29.12.2013 | Jesaja 49,13-16 | Erster Sonntag nach Weihnachten
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Es stand ganz allein auf dem Rastplatz in der Nähe von Limburg und weinte: ein sechsjähriges Mädchen, das von seiner Mutter im Stich gelassen worden war. Das Mädchen war gemeinsam mit seiner Mutter bei einer Pause aus dem Reisebus ausgestiegen. Doch irgendwann fuhr der Bus wieder los; die Mutter war drin, und das Mädchen stand immer noch draußen. Es konnte sich nur noch daran erinnern, dass der Bus irgendwie blau-weiß gestreift war. Ja, das passiert, dass Mütter ihre Kinder einfach vergessen, ja verlassen. In den meisten Fällen erinnern sich die Mütter dann doch relativ schnell an ihr Kind, geraten selber in Panik, dass sie es irgendwo vergessen haben, und versuchen, so schnell wie möglich wieder an ihr Kind heranzukommen. Aber es gibt tatsächlich auch diese Fälle, in denen Mütter ihr Kind ganz vergessen, ganz verdrängen, dass sie dieses Kind überhaupt haben, es manchmal dann sogar verhungern und verdursten lassen – unfasslich, aber leider doch wahr.

So ähnlich wie dieses Kind auf dem Rastplatz bei Limburg mag sich auch so mancher von uns schon einmal gefühlt haben: Nein, es wird in den meisten Fällen nicht unbedingt die Mutter gewesen sein, von der wir uns verlassen glauben; wohl aber kennt wohl so mancher dieses Gefühl, von keinem Geringeren als von Gott selbst, von seinem himmlischen Vater, verlassen zu sein: Wenn Gott mein Vater ist, warum lässt er mich dann hier so allein hängen? Warum lässt er mich jahrelang im Asylbewerberheim herumhängen, ohne dass ich irgendwie weiterkomme, ohne dass ich irgendeine Lebensperspektive für mich sehe? Warum lässt Gott mich jahrelang in der Duldung herumhängen, ohne dass ich sehe, wie da jemals wieder rauskomme, ohne dass ich sehe, dass ich hier in Deutschland jemals wieder ein freier Mensch werden kann? Warum lässt Gott das zu, dass ich ganz allein hier in Deutschland sitze, ohne meine Familie, dass ich meine kranke Mutter nicht sehen, sie nicht besuchen, sie nicht in die Arme schließen kann? Warum lässt Gott das zu, dass ich immer wieder von Menschen enttäuscht werde, denen ich vertraut hatte? Warum lässt Gott das zu, dass meine Lebensplanungen immer wieder durcheinandergeschüttelt werden? Warum lässt Gott das zu, dass ich krank werde, dass Menschen krank werden, die mir nahestehen? Offenbar hat Gott an mir kein Interesse mehr; offenbar hat er mich längst vergessen und verlassen, hat längst verdrängt, dass es mich gibt. Von Gott verlassen zu sein – ja, wenn wir uns mal klar machen, was das bedeutet, dann wäre das tatsächlich die schlimmste, die grausamste Erfahrung, die wir als Menschen machen könnten, ja das wäre in der Tat: die Hölle.

„Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – So klagte damals vor zweieinhalbtausend Jahren auch Zion, klagte Jerusalem und mit ihm das Volk Gottes. Jahrzehnte war es nun schon her, seit die Babylonier Jerusalem zerstört und seine Bevölkerung in das Exil verschleppt hatten. Und dort saßen sie nun, die Israeliten, weit entfernt von der Heimat, weit entfernt von dem Ort, an dem sie sonst Gott begegnet waren im Tempel. Nein, das war nicht bloß eine kurze Episode, das zog sich nun schon über so viele Jahre hin, dass es doch eigentlich offensichtlich war: Gott hatte sein Volk verlassen, wollte von ihm nichts mehr wissen, hatte es wohl schon längst vergessen.

Doch nun dürfen wir hier in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Tages etwas unglaublich Schönes miterleben: Derselbe Gott, von dem die Israeliten glaubten, er habe sie schon längst verlassen, meldet sich bei ihnen, macht ihnen deutlich, dass das in Wirklichkeit gar nicht stimmt, dass er sein Volk in Wirklichkeit überhaupt nicht vergessen und verlassen hat, sondern mit großer Liebe an ihm hängt. So etwas Ähnliches wie das, was wir hier in dieser Lesung miterleben dürfen, erleben wir mitunter vor dem Fernseher, wenn dort gezeigt wird, wie sich Freunde oder Familienangehörige, die über Jahrzehnte nichts mehr voneinander gehört hatten, in einer Fernsehshow wieder in die Arme schließen. Genau das passiert hier auch: Gott schickt einen Propheten los, und der übermittelt das so lange erwartete Lebenszeichen Gottes an sein Volk. Ach, er macht in Wirklichkeit noch mehr: Gott versucht alles, was ihm möglich ist, um den Israeliten klarzumachen, dass es sich tatsächlich anders verhält, als sie bisher gefühlt und geglaubt haben; Gott versucht alles, um die Herzen der Menschen, die er doch immer noch so sehr liebt, zurückzugewinnen.

