30.12.2007 | Jesaja 49, 13-16 (Sonntag nach dem Christfest)

SONNTAG NACH WEIHNACHTEN – 30. DEZEMBER 2007 – PREDIGT ÜBER JESAJA 49,13-16

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Er kam mit einem großen Strauß roter Rosen in die Sendung bei Britt, mittags um 13 Uhr bei SAT I. Er wusste, da war in der Vergangenheit eine Menge schief gelaufen: Er hatte seine Freundin immer wieder mit anderen Frauen betrogen, war dauernd besoffen gewesen, hatte seine Freundin geschlagen, bis die schließlich nichts mehr von ihm wissen wollte und ihn rausgeschmissen hatte. Doch nun hatte er sie unter einem Vorwand in die Fernsehsendung gelockt, um vor einem Millionenpublikum seine große Liebe zu ihr zu bekunden; er fiel vor ihr auf die Knie, überreichte ihr den Rosenstrauß und bat sie, es doch noch einmal mit ihm zu versuchen. Danach tauschten die beiden vor dem Fernsehpublikum ihre Sicht der Dinge aus, und am Ende musste sich der reuige Liebhaber dann im Studio in eine Nische stellen. Der Ex-Freundin wurde eine Fernbedienung in die Hand gedrückt, und sie konnte nun entscheiden, ob sie per Knopfdruck vor ihrem Freund eine Jalousie herunterlassen und damit die Beziehung endgültig beenden wollte oder ob sie ihm doch noch einmal eine neue Chance gab.
In unserer heutigen Predigtlesung passiert nicht ganz dasselbe wie bei Britt mittags auf SAT I. Da taucht kein reuiger Fremdgänger auf, bei dem der Fernsehzuschauer schon so seine Zweifel hat, ob der seine guten Vorsätze länger durchhält als zwei Wochen; da geht es nicht darum, dass da jemand versucht, seine Verfehlungen wiedergutzumachen, und heilige Eide schwört, sich zu ändern. Wohl aber wird uns auch in unserer heutigen Predigtlesung geschildert, wie ein Liebhaber versucht, seine Geliebte für sich zurückzugewinnen, wie er dabei kreativ wird, alles versucht, um seine Geliebte davon zu überzeugen, dass er es wirklich ernst meint, dass sie seiner Liebe wirklich trauen kann. Doch halt: Zappe jetzt nicht gleich weiter, glaube nicht, das könntest du dir ersparen, bei diesem Liebeswerben zuzuschauen. Gewiss, wenn wir darauf blicken, wer die beiden sind, um deren Beziehung es hier in unserer Predigtlesung geht, dann stellen wir schnell fest, dass das eigentlich eine uralte Geschichte ist: Zweieinhalbtausend Jahre ist es nun schon her, dass der Liebhaber so um seine Geliebte warb. Doch die Geschichte ist ungewöhnlich genug, dass du doch genauer hinschauen solltest. Denn den Liebhaber kennst du, das ist nämlich kein anderer als Gott selbst. Der ist sich nicht zu schade, in aller Öffentlichkeit um seine Geliebte zu werben, ihr in anrührenden, bewegenden Worten seine Liebe zu bekunden. Und die Geliebte hat auch einen Namen: Zion, so heißt sie und ist eigentlich eine Stadt, die Stadt Jerusalem, die damals vor gut zweieinhalbtausend Jahren zerstört und verlassen dalag – sichtbare Zeugin des scheinbaren Endes der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Doch um diese kaputte Stadt mit Einwohnern, die alle Hoffnung längst aufgegeben hatten, wirbt Gott nun, möchte unbedingt mit ihr noch einmal von vorne anfangen.
Gott und Zion – eine Uraltgeschichte, längst abgehakt, bloß eine historische Erinnerung, mehr nicht? Nein, schau noch einmal genauer hin, höre dir die Worte, die da eben verlesen wurden, noch einmal genauer an – und dann stellst du mit einem Mal fest: Diese Worte gelten ja mir; das bin ja ich, die da auf der Couch sitzt und um deren, um dessen Liebe Gott hier ringt. Dich, jawohl dich will er von seiner Liebe wieder neu überzeugen, will dein Herz gewinnen, dass du ja nicht die Jalousie vor ihm herunterlässt, sondern merkst: Der redet nicht einfach was daher; der meint das wirklich ernst; darauf kann ich mich verlassen. Und so soll hier nun von beidem die Rede sein:

- von deinen Erfahrungen mit Gott
- von Gottes Werben um dich.

