09.11.2014 | 1. Thessalonicher 5,1-11  Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Die Mauer ... wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind“, so äußerte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker auf einer Tagung aus Anlass des 500. Geburtstags von Thomas Müntzer am 19. Januar 1989. Ich gestehe, ich habe Herrn Honecker geglaubt. Ich habe es mir schlicht und einfach nicht vorstellen können, dass dieses Monstrum von Mauer, das Deutschland und Berlin in zwei Teile trennte und mit dem ich von Kindheit an aufgewachsen war, einfach an einem Abend in sich zusammenbrechen könnte, erst recht nicht noch zu meinen Lebzeiten. Heute vor 25 Jahren, weniger als zehn Monate nach der Ankündigung von Erich Honecker, fiel die Mauer, marschierten die Menschen in Scharen über die Bornholmer Brücke und fuhren mit ihren Trabis durch den Westen unserer Stadt. Ich saß damals in Oberursel vor dem Fernseher und konnte einfach nicht fassen, was ich da hörte und sah. Da hatte dieser Spuk mit einem Mal ein Ende, und es gab nur wenige, die eben dies tatsächlich so vorhergesehen hatten.

Ja, wir feiern heute am 9. November 2014 den Tag des Mauerfalls, den Tag, an dem ein Regime mit einem Mal in sich zusammenbrach, das versucht hatte, die eigene Bevölkerung mit Gewalt, ja mit immer neuen Morden daran zu hindern, das eigene Land zu verlassen. Zu den bewegendsten Augenblicken dieser Nacht des Mauerfalls gehörte es sicher, als ein Trompeter oben auf der Mauer den Choral anstimmte: „Nun danket alle Gott“. Ja, was an jenem 9. November 1989 geschah, war nicht allein das Ergebnis menschlicher Bemühungen, Folge des Mutes so vieler Menschen im Osten unseres Landes. Es war und bleibt ein Wunder Gottes, der es uns ermöglicht hat, als Christen gemeinsam in Ost und West in Freiheit unseren Glauben leben zu können. Und wenn wir heute auf den 9. November 1989 zurückblicken, dann denken wir auch daran, dass dies grundsätzlich Gottes Spezialität bleibt, Gewaltige vom Thron zu stürzen, nicht nur in Ostberlin, sondern auch in anderen Ländern dieser Welt, ja, geb’s Gott, auch in Teheran.

Um einen Mauerfall, sogar um einen von ganz anderen Dimensionen, geht es auch in der Predigtlesung dieses heutigen Sonntags. Da spricht der Apostel Paulus hier von dem Tag des Herrn, der kommen wird, von der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus. Und dann lese ich mir einige Predigtvorbereitungshilfen für diesen Sonntag durch – und was finde ich da? Honecker pur: Von der Wiederkunft Christi können wir doch heute als aufgeklärte Menschen nicht mehr reden; natürlich wird mit dieser Welt nicht mit einem Mal von heute auf morgen Schluss sein! Natürlich wird sie in 50 oder 100 Jahren noch bestehen, wenn bis dahin nicht irgendeine Umweltkatastrophe stattgefunden hat. Blindheit vor dem Tag des Kommens des Herrn – sie ist selbst in der Kirche weit verbreitet. Das Thema „Wiederkunft des Herrn“ hat man längst irgendwelchen obskuren Sekten überlassen.

Und wenn sich schon die Kirche weithin nicht mehr traut, noch von dem kommenden Tag des Herrn zu reden, ist es kein Wunder, dass die Menschen in unserem Land insgesamt von diesem Tag nichts mehr wissen, geschweige denn, dass sie sich darüber ernsthaft Gedanken machen würden, was das für sie denn bedeuten würde, wenn dieser Tag des Herrn mit einem Mal anbrechen würde. Nein, ganz auf die Apokalypse möchte man ja auch wieder nicht verzichten, und so kann man auf diversen scheinbar ganz seriösen Fernsehkanälen, etwa bei n-tv oder bei n24, eine Dokumentation nach der anderen sich anschauen, die uns vor Augen stellt, auf welche Weise unsere Erde irgendwann in den kommenden Jahrhunderten oder Jahrtausenden einmal untergehen wird. Mit einschlagenden Meteoriten kann man sich als moderner Mensch durchaus befassen, aber nicht damit, dass Christus kommen könnte und die Mauer vor unseren Augen, die den Blick auf ihn jetzt noch verdeckt, von einer Sekunde zur anderen zum Einsturz bringen könnte. Und so leben die meisten Menschen einfach vor sich dahin, als ob sie die Zukunft ihres Lebens planen und bestimmen könnten, wie sie wollten, verdrängen dabei oft genug auch ihren persönlichen Tod, sind fest davon überzeugt, dass ihnen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch allemal genügend Lebenszeit zur Verfügung steht. Und dieses Denken prägt, wie gesagt, auch die Einstellung so vieler Menschen in der Kirche, macht auch vor unserem eigenen Herzen nicht halt: Jetzt im Augenblick habe ich nicht so viel Zeit für Christus – aber später einmal, später wird sicher die Zeit kommen, wo ich mich auch wieder mehr mit ihm und seinem Wort beschäftigen werde.

„Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht, wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr.“ Das ist in der Tat sehr aktuell, was der Apostel Paulus hier schreibt, das trifft zumindest auf uns Menschen hier in Deutschland doch erstaunlich genau zu.

Aber nun ist es doch wichtig, genauer hinzuschauen, was der Apostel Paulus noch alles über den Tag des Herrn zu schreiben hat. Dann stellen wir fest: Paulus ist jedenfalls ganz sicher kein Zeuge Jehovas. Er gibt sich nicht die geringste Mühe, auszurechnen, wann denn Christus wiederkommen könnte. Sondern er schreibt: Das einzige, was wir ganz genau über den Tag des Herrn wissen ist, dass er gerade dann kommen wird, wenn wir nicht mit ihm rechnen. Jeder Versuch, Daten der Wiederkunft unseres Herrn zu errechnen, ist also gerade ein Ausdruck von Unglauben, der nicht erträgt, was der Apostel Paulus hier im Auftrag des Herrn schreibt.

Aber der Apostel Paulus zeigt noch in einer anderen Hinsicht, dass er ganz sicher kein Zeuge Jehovas ist: Er benutzt den Ausblick auf den kommenden Tag des Herrn gerade nicht, um Menschen Angst zu machen, um Druck auf sie auszuüben. „Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus“, so schreibt er hier. Der Tag des Herrn ist nicht dazu da, uns alle miteinander in die Hölle zu befördern, sondern Gottes neue Welt sichtbar werden zu lassen, in der es kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz und keinen Tod, auch keine Abschiebung und kein Dublin-Abkommen mehr geben wird. Ja, dieser Tag des Herrn ist so schön und wunderbar, dass wir gut daran tun, jeden Tag darum zu bitten, dass er bald anbrechen möge: „Dein Reich komme“.

Ja, schön wird dieser Tag sein, weil wir den jetzt schon kennen, der uns dann einmal sichtbar gegenübertreten wird: ihn, unseren Herrn und Heiland Jesus Christus. Es ist doch kein anderer Herr als der, dessen Leib und Blut wir heute wieder im Heiligen Mahl empfangen. Es ist doch kein anderer Herr als der, der schon jetzt hier Gastgeber dieses Gottesdienstes ist. Hier im Gottesdienst, da fällt sie schon immer wieder, die Mauer zwischen Himmel und Erde, da feiern wir jedes Mal neu eine Art von ewigem 9. November, und da werden wir jedes Mal neu vorbereitet auf den Tag des endgültigen Mauerfalls. Ja, in jedem Gottesdienst wird uns eine wunderbare Lebensperspektive geschenkt, wird unser Lebenshorizont ins Unendliche geweitet, wird die Angst von uns genommen, wir könnten hier und jetzt in diesem Leben nicht genug mitbekommen. Das lässt uns anders leben, als „Kinder des Lichtes und Kinder des Tages“, wie Paulus es hier formuliert. Als solche Kinder des Lichtes und des Tages blicken wir weiter, lassen wir uns auch nicht betrunken machen von allen möglichen menschlichen Hoffnungen, die sich am Ende doch nur als vergeblich herausstellen. Was hatte man etwa in der Zeit nach dem 9. November 1989 gehofft, dass nun auf dieser Welt eine neue Friedenszeit anbrechen wird, dass Kriege endgültig der Vergangenheit angehören werden! Doch 25 Jahre später haben wir erkannt: Diese Zukunftshoffnung war eine Täuschung. Ja, wo immer wir unsere Hoffnung auf den guten Willen von Menschen setzen, werden wir am Ende enttäuscht werden. Unsere Zukunftshoffnung liegt allein in Christus begründet, in dem, was er am Kreuz für uns getan hat, in dem, was er jetzt immer wieder für uns tut, wenn er uns unsere Schuld vergibt hier am Altar, und in dem, was er dann einmal tun wird, wenn er sichtbar kommen wird.

Gott geb’s, dass wir dann einmal nicht zu den Honeckers dieser Welt gehören werden, die blind waren für die Veränderung, die uns bevorstand und längst angekündigt war! Gott geb’s, dass wir nicht zu den Kindern der Finsternis gehören, zu denen, die Christus völlig aus ihrem Leben ausgeblendet hatten und dann einmal voller Schrecken erkennen werden, dass sie das Wichtigste, ja den Wichtigsten in ihrem Leben verpasst und übersehen hatten!

Doch nein: Wir sind und bleiben Kinder des Tages, Menschen, die in ihrer Taufe Christus angezogen haben und in seinem Licht leben. Nüchtern wollen wir sein, nicht hereinfallen auf das, was Menschen von der Zukunft erwarten, sondern leben in der Erwartung des kommenden Herrn. Ob wir ihm noch lebend hier auf Erden begegnen werden oder in unserer Todesstunde, ist dabei nicht das Entscheidende. Entscheidend ist allein, was dann nach dieser Begegnung kommt: Wir werden mit ihm leben – für immer, in alle Ewigkeit. Das ist unsere Lebensperspektive als Christen, die hinausreicht über alle Mauern. Amen.