31.10.2007 | Jesaja 62, 6-7. 10-12 (Gedenktag der Reformation)

GEDENKTAG DER REFORMATION – 31. OKTOBER 2007 – PREDIGT ÜBER JESAJA 62,6-7.10-12

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, «Erlöste des HERRN», und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

So kann das mit unserer lutherischen Kirche einfach nicht weitergehen! Man muss seinen Verstand nicht fürchterlich anstrengen, um zu solch einem Ergebnis zu kommen. Da kann man der neusten Statistik unserer Kirche entnehmen, dass die SELK auch im vergangenen Jahr wieder in der Größenordnung einer ganzen Gemeinde geschrumpft ist. Da mussten Kirchenleitung und Superintendentenkollegium auf ihrer letzten Sitzung beschließen, die Zahl der Planstellen in unserer Gemeinde weiter zu kürzen, weil die Einnahmen einfach nicht mehr ausreichen, wobei unsere Kirche schon längst pleite wäre, wenn alle Planstellen unserer Kirche tatsächlich besetzt wären und wir nicht zehn Vakanzen hätten, von denen sich ja allein drei hier in Berlin befinden. Und dann schaut euch mal an, wie viele Glieder unserer Kirche heute Abend hierher zum Reformationsfestgottesdienst, dem einzigen Gottesdienst unserer Kirche am heutigen Tage hier in Berlin, gekommen sind: 3,5 Prozent unserer eigenen Kirchglieder nehmen den heutigen Gedenktag der Reformation überhaupt noch wahr; die Prozentzahl der Gemeindeglieder, die heute Abend stattdessen Halloween feiern, dürfte demgegenüber bedeutend höher ausfallen.
So kann das mit unserer lutherischen Kirche einfach nicht weitergehen! Ihr könntet nun noch weiter fortfahren, und ich könnte es auch, zu beschreiben, was in unserer Kirche alles schief läuft, was uns ärgert und Sorgen bereitet und uns vielleicht auch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lässt: Nein, so kann es wirklich nicht weitergehen! Was sollen wir also tun? Da gibt es vieles, was angesichts dieses Zustands unserer Kirche vorgeschlagen wird: Gemeindewachstumsprogramme, Management nach McKinsey, Abschaffung unserer Liturgie oder auch eine Neuausrichtung unserer Kirche an der Evangelischen Landeskirche. Irgendwie müssen wir doch die Trendwende schaffen!
So kann das doch einfach nicht weitergehen! – Genau das dachten die Bewohner in Jerusalem damals vor zweieinhalbtausend Jahren auch. Da waren sie mit so großen Hoffnungen aus dem Exil in Babylon nach Jerusalem zurückgekehrt, hatten gedacht und erwartet, dass nun nach ihrer Rückkehr alles wieder so schön, ja noch viel schöner werden würde, als es in Jerusalem vor der Zerstörung gewesen war. Und was erlebten sie nun? Sie saßen in einem Ruinenfeld, die Wiederaufbauarbeiten gingen nicht voran; Inkompetenz und Streitereien der Verantwortlichen und Angriffe von außen machten ihnen zu schaffen. Ja, wie sollte das alles bloß weitergehen?
Und in dieser Situation sendet nun Gott seinen Propheten zu seinem Volk, lässt ihm verkündigen, wie es mit ihm weitergehen soll, eröffnet ihm eine Zukunftsperspektive, die ganz anders aussieht, als die Bewohner Jerusalems selber sich dies wohl vorgestellt hätten: Nicht Programme und Konzepte sind angesagt, keine Reformen, kein „Wir müssen aber jetzt alles anders machen“. Angesagt ist vielmehr dreierlei, so zeigt es der Prophet den Bewohnern Jerusalems, so zeigt er es auch uns, die sich in so manchem in der Lage der Bewohner Jerusalems wiederfinden mögen. Angesagt ist

- Erinnern
- Hören
- Rausgehen

I.