Auf unsere ganz menschliche Erfahrung greift Gott hier zunächst einmal zurück: Ganz normal ist es doch erst einmal, dass eine Mutter ihr Kind nicht vergisst, dass sie immer wieder an ihr Kind denkt und es niemals aus ihrem Gedächtnis löschen kann. Oder könnte sich irgendeiner von euch vorstellen, dass die Mutter unseres heutigen Täuflings ihren Nikita jemals vergessen könnte, ihn jemals im Stich lassen könnte? Wie gesagt, es gibt sie, die erschreckenden Ausnahmen – sicher nicht bei Jacobis, aber leider doch anderswo. Doch Gott selber gehört ganz gewiss nicht zu diesen Ausnahmen. Gott vergisst sein Volk nie, vergisst niemals diejenigen, die zu ihm gehören, ja deren Vater er ist. Und damit die Israeliten ihm auch ja glauben, dass er es wirklich ernst meint mit seiner Nachricht, dass er sein Volk nicht vergessen hat, gebraucht Gott danach ein noch viel krasseres Bild – sehr anschaulich und geradezu umwerfend schön: Gott sagt: Ich habe dich in meine Hände eintätowiert. Ich habe dich immer vor Augen, denn auf deine Mauern, dein Bild schaue ich immer, ich blicke auf sie immer, wenn ich auf meine Hände blicke. Heutzutage gibt es ja spezielle Techniken, mit denen man irgendwelche Tattoos, die sich Leute irgendwo auf ihrem Körper haben anfertigen lassen, doch wieder mühsam entfernen lassen kann. Doch damals war klar: einmal eintätowiert, immer eintätowiert. Das wird man sein ganzes Leben nicht mehr los. Und genau das meint Gott: Niemals wieder kann ich dich vergessen und werde ich dich vergessen. Das Tattoo hält – hat genau dieselbe Haltbarkeit wie ich, Gott, selber – also ewig.

Zu den Israeliten im babylonischen Exil hat Gott diese Worte damals zuerst gesprochen. Aber wenn wir sie heute hier in unserer Dreieinigkeitskirche hören, dann dürfen wir gewiss sein: Diese Worte gelten auch uns. Sie gelten dem kleinen Nikita ganz persönlich, der heute hier getauft worden ist. Ihm hat Gott es im Wasser der heiligen Taufe auf den Kopf zugesagt: Jawohl, niemals werde ich dich verlassen. So wenig wie deine Mutter dich je verlassen und vergessen wird, ja sogar noch weniger werde ich dich verlassen und vergessen. Ja, auch deinen Namen habe ich bei mir in meine Hand eintätowiert, sagt Gott, den werde ich in meinem Leben nie wieder vergessen, werde darum auch dich niemals vergessen können! Was für eine Freude! Und die gilt eben nicht nur Nikita, die gilt einem jeden von uns, der hier am Taufstein oder anderswo durch das Wasser der Taufe Gottes Kind geworden ist oder es in der nächsten Zeit noch werden wird: Gott liebt dich noch mehr, als je eine menschliche Mutter ihr eigenes Kind lieben kann, Gott vergisst dich nicht, hat auch deinen Taufnamen immer vor Augen, wird darum auch dich niemals aus dem Blick verlieren.

Es fällt dir immer noch schwer, daran zu glauben? Dann schau dir das Kind in dem Futtertrog von Bethlehem an. Da ist Gott noch einmal einen Schritt weitergegangen als damals bei den Israeliten im Exil in Babylon. Da ist er nun selber persönlich zu uns Menschen gekommen, um uns gewiss zu machen: Ich will und werde euch nicht vergessen. Ja, auch mit seinem Tattoo ist er noch mal einen Schritt weitergegangen: Sich tätowieren zu lassen, tut ja ohnehin schon weh. Doch Gott hat sich schließlich sogar dicke Nägel durch seine Hände treiben lassen, nur aus Liebe zu dir, nur um dir zu zeigen, dass er wirklich dazu bereit ist, alles aufzugeben für dich, nur damit du niemals mehr denken musst, du seist von ihm verlassen. Ja, dazu hat er, der Sohn Gottes, am Kreuz geschrien: Mein Gott, warum hast du mich verlassen, damit du dies nie mehr zu rufen brauchst, damit dir die Hölle, die Gottverlassenheit für immer erspart bleibt. Gott verlässt dich nicht, Gott vergisst dich nicht, er bleibt auch dann bei dir, wenn du von ihm nichts spürst, wenn du in deinem Leben seine Spuren nicht mehr erkennen kannst. Gott lässt sich finden, Gott lässt sich antreffen, ja auch heute, hier am Altar, wenn er zu dir kommt, verborgen in den Gestalten von Brot und Wein, um dich zu trösten, um dich aufzurichten. Das ist die wirkliche Weihnachtsfreude, die nicht zu Ende geht, wenn dieser Weihnachtsbaum von der BSR abgeholt wird und die Krippe wieder in den Kirchturm gestellt wird. Das ist die Weihnachtsfreude, die Gott dir schenken will und die bleibt – bis einmal endgültig alles von dir abfallen wird, was dich jetzt noch zweifeln lässt, bis du einmal in alle Ewigkeit jubeln wirst über ihn, deinen Gott, mit seinen tätowierten Händen. Amen.