I.

„Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – So sprach damals Zion, sprach das Häuflein der Bewohner, die im zerstörten Jerusalem zurückgeblieben waren. „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – Genau dieselbe Klage wurde auch immer wieder in den Gottesdiensten der verschleppten Israeliten im Exil in Babylon laut. Jahrzehnte waren nun schon vergangen, seit Jerusalem erobert worden war; nichts hatte sich seitdem gerührt; die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk schien nun wirklich an ihr Ende gekommen zu sein. Was sollten sie, die Israeliten, eigentlich immer noch an diesem Gott festhalten, der doch nur noch schwieg, von dem doch offenbar gar keine Hilfe mehr zu erwarten war?
„Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – Ja, wie viele Christenmenschen haben diesen Satz den Israeliten im Exil schon nachgesprochen. „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – So klagt so mancher ältere Mensch, dessen Kräfte immer mehr schwinden, der sich mit Schmerzen und Gebrechen herumplagen muss, der so gerne endlich sterben würde und doch immer weiter leben muss. „Der liebe Gott hat mich vergessen; der liebe Gott hat mich verlassen!“ – Da fließen dann oft schnell auch die Tränen.
„Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ – Nein, es sind nicht nur ältere Menschen, denen solche Gedanken durch den Sinn gehen. Da muss ein Mensch erleben, wie ihm sein Ehepartner schon so früh durch einen furchtbaren Tod entrissen wird; da muss ein Mensch erleben, wie ein geliebtes Kind zu Grabe getragen wird; da muss ein Mensch erleben, wie ihm sein Ehepartner das Leben zur Hölle macht; da muss ein Mensch erleben, wie eine psychische Krankheit ihm allen Lebensmut und alle Zukunftsperspektiven raubt; da muss ein Mensch erleben, dass er nirgendwo mehr gebraucht wird, einfach allein herumsitzt und gar nicht weiß, wie er dieses trübsinnige Leben noch weiter durchhalten soll. Ach, Schwestern und Brüder, ich rede jetzt so allgemein von „Menschen“, denen es so geht; doch ihr kennt solche Menschen gewiss selber persönlich, ja, so manchem von euch  sind diese Gedanken aus dem eigenen Leben eben auch nicht unbekannt: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“ Wo ist denn Gott bloß, warum hilft er mir denn nicht; wieso lässt er mich das alles erfahren und erleiden? Ja, gibt es diesen Gott überhaupt noch, und wenn ja: Sollte der wirklich noch etwas mit meinem Leben zu tun haben? Und wenn es denn stimmt, dass er in mein Leben eingreift: Was ist das denn bloß für ein Gott, der mir all das antut, was ich da in meinem Leben durchmachen muss? An den soll ich glauben, ja den soll ich auch noch lieben? Nein, das ist nun wirklich zu viel verlangt!
Brüder und Schwestern, es ist so wichtig und so tröstlich, dass solche Erfahrungen mit Gott, dass solche Gedanken, die Menschen sich über Gott machen, in der Heiligen Schrift auch genannt werden, dass sie auch hier in unserer Predigtlesung ihren Platz haben Seite an Seite mit dem Lobpreis Gottes, mit dem unsere Predigtlesung beginnt, dass sie ihren Platz haben gerade auch jetzt im Jubeln und Frohlocken der Weihnachtszeit. Nein, ich brauche als Christ nicht immer nur zu jubilieren; ich darf auch klagen, ja, auch mit den Worten, die der Prophet Jesaja hier zitiert. Gott hat damals die Israeliten nicht dafür ausgeschimpft, dass sie ihm solche Vorwürfe gemacht haben, und er schimpft auch uns nicht aus, wenn wir in unserer Not und unserer Trauer eben solche Worte finden: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“

II.

