18.03.2012 | Philipper 1,15-21 | Laetare

Wie sich der Pastor Youcef Nadarkhani wohl in seiner Todeszelle im Iran fühlt? Einen einzigen Satz müsste er nur sagen, und er wäre frei: „Ich glaube, dass Gott keinen Sohn hat und dass Mohammed sein Prophet ist.“ Ein einziger Satz, und er könnte zurückkehren zu seiner Frau und zu seinen beiden Kindern. Doch Youcef Nadarkhani spricht diesen Satz nicht, ist nicht bereit, sein Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes aufzugeben – und so sitzt er nun da und wartet auf seine Hinrichtung. Wie er sich dort in seiner Zelle nun fühlt? Wir wissen es nicht. Es mag sein, und das wäre ja auch nur allzu verständlich, dass er tieftraurig ist und weint, dass er Angst hat, jedenfalls sehr bedrückt ist. Und es mag sein, dass die Aussicht, Christus bald schauen zu dürfen, dass die Erfahrung seiner Gegenwart auch dort in der Todeszelle ihn ruhig und gelassen macht, ihn vielleicht gar fröhliche Lieder singen lässt.

Unsere heutige Predigtlesung ist ebenfalls in einer Todeszelle geschrieben worden, ist geschrieben worden von einem, der auch nicht wusste, ob er vielleicht schon morgen zur Hinrichtung abgeführt wird, der nicht wusste, ob ihm vielleicht doch noch einmal neu das Leben, die Freiheit geschenkt wird. Wie Paulus sich dort in seiner Zelle gefühlt hat – wir wissen es auch nicht. Paulus gibt uns hier keine tieferen Einblicke in sein Seelenleben, schildert uns nicht seine Emotionen, die ihn vielleicht des Nachts in der dunklen Zelle überkommen haben mögen. Doch halt! – So mag jemand einwenden: Redet Paulus hier in den Versen unserer heutigen Predigtlesung nicht dauernd davon, dass er sich freut? Ist von daher nicht klar, dass er dort in seiner Zelle offenbar bester Laune und in richtig guter Stimmung war?

O nein, das ist überhaupt nicht klar, denn die Freude, von der Paulus hier den Christen in Philippi schreibt, ist keine bloße Gefühlsregung, keine Emotion, erst recht keine Stimmung. Sondern diese Freude, von der Paulus hier berichtet, ist eine Gestalt des Glaubens, die sehr viel tiefer reicht, die gerade nicht von äußeren oder inneren Umständen, nicht von positiven Erfahrungen oder dem Hormonspiegel abhängt. Diese Freude hat selbst dann Bestand, wenn man ängstlich oder traurig, besorgt und ratlos ist, wenn äußerlich betrachtet überhaupt kein Grund zu ihr besteht.

Und diese Freude ist nun nicht bloß etwas, was man in einer Todeszelle als Christ erleben kann, sondern diese Freude will der Apostel auch uns vermitteln, uns, die wir in unserem Leben ja auch die ganz Klaviatur von Gefühlen und Emotionen kennen, von Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung bis hin zu Fröhlichkeit und Glücksgefühlen. Ja, so macht es uns der Apostel Paulus deutlich, die Freude, die uns im Glauben an Christus begleitet und bestimmt, die hat Bestand auch angesichts von scheinbar völlig gegenteiligen Erfahrungen, die hat Bestand auch
- angesichts von Enttäuschungen in der Kirche
- angesichts von persönlichen Problemen
- angesichts des Todes

