10.11.2013 | St. Lukas 18,1-8 | Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Pfarrer Dr. Gottfried Martens


Wenn im Verwaltungsgericht Berlin eine Gerichtsverhandlung in einem Asylverfahren angekündigt wird, dann heißt es oben auf dem Aushang immer: „Mohammad soundso gegen die Bundesrepublik Deutschland“. Was für ein ungleiches Gegenüber! Auf der einen Seite ein Asylbewerber, der von sich aus kaum dazu in der Lage ist, sein Recht irgendwie angemessen geltend zu machen – und auf der anderen Seite die Bundesrepublik Deutschland: mehr als 80 Millionen Menschen, von denen die meisten sicherlich wenig Interesse an dem Erfolg dieses Asylbewerbers in seinem Verfahren haben. Da überkommt einen dann schon leicht das Gefühl der Ohnmacht. Und dieses Gefühl der Ohnmacht wird dadurch nicht gemindert, dass man sich klar macht, dass es ganz von der Person des jeweiligen Richters abhängt, ob man denn in diesem Verfahren überhaupt eine Chance hat oder nicht, ob es ein Richter ist, der sich vielleicht sogar damit brüstet, noch nie einem Asylbewerber Recht gegeben zu haben, oder ob es einer ist, der es selber als Problem empfindet, als staatlicher Richter über die Intensität des christlichen Glaubens eines Asylbewerbers befinden zu sollen, ob es einer ist, der selber um seine Grenzen in diesen Fragen weiß, oder ob es einer ist, der allen Ernstes seine Vorstellungen vom christlichen Glauben für das Maß aller Dinge hält. Ja, ohnmächtig kommt man sich da vor, wenn man weiß, dass dieser Richter am Ende ein Urteil sprechen wird, gegen das nach unserem Asylverfahrensgesetz praktisch keine Berufung möglich ist, das grobe Fehler enthalten kann und trotzdem nicht angefochten werden kann. Ja, da beginnt man dann so ein wenig nachzuempfinden, wie der Witwe in der Predigtlesung des heutigen Tages damals wohl zumute gewesen sein muss.

Eine Witwe war sie, in ihrem sozialen Stand in der Gesellschaft durchaus den Asylbewerbern von heute vergleichbar. Ganz, ganz unten stand sie, ja mehr noch: Im Unterschied zu Asylbewerbern hatte sie damals überhaupt keinerlei Rechtsansprüche. Eine Frau war sie, und damit überhaupt nicht rechtsfähig, wenn sie denn keinen Mann hatte, der für sie eintrat. Und Rechtsanwälte gab es damals auch nicht. Eigentlich war es ureigenste Aufgabe des Richters selber, für das Recht der Schwachen einzustehen, gleichsam Richter und Rechtsanwalt in einer Person zu sein. Aber wenn man Pech hatte wie diese Witwe hier, dann geriet man eben an einen Richter, der sich weder von seiner Verantwortung vor Gott noch von dem beeindrucken ließ, was die Menschen so über ihn dachten. Wenn der Richter keine Lust auf Gnade hatte, dann war man als Witwe eben vollkommen ohnmächtig.

Doch nun geht es Jesus hier in diesem Gleichnis, das er erzählt, nicht um irgendwelche Justizkritik, weder zur damaligen noch zur heutigen Zeit. Sondern er gebraucht diese Geschichte, um uns etwas zu erzählen über unser Verhältnis zu Gott.

Ohnmächtig mögen wir uns alle miteinander, ob nun Asylbewerber oder nicht, immer wieder in unserem Leben vorkommen, ohnmächtig gegenüber dem, was uns im Leben widerfährt, ja, so glauben wir, was uns im Leben von Gott selber widerfährt: Da läuft in unserem Leben mit einem Mal manches so ganz anders, als wir uns dies erhofft und vorgestellt hatten, da empfinden wir das, was wir erleben, als zutiefst ungerecht, fragen uns, warum wir gerade davon betroffen sind und nicht andere. Da treffen uns Schicksalsschläge oder menschliche Gemeinheiten, da müssen wir vielleicht gar mit dem Tod eines geliebten Menschen klarkommen – und merken so deutlich, wie hilflos wir dem allen ausgeliefert sind, so gar nichts dagegen unternehmen können.

Ja, da liegt es dann so nahe, Gott selber tatsächlich anzusehen wie solch einen Richter, von dem Jesus hier in diesem Gleichnis erzählt: einer, der völlig willkürlich entscheidet, gegen den man einfach keine Chance hat, bei dem man sich damit abfinden muss, dass er offenbar ein ganz anderes Verständnis von Gerechtigkeit hat als man selber.
Solch ein Bild von Gott ist vielen von euch seit eurer Kindheit vermittelt worden im Islam: der große, ferne Gott, unerreichbar für uns Menschen, ein Gott, gegen den wir nicht aufbegehren sollen oder dürfen, dem wir uns zu unterwerfen haben, ganz gleich, was für ein Leid er uns auch schicken und zufügen mag. Inschallah – wir haben ja doch keine Chance gegen diesen Gott! Doch eine ähnliche Frömmigkeitshaltung hat es durchaus auch im christlichen Glauben immer wieder gegeben, dass Menschen ebenfalls gesagt wurde, sie müssten alles, was Gott ihnen schickt, einfach demütig annehmen und schlucken, dürften nichts dagegen sagen oder einwenden.

