06.04.2015 | St. Lukas 24,13-35 | Ostermontag
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Nichts wie weg!“ – Nur noch weg von dem Ort, an dem gerade eine Welt für mich zusammengebrochen ist, an dem all das in Trümmern liegt, was mir kurz zuvor noch so selbstverständlich erschienen war, weg von dem Ort, an dem ich all meine Hoffnungen und Zukunftsperspektiven begraben musste! Habt ihr solche Erfahrungen auch schon in eurem Leben gemacht, dass ihr nur noch weg wolltet, weil ihr es nicht mehr aushieltet an einem Ort, der für euch mit so tiefen Enttäuschungen verbunden war? Ich selber kann mich jedenfalls in die Lage der beiden Jünger, die da am Ostersonntag von Jerusalem aufbrachen, gut hineinversetzen. Wenn einem Hoffnungen und Lebenserwartungen zerplatzen wie eine Seifenblase, dann ist man erst einmal wie betäubt, dann nimmt man kaum noch wahr, was sich in Wirklichkeit um einen herum abspielt. Und dann gibt es nicht wenige, die aus solchen Enttäuschungen in ihrem Leben noch viel weitergehende Schlussfolgerungen ziehen: Wenn Gott selber mich in meinem Leben so etwas erfahren lässt, dann will ich auch von ihm nichts mehr wissen – nur weg von ihm, nur weg von der Kirche, von diesem Ort, von dem ich doch offenkundig nichts mehr zu erwarten habe.

„Nichts wie weg!“ – Es gibt so viele hier in unserer Mitte, die genau das in den vergangenen Jahren sehr drastisch in ihrem Leben erfahren haben. Alles, was bis dahin so selbstverständlich erschien, brach in dem Augenblick zusammen, als sie erfuhren, dass ihr Leben bedroht war, dass sie so schnell wie möglich losziehen mussten, nur noch weg – ja, wohin eigentlich?

„Nichts wie weg!“ – Im Heiligen Evangelium des heutigen Festtags wird auch von zwei Menschen berichtet, die nur noch weg wollen. Zu viel Schlimmes hatten sie in den Tagen zuvor in Jerusalem erlebt, hatten erfahren müssen, wie die große Hoffnung ihres Lebens zusammengebrochen war, wie sich ihre gesamte Zukunftsperspektive in Luft aufgelöst hatte: „Wir aber hofften, er sei es der Israel erlösen werde.“ Ja, ihr ganzes Leben hatten sie auf ihn, Jesus von Nazareth, ausgerichtet. Und jetzt war er tot, war alles vorbei. Nur noch weg von Jerusalem, hin nach Emmaus, dort, wo man Abstand gewinnen konnte von dem, was geschehen war, dort, wo man nun versuchen konnte, sich eine neue Lebensperspektive aufzubauen – ohne Jesus, ohne die Hoffnung auf die Erlösung Israels.

Wenn man so enttäuscht ist, dass man nur noch weg will, dann sieht man das Allernächstliegende oftmals nicht. Und so erkennen auch diese beiden Menschen, von denen St. Lukas hier berichtet, den Allernächsten nicht – ihn, Jesus, der mit ihnen geht. Doch wenn wir versuchen, dies nur psychologisch zu erklären, warum die beiden Jesus nicht erkennen, greifen wir wohl doch zu kurz. Immer wieder wird uns in den Ostergeschichten des Neuen Testaments berichtet, dass selbst diejenigen, die Jesus eigentlich sofort erkennen müssten, ihn nach seiner Auferstehung doch nicht erkannten. Offenkundig sind wir Menschen von uns aus gar nicht dazu in der Lage, die neue Wirklichkeit der Auferstehung und damit auch ihn, den Auferstandenen, wahrzunehmen und zu erkennen. Da müssen uns schon die Augen immer wieder von Gott selber geöffnet werden, sonst verstehen wir gar nichts.

Die beiden Menschen, die da von Jerusalem nur noch wegwollen, stehen jedenfalls erst einmal völlig auf dem Schlauch, oder besser müsste man sagen: Sie gehen auf dem Schlauch. Selbst als sie von Jesus angesprochen werden, als sie seine Stimme hören, erkennen sie ihn nicht. Für uns, die wir wissen, wer da an ihrer Seite geht, ist es ja geradezu eine Geschichte zum Schmunzeln, wie die beiden nun Jesus über sein eigenes Geschick aufzuklären versuchen. Doch zugleich wird in dem, was sie sagen, deutlich, dass sie ihn, Jesus, noch überhaupt nicht richtig verstanden haben. Als „Propheten“ bezeichnen sie ihn hier. Ja, wenn Jesus wirklich nur ein Prophet war, dann mussten sie in der Tat mit seinem Tod alle Hoffnung fahren lassen, dann hätte am Ende doch Mohammad Recht behalten, gäbe es letztlich doch keine Erlösung, ja, dann wäre Jesus am Ende doch weg für immer.