I.
Wir wissen nicht genau, wo der Apostel Paulus im Gefängnis saß, als er seinen Brief an die Christen in Philippi schrieb. Viele Ausleger vermuten, er habe ihn wohl während eines Gefängnisaufenthalts in Ephesus geschrieben, den er auch an anderer Stelle in seinen Briefen erwähnt. Ephesus war für ihn kein ganz einfaches Pflaster, auch kirchlich gesehen. Da waren auch schon andere christliche Missionare gewesen – und die mögen nicht unbedingt begeistert gewesen sein, als Paulus da nun in ihrer Stadt auftauchte und mit seiner Persönlichkeit dort sehr schnell prägend wirkte. Einige waren vielleicht sogar ganz froh, als Paulus im Gefängnis verschwand und sie nun wieder die Gemeinde für sich hatten; andere hielten es wohl für etwas übertrieben und überflüssig, dass der Paulus sich dort mit seiner kompromisslosen Verkündigung gleich ins Gefängnis hatte werfen lassen. Hätte er die ganze Angelegenheit nicht auch etwas diplomatischer verpacken können, hätte er nicht darauf verzichten können, mit seinen Predigten andere vor den Kopf zu stoßen? Ein Knacki im Gefängnis war doch eigentlich kein wirklich schönes Aushängeschild für eine Gemeinde!

Paulus bekam von all dem, was sich da außerhalb der Gefängnismauern abspielte, nur um ein paar Ecken etwas mit – und er konnte sich auch nicht dagegen wehren, wie zum Teil dort in der Gemeinde nun, da er im Gefängnis saß, über ihn gesprochen wurde. Allen Grund hätte er dazu gehabt, sauer zu sein, verletzt zu reagieren angesichts des Verhaltens ihm gegenüber, das einige der Prediger dort nun an den Tag legten, angesichts der kleinen menschlichen Gemeinheiten, die er dort in der christlichen Gemeinde nun beobachten konnte. Doch dem Apostel geht es hier nicht um seine persönlichen Befindlichkeiten; ihm geht es nur um eines: Dass Christus verkündigt wird auf jede Weise, ganz gleich, was für Motive die einzelnen Verkündiger dabei auch antreiben mögen. Und weil das geschieht, weil Christus verkündigt wird, wenn auch zum Teil aus fragwürdigem Antrieb und von Menschen mit nicht ganz astreinem Charakter, darum freut sich der Apostel dort in seiner Todeszelle, stellt seine menschliche Enttäuschung ganz zurück hinter das eine, was zählt: dass Christus verkündigt wird auf jede Weise.

Und diese Freude will der Apostel nun auch mit uns teilen. Gewiss, seine Erfahrungen sind noch einmal ganz andere als die, die wir in der Kirche, in der Gemeinde machen mögen. Wir haben bei uns in der Gemeinde schon allein auf der ganz menschlichen Ebene ganz viel Grund zur Freude, weil wir hier bei uns eben gerade nicht von lauter Fieslingen, sondern von jeder Menge netter Menschen umgeben sind. Aber Enttäuschungen in der Kirche, in der Gemeinde mögen auch uns nicht erspart bleiben. Pastoren können ihren Gemeindegliedern mitunter zur Anfechtung werden, wenn ihre menschlichen Schwächen allzu deutlich erkennbar werden, wenn das, was sie predigen, und das, was sie tun, einfach nicht zusammenzupassen scheinen oder auch tatsächlich nicht zusammenpassen. Das wird so manchem von euch gewiss auch bei mir so ergehen, dessen bin ich mir wohl bewusst. Oder es können auch andere Gemeindeglieder sein, die einem zu solch einem Anstoß werden können, deren Verhalten für uns so wenig mit ihrem Glauben übereinzustimmen scheint, ja, die es uns vielleicht sogar schwer machen, uns auch weiter zum Gottesdienst, zur Gemeinde zu halten, wenn wir sie dort immer wieder vor Augen haben. Und dass auch in einer christlichen Kirche Neid und Missgunst nicht ausbleiben, wo es in einer Gemeinde besser zu laufen scheint als in einer anderen, auch das sind ja Erfahrungen, die uns nicht ganz fremd sein mögen.