Doch Jesus lehrt uns hier in diesem Gleichnis, anders mit Gott umzugehen: Er ermutigt uns dazu, uns gegenüber Gott nicht anders zu verhalten als die Witwe hier in unserer Geschichte. Er ermutigt uns dazu, immer und immer wieder bei Gott vorstellig zu werden, uns bei ihm zu beschweren angesichts des Leides und Unrechts, das wir in unserem Leben erfahren. Wir dürfen Gott all das klagen, was uns bedrückt und auf der Seele liegt und womit wir uns einfach nicht abfinden können: die furchtbaren Erfahrungen und seelischen Verletzungen, die wir aus unserer Heimat und von unserer Flucht hierher nach Deutschland mitgebracht haben, die Ängste, wieder hier aus Deutschland abgeschoben zu werden, die Sorgen um unsere Eltern und Verwandten, die Sorgen um unsere Kinder, unsere Einsamkeit, unsere Bitterkeit über das, was uns in unserem Leben widerfahren ist. „Schaffe mir Recht, Gott“, so dürfen wir es Gott immer und immer wieder ins Ohr rufen, dürfen ihn damit immer wieder nerven, sollen mit unseren Klagen, mit unseren Rufen nach einer neuen, gerechten Welt nicht aufhören.

Nein, Jesus verspricht uns hier nicht, dass wir mit unseren Gebeten immer gleich bekommen, was wir uns wünschen. Lange liegt die Witwe dem Richter in den Ohren, bevor er schließlich nachgibt und der Witwe zu ihrem Recht verhilft. Lange sollen auch wir Gott in den Ohren liegen, sollen nicht denken, dass unser Rufen und Bitten sinnlos ist, nur weil wir so lange auf eine Antwort von Gott warten müssen. Nein, sinnlos ist das ganz gewiss nicht, denn Gott ist eben doch ganz anders als der Richter, von dem Jesus hier in diesem Gleichnis erzählt. Ja, genau das ist der eigentliche Clou, der eigentliche Knackpunkt in dieser Geschichte, dass wir eben dies erkennen: Gott ist kein Willkürgott, kein Gott, dem es völlig egal ist, wie es uns Menschen geht, ob wir Unrecht leiden oder nicht. Gott ist kein Rachegott, keiner, der nur darauf wartet, es uns in unserem Leben zu vergelten, wenn wir irgendwo gesündigt haben. Geduldig ist Gott, bereit, zu vergeben, bereit, auch einzutreten für das Recht des Schwachen. Wenn wir zu Gott beten, wenn wir ihm unser Leid und unsere Not klagen, dann rennen wir nicht gegen eine Betonwand an, dann dürfen wir gewiss sein: Dieser Gott liebt uns, liebt uns so sehr, dass er seinen einzigen Sohn für uns hat am Kreuz sterben lassen. Dieser Gott liebt uns, es lässt ihn nicht kalt, wenn wir ihn anflehen, uns zu unserem Recht zu verhelfen.

Solange wir hier auf Erden leben, werden wir dennoch mitunter lange Gott in den Ohren liegen, wird Gott nicht alles Leid, das uns bedrückt, einfach verschwinden lassen und rückgängig machen. Aber Gott verspricht uns eben noch Größeres: Er verspricht uns, tatsächlich eine ganz neue Welt zu schaffen, in der es endgültig kein Leid, keinen Tod, keine Folter, keine Abschiebung, ja, überhaupt kein Unrecht mehr geben wird. Und wann kommt diese neue Welt? Wenn sich endlich alle Menschen guten Willens zusammengetan haben, wenn endlich alle Resolutionen des Weltsicherheitsrats umgesetzt sind, wenn endlich die richtigen Regierungsprogramme verabschiedet worden sind? O nein, wir werden diese neue Welt niemals schaffen. Die neue Welt, sie kommt einzig und allein, wenn der Menschensohn kommen wird, wie Jesus es hier formuliert, wenn er, Jesus, selber wiederkommen wird. Und wann wird das sein? Hoffentlich bald, hoffentlich so schnell wie möglich! O nein, wir sollen den Menschen keine Angst vor Harmageddon machen, wir sollen keine Weltuntergangshysterien entfachen. Im Gegenteil: Freuen sollen und dürfen wir uns auf dieses Kommen des Herrn, auf unsere Erlösung. Unsere Aufgabe als Christen ist es von daher, tagtäglich zu rufen: „Dein Reich komme“, „Amen, ja, komm, Herr Jesu!“ Nicht aufhören sollen wir mit diesem Ruf, auch wenn nun schon fast 2000 Jahre vergangen sind, seit Jesus diese Worte unserer Predigtlesung gesprochen hat. Werdet nicht müde, um das Kommen des Herrn zu bitten, es von Gott zu erflehen, ja, es Tag für Tag zu erwarten! Lasst die Bitte um die baldige Wiederkunft des Herrn immer wieder eure erste und wichtigste Bitte sein! Es ist doch das Allerbeste, das Allerschönste, was uns passieren kann, ja, was uns passieren wird! Gott wird uns Recht schaffen, wird dafür sorgen, dass alles Unrecht dieser Welt einmal endgültig der Vergangenheit angehören wird.

Und weil wir das wissen, geben wir als Christen eben auch nicht auf, wenn es darum geht, Menschen schon hier und jetzt zu ihrem Recht zu verhelfen, geben wir nicht auf, wenn es darum geht, den Schwachen und Rechtlosen beizustehen, die Stimme für sie zu erheben. Weil wir um die Wiederkunft des Herrn wissen, treten wir für sie ein vor Gott, wo sie selber zu schwach sind, zu ihm zu rufen, ja, treten wir für sie ein auch vor den Instanzen, die in dieser vergehenden Welt Recht sprechen. Wir haben keinen Grund aufzugeben und zu resignieren. Gott wird den Seinen Recht schaffen, so hat er es uns versprochen. Amen, ja, komm, Herr Jesu! Amen!