Frustriert waren die Bewohner Jerusalems nicht bloß darüber, dass sie da immer noch in ihren Ruinen hocken mussten, dass so wenig von der früheren Schönheit Jerusalems zu sehen war. Sondern frustriert waren sie vor allem darüber, dass Gott selber ihnen doch durch seine Propheten Versprechen gegeben hatte, seine Stadt in neuem Glanz wiedererstehen zu lassen und den Bewohnern eine ganz neue Zukunft zu eröffnen. Wo blieb denn nun die Einlösung dieses Versprechens, so fragten sie, ja, warum machte Gott denn einfach nicht wahr, was er seinem Volk angekündigt hatte?
Und darauf geht nun der Prophet ein. Nein, er sagt gerade nicht: Nun ja, wenn Gott das nicht tut, was er versprochen hatte, dann müssen wir es eben selber in die Hand nehmen, dann müssen wir es eben allein schaffen. Konzepte und Programme haben wir ja genug, und am guten Willen soll es auch nicht fehlen! Sondern der Prophet macht etwas ganz Anderes: Er ruft Erinnerer zusammen.
Was ist ein Erinnerer? Ein Erinnerer hatte an Königshöfen eine feste Aufgabe: In einer Zeit, in der PCs und Notebooks noch nicht so verbreitet waren, leisteten sich die Könige Leute, deren Aufgabe darin bestand, sie an wichtige Termine und Aufgaben und Vorhaben zu erinnern, damit sie diese bei ihren ganzen anderen Beschäftigungen nicht vergaßen. Und das waren eben diese Erinnerer. Und nun ruft der Prophet seine Zuhörer, die Bewohner Jerusalems, dazu auf, genau solche Erinnerer zu werden, genau diese Aufgabe bei Gott wahrzunehmen, und zwar auf eine geradezu penetrante Weise: Tag und Nacht sollen sie nicht mehr schweigen, ihm dauernd in den Ohren liegen, ihn dauernd nerven, ihn dauernd daran erinnern, was er ihnen, seinem Volk, doch versprochen und zugesagt hatte. Ja, so verkündet es der Prophet: „Lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!“
Und genau so und nicht anders beginnt auch bei uns die Erneuerung der Kirche. Eben gerade nicht so, dass wir fragen: Wie können wir die Stadt Gottes, wie können wir die Kirche wieder aufrichten, was müssen wir alles machen, wenn denn Gott es nicht tut? Nein, alle Erneuerung der Kirche kann nur von Gott selber ausgehen, nur er kann dafür sorgen, dass Dinge sich ändern, dass seine Kirche gebaut wird. Und unsere Aufgabe besteht von daher nun ebenfalls darin, Erinnerer zu sein, Gott dauernd in den Ohren zu liegen mit der Bitte um die Erneuerung seiner Kirche, Gott dauernd zu nerven mit dem Verweis darauf, was er uns, seiner Kirche, doch verheißen hat. Nein, Gott hat uns nicht das Versprechen gegeben, dass unsere SELK immer wachsen wird, dass sie immer genügend Geld zur Verfügung hat; er hat uns noch nicht einmal das Versprechen gegeben, dass unsere SELK bis zum Jüngsten Tag überhaupt existieren wird. Aber er hat uns sehr wohl seine Verheißung gegeben, dass sein Wort nicht leer zurückkommen wird, er hat uns sehr wohl seine Verheißung gegeben, dass die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwältigen werden, er hat uns sehr wohl gesagt, dass er will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Daran dürfen, ja daran sollen wir ihn immer und immer wieder erinnern, sollen nicht nachlassen im Gebet um die Erweckung und Erneuerung seiner Kirche, ja auch ganz konkret unserer lutherischen Kirche. Wenn Gott uns etwas in seinem Wort zusagt, dann redet er das nicht einfach bloß daher, dann steht er dazu, dann dürfen wir ihn darauf festnageln, hat solches beständige Erinnern eine Verheißung.
Das Priestertum aller Getauften wurde in der Reformation immer wieder herausgestellt. Ja, genau darum geht es hier in der alttestamentlichen Lesung: Der Prophet ermutigt auch euch alle miteinander dazu, euer priesterliches Amt wahrzunehmen und vor Gott für seine Kirche einzutreten, Gott keine Ruhe zu lassen, bis er seine Kirche wieder aufrichte. So und nicht anders beginnt die Erneuerung der Kirche.

II.