Doch Paulus ermutigt uns hier: Lasst euch nicht von dem Blick in die menschlichen Abgründe lähmen, die man leider durchaus auch unter Christen wahrnehmen kann. Erwartet nicht, dass ihr in einer Kirche oder Gemeinde nur moralisch vollkommene Menschen vorfindet. Lasst euch nicht durch menschliche Enttäuschungen davon abhalten, bei Christus und seiner Kirche zu bleiben. Denn wirklich entscheidend ist doch nur eins: Dass Christus verkündigt wird auf jede Weise. Darüber sollt und dürft ihr euch freuen auch hier in unserer Gemeinde, dass eben dies geschieht, dass ihr hier immer wieder Christus gepredigt bekommt, auch wenn ihr mit dem, der ihn predigt, vielleicht nicht immer so ganz klarkommen mögt. Darüber sollt und dürft ihr euch freuen hier in der Gemeinde, dass Christus hier gepredigt wird, auch wenn ihr euch über das eine oder andere Gemeindeglied ärgern mögt. Lasst euch dadurch jedenfalls nicht davon abhalten, auch weiter diese Christuspredigt hier zu hören und Christus im Sakrament zu begegnen! Denn das allein zählt, das allein schenkt uns die Freude, die stärker ist und tiefer reicht als alle allzu menschlichen Gefühle!

II.
Doch Paulus bewegten eben nicht bloß die menschlichen Enttäuschungen, die er nun während seines Gefängnisaufenthalts erfuhr. Viel unmittelbarer stellte sich für ihn natürlich die Frage, wie es überhaupt mit ihm weitergehen sollte, was für ein Schicksal ihn denn nun demnächst erwartete. Menschlich gesprochen war das völlig offen; er wusste nicht, ob ihm die Freilassung, Folter oder Tod bevorstanden. Doch Paulus legt an seine Zukunft einen ganz anderen Maßstab an – einen Maßstab, angesichts dessen völlig klar ist, was ihn im Weiteren erwartet, was aus seinem Gefängnisaufenthalt wird: „Ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird“, schreibt er. Das heißt: Ich weiß: Was auch geschehen wird: Es muss am Ende doch dazu dienen, dass ich gerettet, dass ich selig werde. Ja, was auch geschehen wird: Christus selber wird mich als Werkzeug gebrauchen, damit er, Christus, ganz groß gemacht wird – wie auch immer mein weiterer Weg aussehen mag. Und darüber kann sich der Apostel von Herzen freuen: Es wird tatsächlich alles gut in meinem Leben. Keine noch so schlimme Erfahrung wird mich von Christus abbringen, wird mich aus seiner Gemeinschaft reißen können. Und in dieser Gewissheit wird der Apostel nun noch bestärkt dadurch, dass er weiß, dass er von der Gemeinde in Philippi mit ihren Gebeten getragen wird. Wie sollte er sich da nicht freuen können, ja selbst in seiner Todeszelle?

Wie tröstlich und ermutigend sind diese Worte, die der Apostel hier schreibt, auch für uns: Da mögen auch wir manchen Grund haben, sorgenvoll in die Zukunft zu schauen: Wie wird es mit mir, mit meinem Leben weitergehen? Werde ich noch einmal gesund werden? Werde ich noch mal einen festen Arbeitsplatz bekommen? Werde ich die Prüfungen bestehen, die vor mir liegen? Werde ich hier in Deutschland bleiben können oder am Ende doch abgeschoben werden? Menschlich gesprochen fällt es da oft genug schwer, auch nur ein wenig Optimismus zu verbreiten. Und doch dürfen auch wir mit dem Apostel ganz gewiss sein: Es wird schließlich alles gut werden – nein, nicht deshalb, weil sich unbedingt unsere Wünsche und Hoffnungen erfüllen, sondern weil Gott all das, was wir in unserem Leben erfahren und erfahren werden, dazu dienen lässt, dass auch wir selig, dass auch wir gerettet werden. Auch das Schwere und Unverständliche in unserem Leben bekommt von daher seinen Sinn; wir dürfen darauf vertrauen, dass Christus weiß, was er auch mit uns macht, dass er auch uns auf den Wegen, die er uns führt, als seine Werkzeuge gebrauchen will. Und darüber dürfen wir uns freuen, so freuen, wie sich eben wirklich nur Christen freuen können, die wissen, dass nichts und niemand sie aus der Hand ihres Herrn reißen kann. Freuen dürfen wir uns darüber, dass wir den kennen, der die Wege unseres Lebens lenkt und führt, freuen dürfen wir uns darüber, dass die Zusage unserer Taufe felsenfest steht, freuen dürfen wir uns auch darüber, dass wir Glieder einer christlichen Gemeinde sind und wir gerade da, wo es uns schlecht geht, getragen werden von der Fürbitte der anderen. Nein, diese Freude brauchen wir uns nicht selber aus unserem Inneren hervorzukitzeln; diese Freude ist und bleibt Frucht und Wirkung des Geistes Gottes, der auch jetzt wieder bei euch wirkt und tätig ist.