Aber dann schau dir an, wie Gott selber auf diese Worte reagiert. Nein, er verteidigt sich hier nicht; er braucht auch nicht zuzugeben, dass da offenbar irgendwas falsch gelaufen ist, dass er da wohl irgendwas nicht ganz richtig gemacht hätte. Gott ist kein reumütiger Liebhaber wie die zerknirschten Herren auf SAT I; was er damals mit Israel gemacht hat, was er auch heute mit Menschen macht, was er auch in unserem Leben so alles angestellt hat, das hat seinen Sinn, auch wenn wir ihn im Augenblick noch gar nicht begreifen können. Doch darüber zettelt Gott hier nun keine Diskussion an, versucht erst gar nicht, denen, die sich von ihm verraten und verkauft vorkommen, nun zu erklären, warum das denn in Wirklichkeit doch alles gut und wichtig war, was sie da erlebt haben. Nein, Gott nimmt einfach wahr, dass Menschen sich von ihm vergessen und verlassen vorkommen, er nimmt wahr, dass Menschen darunter leiden, ja dass umgekehrt ihr Verhältnis zu ihm, Gott, unter dem leidet, was sie haben durchmachen müssen und immer noch durchmachen. Und so geht Gott hier anders vor: Er wirbt um diejenigen, die in ihrem Glauben, in ihrem Vertrauen auf Gott irrezuwerden drohen, wirbt auch um dich und um mich, wirbt um uns so liebevoll, so tröstlich, dass man schon ein Eisklotz sein müsste, um nicht davon bewegt zu werden, was Gott hier seinem Volk, was er auch uns mitteilen lässt. Zwei wunderbare, zwei großartige Bilder gebraucht Gott hier, die wir uns näher miteinander anschauen wollen:
Da stellt uns Gott zunächst einmal das Bild einer Frau vor Augen, die sich liebevoll um ihr Kind kümmert, ja, deren ganze Liebe diesem Kind gilt. Ihr kennt solch ein Bild, kennt es hoffentlich aus eurer eigenen Erfahrung, kennt es hoffentlich vom Umgang eurer eigenen Mutter mit euch, kennt es aus eigenem Erleben mit euren eigenen Kindern, dass ihr euch das einfach nicht vorstellen könnt, eure Kinder jemals zu vergessen, sie jemals nicht mehr zu lieben. Solche Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, solche Liebe von Eltern zu ihrem Kind ist und bleibt eigentlich das Normalste, Selbstverständlichste, Einleuchtendste auf der Welt.
Doch wir haben es nun gerade in diesem Jahr in unserem Land wiederholt mit Erschrecken vernommen, dass das, was eigentlich das Normalste und Selbstverständlichste auf der Welt sein sollte, leider nicht immer so normal und selbstverständlich ist. Da gibt es allen Ernstes Eltern, gibt es allen Ernstes auch Mütter, die nicht dazu bereit, oft genug auch nicht dazu in der Lage sind, ihre Kinder zu lieben, die das allen Ernstes fertigbekommen, ihre eigenen Kinder zu misshandeln, sie verhungern zu lassen, selbst den Tod ihrer eigenen Kinder in Kauf zu nehmen oder ihn sogar aktiv herbeizuführen. Fassungslos stehen wir dann jedes Mal da und können es einfach nicht begreifen, erst recht nicht, wenn wir vielleicht gar ähnliche Erfahrungen in der eigenen Familie gemacht haben.
Doch Gott macht hier deutlich: Nein, solch eine Mutter bin ich nicht, die ihr eigenes Kind vergisst, die sich nicht um das Kind kümmert, es elend verrecken lässt. Nein, auch für mich gilt, was doch eigentlich das ganz Normale und Selbstverständliche ist, dass ich euch liebe, wie nur eine Mutter ihr eigenes Kind lieben kann, dass ich so sehr an euch hänge, dass ich dazu bereit wäre, auf alles, auf wirklich alles zu verzichten, wenn es denn nur zu eurem Besten dient. Ja, das gilt trotz all der Erfahrungen, die du in deinem Leben hast machen müssen, trotz all der Schlussfolgerungen, die du für dich vielleicht persönlich aus diesen Erfahrungen gezogen hast. Mensch, ich liebe dich unendlich, empfinde tiefste Mutterliebe zu dir, so sagt es Gott auch zu dir. Vertrau mir; ich meine es mit dir niemals böse; vertrau mir; ich kann dich nicht vergessen. Ich habe dich doch in deiner Taufe bei deinem Namen gerufen; seitdem bist du mein Kind, und das lässt sich niemals mehr rückgängig machen; das bleibt, ganz gleich, was du in deinem Leben erfährst; das bleibt, ganz gleich, was du in deinem Leben über mich denken magst. Nein, Gott ist keine Rabenmutter und kein Rabenvater; er wirbt um dich, will doch auch deine Liebe zu ihm gewinnen.
