerichteter. Der hängt da an diesem Folterinstrument und stirbt. Doch dieser romanische Kruzifixus stellt uns zugleich in diesem furchtbaren Geschehen noch etwas anderes vor Augen: Dieser brutal Hingerichtete steht zugleich, herrscht vom Kreuz herab, erweist sich selbst noch und gerade am Kreuzesbalken als der Sieger über alle gottfeindlichen Mächte, über Sünde, Tod und Teufel.

Was uns hier in unserer St. Marienkirche optisch vor Augen gestellt wird, das beschreibt der Evangelist St. Johannes mit Worten in seinem Evangelium, leitet uns dazu an, in dem, was er schreibt und berichtet, zweimal hinzusehen und hinzuhören, die Tiefendimension wahrzunehmen, die sich in dem, was er in seinem Evangelium schildert, verbirgt. Und dies gilt gerade auch für seinen Bericht von der Kreuzigung.

Als Johannes damals sein Evangelium verfasste, musste er sich mit Irrlehrern auseinandersetzen, die sich Jesus ganz anders vorstellten, als er, Johannes, dies aus seiner eigenen Erfahrung bezeugen konnte: Für sie war Gottes Sohn nicht wirklich Mensch geworden, sondern hatte nur so etwas wie einen Scheinleib. Denn dass Gott wirklich in unsere materielle Welt hinabsteigen könnte, das konnten sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Entsprechend sahen sie es als wesentliche Aufgabe des Gottessohnes mit seinem Scheinleib an, dass er die Menschen über den göttlichen Seelenfunken in ihrem Inneren aufklärte und sie damit dazu veranlasste, sich von dieser materiellen Welt abzuwenden und sich allein der geistigen Welt zuzuwenden. Für eine wirkliche Kreuzigung war in der Vorstellung dieser Irrlehrer kein Platz, und so stellten sie es sich beispielsweise so vor, dass Jesus nur scheinbar dort am Kreuz gehangen habe und sich in Wirklichkeit rechtzeitig vor der Kreuzigung wieder in höhere geistige Sphären verabschiedet habe. Der da am Kreuz hing, war in Wirklichkeit gar nicht mehr der Jesus Christus, der vorher den Leuten die Erkenntnis ihres göttlichen Wesenskerns vermittelt hatte. Diese Irrlehre geisterte im Übrigen auch noch Jahrhunderte später durch den Vorderen Orient, denn auch Mohammed lernte Vertreter dieser Irrlehre noch kennen und ließ sich durch sie zu seiner Behauptung im Koran inspirieren, dass Jesus in Wirklichkeit gar nicht gekreuzigt worden sei.

Johannes wusste es besser, und so schildert er, wenn man genau hinguckt, immer wieder sehr deutlich, ja drastisch, was die Kreuzigung für Jesus bedeutete. Er selbst, der Gottessohn, ist es, der da gekreuzigt wird, daran lässt Johannes keinen Zweifel. Aber er macht zugleich deutlich: Diese Kreuzigung war nicht nur eine Art von Stunt-Show, sondern ein sehr reales Geschehen mit sehr realen Konsequenzen: Da schildert Johannes beispielsweise sehr genau, dass man Jesus nicht nur die Kleider, sondern auch das Gewand auszog. Das klingt für uns erst einmal harmlos, doch man muss wissen, dass dieses Gewand damals die Funktion unserer heutigen Unterhose hatte: Wenn einem dieses Untergewand ausgezogen wurde, dann stand man oder hing man vor den Leuten splitternackt da. So drastisch beschreiben dies die anderen Evangelien nicht, und da dieser Anblick für unser Empfinden geradezu unerträglich ist, hat die kirchliche Kunst Jesus dann doch lieber wieder ganz schnell ein in Wirklichkeit nicht vorhandenes Tuch um die Lenden geschlungen.

Weiterhin schildert Johannes genau, dass Jesus den Essig im Schwamm, der ihm auf dem Ysoprohr hingehalten wurde, auch tatsächlich getrunken hat: Er hatte nicht nur einen Scheinleib, sondern hatte Durst, musste und konnte wirklich trinken. Und dann finden wir auch nur bei Johannes die Schilderung der Feststellung des Todes Jesu: Der Soldat öffnet mit einer Lanze die Seite Jesu, und es fließen Blut und Wasser heraus. Jesus war nicht nur scheintot, sondern wirklich tot, ließ nicht nur einen Phantomleib am Kreuz zurück.

Ganz massiv und realistisch schildert Johannes das Kreuzigungsgeschehen und seine Konsequenzen – und doch lässt er uns in dem, was er da über die Kreuzigung Jesu zu berichten weiß, noch sehr viel mehr wahrnehmen, wenn wir denn nur genauer hinschauen und hinhören. Das, was wir noch mehr wahrnehmen können, stellt nicht in Frage, relativiert nicht, was ich gerade geschildert habe. Aber es gibt dem, was da geschildert wird, noch einmal einen viel tieferen Sinn.