Hören – das ist das Zweite, wozu der Prophet seine Zuhörer und damit auch uns anleitet: Hören, das uns dazu hilft, die Stadt Gottes, die Kirche noch einmal mit anderen Augen wahrzunehmen.
Sehen konnten die Bewohner Jerusalems damals nur Ruinen und Trümmer und Stillstand; da war von Gottes Gegenwart beim Anblick dieses Trümmerhaufens erst einmal herzlich wenig zu erkennen. Doch hören durften sie es zugleich, dass ihre Stadt eben doch unendlich mehr ist als ein Ruinenfeld, als ein hoffnungsloser Fall: „Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Ja, man wird dich nennen ‚Gesuchte’ und ‚Nicht mehr verlassene Stadt’.“ Die Herrlichkeit Jerusalems – sie ist noch nicht zu sehen, aber doch schon zu hören. Sehen können die Bewohner nur die Trümmer, doch hören dürfen sie schon, was jetzt bereits Realität ist: Siehe, dein Heil kommt. Ja, man wird dich nennen: Nicht mehr verlassene Stadt. Gott selbst ist in ihrer Mitte; seine Gegenwart ist es, die diesem Trümmerhaufen eben doch eine herrliche Zukunft eröffnet.
Ums Hören geht es auch bei uns. Ja, was man bei uns alles sehen oder auch nicht sehen kann, was es da alles an kleinen Zahlen und enttäuschenden Erfahrungen zu konstatieren gibt, das ist klar, das muss ich jetzt nicht alles noch mal aufzählen. Und es ist ja nun auch wahrlich nicht so, dass es bei uns nur Ruinenfelder und Trümmer und Abbau wahrzunehmen gäbe. Da gibt es ja auch vieles höchst Erfreuliche zu sehen und wahrzunehmen in unserer Kirche, ganz gewiss. Aber das, was wir sehen und wahrnehmen können, das ist eben nicht das Entscheidende; das macht nicht die Herrlichkeit der Kirche, ja, auch die Herrlichkeit unserer lutherischen Kirche aus. Sondern was die Herrlichkeit unserer Kirche ausmacht, das können wir im Augenblick nur mit unseren Ohren wahrnehmen, können nur hören, was doch auch in unserer Mitte Wirklichkeit wird in jedem Gottesdienst: Siehe, dein Heil kommt! Dein Herr, dein Gott ist in deiner Mitte. Auch du, liebe Gemeinde, bist eine nicht mehr verlassene Stadt, ganz gleich, wie viele Menschen heute oder am kommenden Samstag oder wann auch immer hier in diesen Kirchenbänken und in den Bänken anderer Berliner Gemeinden sitzen werden. Das ist es, was die Kirche zur Kirche macht, darin allein liegt die Zukunft der Kirche: Dass ihr Herr bei ihr gegenwärtig ist, dass er diese Kirche und jede Kirche, in der das Evangelium gepredigt und die Sakramente nach Christi Einsetzung gespendet werden, zur Stadt Gottes macht, dass die, die hierher kommen, hier in ihrer Mitte Erlösung, Heil, Rettung, ewiges Leben finden, dass hier geschieht, was man außerhalb der Kirche Jesu Christi nirgendwo finden und erfahren und empfangen kann. Und das geht weiter, auch in Zukunft, Gott sei Dank, daran will er, der Herr, nichts ändern, will so und nicht anders seine Kirche bewahren und erneuern, wie mickrig sie auch erscheinen mag. Darum haben wir keinen Grund dazu, Frust zu schieben; darum dürfen wir uns mit Recht Kirche der Zukunft nennen, weil er bei uns ist, die Zukunft in Person, er, unser Herr und Heiland Jesus Christus.

III.

Und diese Gegenwart des Herrn in unserer Mitte, die setzt nun in der Tat in Bewegung. „Gehet ein, gehet ein durch die Tore!“ – So übersetzt Martin Luther hier. Doch eigentlich steht da im Hebräischen: Überschreitet Schwellen! Und wenn man sich den Zusammenhang anschaut, dann geht es wohl doch eher darum, dass der Prophet die Einwohner Jerusalems auffordert, aus ihrer Stadt herauszugehen, denjenigen entgegen, die noch im Exil in Babylon wohnen geblieben sind und doch nun auch in die Stadt, in ihre Stadt zurückkehren sollen. Ja, machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Räumt alles beiseite, was die Heimkehrer daran hindern könnte, ihren Fuß über die Schwelle der Stadt Gottes zu setzen, so ruft es der Prophet.
Ja, wie passend sind diese Worte auch für uns! Nein, es geht eben nicht bloß darum, dass wir hier in der Kirche sitzenbleiben und rufen: Gehet ein, gehet ein! Es geht nicht bloß darum, dass wir darauf warten, dass sich dann irgendwann auch mal Leute von draußen hier in unserer Mitte, hier in der Stadt Gottes einfinden. Nein, überschreitet Schwellen, geht heraus, ladet ein, ja, auch Menschen, die doch gar nicht zu uns zu passen scheinen, auch Leute, bei denen es doch scheinbar gar keinen Zweck hat, sie anzusprechen. Wer die Gegenwart des Herrn der Herren hier im Gottesdienst erfahren hat, der wird es sich doch ganz von selbst wünschen, dass auch viele andere daran teilhaben, wird sich überlegen, was für Steine auch wir in unseren Gemeinden wegräumen können, Anstöße beseitigen können, die Menschen daran hindern könnten, den Weg ins Haus Gottes zu finden.
Bleibt darum nicht im vertrauten Kreise glucken, verbringt eure Zeit nicht damit, euch mit euch selber zu beschäftigen, so ruft es uns der Prophet zu. Zu Wunderbares und zu Großartiges geschieht in eurer Mitte, als dass ihr euch mit einem bloßen „Gehet ein! Kommt, wenn ihr wollt!“ begnügen könntet. Nein, sagt nicht: Es hat ja doch keinen Zweck; das bringt doch alles nichts! Ihr seid „Heiliges Volk“ und „Erlöste des Herrn“, kein Abstiegskandidat, sondern Stadt Gottes mit der allerbesten Zukunftsperspektive überhaupt. Reißt darum die Kirchentüren auf und geht raus! Was hier geschieht, darf einfach keiner verpassen! Amen.