Und dann gebraucht Gott hier noch ein weiteres, äußerst eindrückliches Bild, um deutlich zu machen, wie er zu seinem Volk, wie er auch zu dir steht: Siehe, in meine Hände habe ich dich eintätowiert, so lässt er es Jerusalem, so lässt er es auch dich wissen. In meinen Handflächen habe ich deinen Namen, dein Bild immer vor Augen, dass ich dich gar nicht vergessen kann, selbst wenn ich es noch so sehr wollte. Eintätowiert habe ich deinen Namen, dein Bild, so tief, dass ich es da nicht mehr wegbekomme, dass ich es da nie mehr löschen kann. Eine blutige Angelegenheit war das, als ich deinen Namen da eingegraben habe; das hat mir höllisch wehgetan; aber das war es mir wert, weil du mir so wichtig bist, dass ich wirklich alles, wirklich alles unternommen habe, damit du mir niemals mehr aus dem Sinn gerätst.
„In die Hände habe ich dich gezeichnet“ – Höre sie, diese Worte deines Gottes, wenn du ihn in deinem Leben wieder so überhaupt nicht kapieren kannst, wenn du doch wieder den Eindruck hast, Gott habe dich vergessen, habe dich fallengelassen, könne dich doch gar nicht lieben, wenn er dich so Furchtbares erleben lässt. „In die Hände habe ich dich gezeichnet“ – Ja, höre sie, diese Worte deines Gottes, wenn du dir selber völlig wertlos, völlig nutzlos, völlig überflüssig vorkommst, wenn du mal wieder denkst, es sei doch völlig egal, ob es dich gibt oder nicht. Sie gelten dir; Gott hat sie dir ganz persönlich zugesprochen am Tag deiner Taufe. Seitdem steht auch dein Name drin in seiner Handfläche und lässt sich nicht mehr wegätzen. Du bleibst ihm wichtig, ganz gleich, wie du dich fühlst und was du von dir selber denkst.
„In die Hände habe ich dich gezeichnet“ – Was für eine besondere Weise, die Gott wählt, um seine unumstößliche Liebe zu dir zu bekunden! Und das ist ja alles nicht bloß hübsche Poesie und erst recht keine billige Show; Gott hat den Worten dann ja auch Taten folgen lassen. Er ist selber Mensch geworden, um es ein für allemal festzumachen, dass seine Liebe auch dir unverbrüchlich gilt, dass er da nichts mehr zurücknehmen kann und will von dem, was er dir zugesagt hat. Und dann hat er sich selber seine Hände am Kreuz durchbohren lassen für dich, damit du etwas ganz Gewisses hast, was du allen Zweifeln an Gottes Liebe zu dir entgegensetzen kannst: die Handflächen des gekreuzigten Christus, die Handflächen, in denen Gott nun auch deinen Namen seit deiner Taufe entdeckt und liest. Ja, so wirbt Gott um dich, nicht bloß mit einem Rosenstrauß!
Und nun stellt sich Gott in die Nische und wartet darauf, wie du mit ihm umgehst, ob du die Jalousie vor ihm runterfahren lässt oder dich von seiner Liebe bezwingen lässt. Ach, er wirbt doch nicht um dich, weil er dich benutzen will, weil er in dir nur seinen Vorteil sucht wie so mancher Kandidat dort bei Britt auf SAT I. Ihm geht es in seiner Liebe zu dir doch nur um dich, nicht um ihn selber, darum, dass du in deinem Leben einmal ohne Ende getröstet wirst, ohne Ende darüber staunen darfst, wie er, dein Gott, dich in deinem Leben geführt hat. Lass die Jalousie darum oben, ja, lass dich von ihm immer wieder in die Arme schließen auch im neuen Jahr, das nun vor uns liegt, lass dich von ihm immer wieder in die Arme schließen hier in seinem Heiligen Mahl, ja präge sie dir ganz tief ein, die Worte, mit denen Gott, dein Liebhaber, auch weiter um dich wirbt, Tag für Tag: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.“ So ruft er es dir aus der Krippe zu, dein Herr und Gott, der gekommen ist, um dich nie mehr zu verlassen. Amen.