Von der Kreuzigung Jesu ist bei Johannes nicht erst am Schluss des Evangeliums die Rede, sondern schon gleich ganz am Anfang. Schon im ersten Kapitel verkündigt Johannes der Täufer: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Jesus ist das wahre Passahlamm, das schließlich am Passahfest geschlachtet wird, das Opferlamm für die Sünden der Welt. Und eben darum betont Johannes am Ende, dass Jesus im Unterschied zu den beiden anderen Verbrechern, die mit ihm am Kreuz hingen, die Beine nicht gebrochen wurden, womit man dem Sterben von Gekreuzigten kräftig nachhalf. Nein, Jesus wurden die Beine nicht gebrochen, denn es gab eine biblische Vorschrift zur Feier des Passahmahls, dass dem Passahlamm keine Knochen gebrochen werden durften. Es war eben nicht nur Zufall, dass Jesus ein bisschen eher starb als die beiden anderen: Auch darin wird schließlich noch erkennbar, dass er, Jesus, das wahre Passahlamm ist.

Und dieses Passahlamm trägt die Sünden der Welt, so betont es Johannes. Immer wieder zieht sich durch sein Evangelium der Hinweis darauf, dass die Sendung Jesu Bedeutung für die ganze Welt hat, wahrlich universal ist. Und dies gilt auch für seinen Tod am Kreuz: Nur Johannes berichtet, dass die Inschrift über dem Kreuz Jesu in lateinischer, griechischer und hebräischer Sprache abgefasst war, sodass tatsächlich alle Welt sie lesen konnte. Was scheinbar nur eine kleine Gemeinheit des Pilatus war, um gleichermaßen die Juden und Jesus lächerlich zu machen, ist in Wirklichkeit die erste Missionspredigt der Kirchengeschichte: Pilatus verkündigt mit dieser Kreuzesinschrift, ohne es zu ahnen, die Wahrheit: Da am Kreuz hängt der König der Juden, jawohl, ein König.

Hoheit zeichnet diesen König aus, so stellt es uns St. Johannes vor Augen: Bis in den letzten Augenblick seines Lebens behält er das Heft des Handelns in der Hand, selbst noch mit ans Kreuz genagelten Armen: Johannes betont, dass Jesus den Kreuzesbalken selber getragen hat, und dann beschreibt er, wie Jesus selber noch am Kreuz alles Nötige regelt, Maria und den Jünger, den er lieb hatte, einander zuführt, wie er selber nach dem Getränk verlangt, und wie er selber auch das Ende seines Leidens markiert: „Es ist vollbracht.“ Da lässt uns Johannes in der tiefsten Erniedrigung des Gekreuzigten zugleich den erhöhten Christus erkennen, und in der Tat: In dieser Doppeldeutigkeit gebraucht Jesus selber dieses Wort bei Johannes: Immer wieder redet er von seiner Erhöhung – und meint damit doch nicht seine Auferstehung oder Himmelfahrt, sondern ganz wörtlich seine Aufhängung an einem Kreuzesbalken, ein paar Meter oberhalb derer, die von unten dabei zuschauten. Doch in dieser furchtbaren Erhöhung sollen wir zugleich, so prägt es uns St. Johannes ein, die Herrlichkeit des Sohnes Gottes schauen, die wir nirgendwo anders als im Antlitz des Gekreuzigten sehen und erkennen können.

Was am Kreuz von Golgatha geschah, hat zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Zukunft – eben dies ist ein weiteres Anliegen des Evangelisten Johannes in seiner Schilderung der Kreuzigung: Wenn Jesus seine Mutter und den Lieblingsjünger einander zuführt, dann erkennt Johannes darin, wie Jesus diejenigen, die nach Ostern zum Glauben an den Gekreuzigten finden, an die Kirche weist, deren Urbild Maria, die Mutter Gottes, ist: Glaube an Jesus, den am Kreuz erhöhten Herrn, hat seinen Ort in der Kirche, die für die Glaubenden ihre Mutter ist.

Und was die Kirche wesenhaft bestimmt, ergibt sich ebenfalls unmittelbar aus dem Kreuzigungsgeschehen, so lässt es uns St. Johannes erkennen: Blut und Wasser, die aus der Seitenwunde Jesu fließen, sind eben nicht bloß ein medizinisches Phänomen, das den tatsächlich eingetretenen Tod Jesu bestätigt. Sondern Blut und Wasser sind bei Johannes in seinem Evangelium ganz deutliche Verweise auf die Taufe und das Heilige Mahl. Beide Sakramente sind unmittelbar im Kreuzestod Jesu begründet und erhalten von ihm allein her ihre Kraft. Und umgekehrt gilt: Wer an Christus, den Gekreuzigten glaubt, der weiß auch, wo ihm die Auswirkungen seines Kreuzestodes ausgeteilt werden – eben in den Heiligen Sakramenten. Wer meint, an Christus ohne die Sakramente glauben zu können, hat noch nicht begriffen, was sich dort auf Golgatha tatsächlich abgespielt hat, ja, wie wir an Christi Tod Anteil bekommen können, so macht es uns St. Johannes hier deutlich.

Unser Kruzifixus hängt direkt über dem Altar: Der Kreuzestod Christi und die Austeilung seines Leibes und Blutes im Altarsakrament, sie gehören für uns Christen untrennbar zusammen. Ja, es ist ganz offensichtlich: Der heilige Johannes hat beim Bau dieser Kirche ganz kräftig mitgewirkt! Amen.