III.
Und diese Freude, von der der Apostel hier schreibt, die lässt sich selbst vom Tod nicht unterkriegen. „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“, schreibt der Apostel hier. Das klingt schön, das klingt eingängig; doch wir müssen uns noch einmal vor Augen halten, was das eigentlich heißt:
Wenn für mich das Wichtigste im Leben Gesundheit heißt, dann wird mir dieses Wichtigste im Leben früher oder später einmal genommen werden. Wenn für mich das Wichtigste im Leben Geld und Besitz ist, dann werde ich früher oder später erfahren, wie wenig mir dies alles, was ich habe, letztlich weiterhilft. Wenn für mich das Wichtigste im Leben die Familie ist, dann wird mir vielleicht so manche Enttäuschung nicht erspart bleiben, werde ich vielleicht gar erfahren müssen, wie mir auch dieses Wichtigste auf die eine oder andere Weise genommen werden kann. Wenn aber das Wichtigste im Leben für mich Christus ist, das Leben in seiner Gemeinschaft, dann kann mir dieser Lebensinhalt durch nichts und niemanden genommen werden, noch nicht einmal durch den Tod. Alles Andere mag ich spätestens in meiner Todesstunde abgeben und loslassen müssen. Doch von Christus brauche ich mich auch in meinem Sterben nicht zu verabschieden – im Gegenteil: Der hält mich auch und gerade dann, wenn mich sonst keiner mehr halten kann, führt mich durch den Tod dorthin, wo ich ihn selber schauen werde, wo mir einmal endgültig klar werden wird, warum er, mein Herr, mich so und nicht anders geführt hat. Und darum ist für uns Christen das Sterben in der Tat keine Katastrophe, nichts, was wir in unserem Leben möglichst verdrängen müssten, sondern für uns Christen ist das Sterben allen Ernstes Gewinn.

Wenn wir uns bei einer Beerdigung von einem Christenmenschen verabschieden, dann dürfen wir in der Tat feiern, dass dieser Mensch durch sein Sterben gewonnen hat, dass ihm das Beste widerfahren ist, was ihm überhaupt geschehen konnte. Und darum singen wir als Christen bei christlichen Beerdigungen, singen fröhliche Lieder, Lieder von dem Trost und der Hoffnung, die wir haben, Lieder von ihm, Christus, der die Macht des Todes gebrochen hat, der als der Sieger auferstanden ist und uns an seinem Sieg Anteil gibt: Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein.

Es mag sein, dass uns die Tränen die Wangen herunterlaufen, wenn wir diese Lieder singen, es mag sein, dass uns der Abschied von einem geliebten Menschen das Herz zerreißt. Doch selbst und gerade dann kann uns auch kein noch so schmerzliches Gefühl die Freude nehmen, die wir als Christen in allem Leide haben dürfen. Denn was auch geschehen mag: Es bleibt doch dabei: „Dennoch bleibst du auch im Leide, Jesu, meine Freude!“ Amen.