Doch dann wendet sich mit einem Mal die Geschichte: Der scheinbar so ahnungslose Fremde fängt an, die beiden wandernden Männer über Christus aufzuklären, erklärt ihnen aus der Heiligen Schrift, warum es gerade keine Katastrophe war, was sie da gerade in Jerusalem erlebt hatten, sondern warum dies alles von Gott so gewollt war. Die Zeit vergeht wie im Flug – die beiden Männer kommen schließlich zu dem Dorf, zu dem sie aufgebrochen waren. Es ist Abend – und so laden die beiden den Fremden dazu ein, bei ihnen zu bleiben, bei ihnen zu übernachten. Ob dies nur Ausdruck einer selbstverständlichen Gastfreundschaft war, oder ob die beiden schon ahnten, wie wichtig es für sie und ihre Zukunft war, dass dieser Fremde bei ihnen blieb, wir wissen es nicht. Jedenfalls geschieht dann in dem Haus etwas ganz Erstaunliches: Aus dem Gast wird mit einem Mal der Gastgeber. Ganz selbstverständlich nimmt er die Rolle des Hausherrn ein: „nahm er das Brot, dankte und brachs und gab’s seinen Jüngern ...“ – und in diesem Augenblick, beim Brotbrechen, erkennen die beiden, wer ihnen da gegenübersitzt, wer mit ihnen geredet hat. Doch in dem Augenblick, als sie ihn erkennen, ist er für ihre Augen nicht mehr zu sehen. Doch jetzt im Rückblick wird ihnen klar, was da auf dem Weg geschehen ist, merken sie, dass sie ihre Flucht vor der scheinbaren Katastrophe beenden können, dass es gut und richtig ist, wieder dorthin zurückzukehren, woher sie kamen – jetzt, wo sie verstanden haben, wer ihnen da begegnet ist, jetzt, wo sie verstanden haben, dass das, was sie in Jerusalem erlebt hatten, gerade nicht das Ende gewesen ist. Und so kehren sie sofort wieder zurück – und erfahren dort, dass die elf Jünger genau dasselbe erfahren haben wie auch sie. Mit dem Ostergruß werden sie in Jerusalem willkommen geheißen: Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Und sie, die beiden, die ihm, dem auferstandenen Jesus, begegnet sind, sie können gar nicht anders, als noch mitten in der Nacht zu erzählen von Jesu Wort und von seinem Mahl.

Wenn wir wie die beiden Jünger damals erleben, wie zusammenbricht, was uns in unserem Leben so selbstverständlich erschien, wenn Hoffnungen und Zukunftsplanungen zerplatzen, dann kann es schnell passieren, dass auch wir so tun, so leben, als ob Jesus gar nicht auferstanden sei, als ob wir tatsächlich alle unsere Hoffnungen fahren lassen müssten. Doch auch wenn wir dann loslaufen – aus welchen Gründen auch immer –, dürfen wir doch dies eine wissen: Christus geht mit uns, bleibt bei uns auf unserem Weg, auch und gerade, wenn wir ihn so gar nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen, vielleicht gar nichts mehr von ihm wissen wollen. Unerkannt geht er mit uns, wenn wir dabei sind, unser Leben wieder neu in den Griff zu bekommen; unerkannt ist er mit denen mitgegangen, deren Weg sie aus dem Iran oder Afghanistan bis hierher nach Deutschland geführt hat. Und irgendwann hat er sie, hat er einen jeden von uns wieder neu angesprochen, hat angefangen, uns verstehen zu lassen, dass all das, was wir erfahren haben, nicht einfach sinnlos war, dass es auch für uns und unser Leben einen Plan gibt – und in diesen Plan gehört er, der auferstandene Jesus, allemal mit hinein.

Nein, das ist jetzt keine Kaffeesatzleserei, kein unbestimmtes Vermuten. Denn schließlich sind wir alle miteinander hier angekommen, wo der auferstandene Jesus sich uns ganz klar und eindeutig zu erkennen gibt, wenn er nun gleich wieder als der Gastgeber das Brot für uns bricht und es austeilt: Da denken wir nicht einfach bloß an Jesus, an das, was er früher einmal getan hat; da ist er selber leibhaftig gegenwärtig in den Gestalten von Brot und Wein mit seinem Leib und Blut. Gewiss, sehen können wir ihn dabei so wenig, wie ihn die Jünger noch sehen konnten, sobald sie erkannt hatten, wer es war, der sie da zu Tisch geladen hatte. Aber auch uns will der auferstandene Christus heute hier an seinem Altar mit großer Freude erfüllen, will es heute wieder neu bei uns Ostern werden lassen: Jesus lebt – darum brauchen wir nicht zu verzweifeln, darum brauchen wir nicht alle Hoffnung fahren zu lassen, darum dürfen wir auch alles Schwere und alle Enttäuschungen unseres Lebens noch einmal mit anderen Augen sehen. Machen wir es darum wie die beiden Emmausjünger: Kehren wir immer wieder in die Gemeinschaft der Gemeinde zurück, erzählen wir uns gegenseitig von der Freude über die Begegnung mit ihm, dem auferstandenen Herrn! Mit jedem von uns geht Christus seinen eigenen Weg, aber uns allen will er die Augen öffnen: Er lebt, er bleibt bei uns, auch und gerade wenn es dunkel wird in unserem Leben, auch und gerade wenn der Abend unseres Lebens unwiderruflich eingesetzt hat. Dann geht Christus auch den letzten Weg mit uns mit, an dessen Ende er dann schließlich nicht mehr vor unseren Augen entschwindet, sondern wir ihn schauen werden in alle Ewigkeit, versammelt um seinen Tisch. Wie gut, dass wir mit dieser Aussicht unsere Lebenswege gehen dürfen, ja auch neue Anfänge in unserem Leben wagen können. Sie sind dann keine Flucht mehr, sondern getragen von dieser einen Gewissheit: „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ – Und jetzt: Nichts wie hin zu ihm! Amen.