28.03.2007 | Hebräer 5, 7-9 (4. Fastenpredigt - „Wie kann Gott das zulassen?“ : Christus)

MITTWOCH NACH JUDIKA – 28. MÄRZ 2007 – PREDIGT ÜBER HEBRÄER 5,7-9

Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

„Wie kann Gott das zulassen?“ – Mit dieser Frage haben wir uns in den Fastenpredigten der Wochengottesdienste der diesjährigen Fastenzeit beschäftigt. Keine logisch einsichtigen Antworten konnten wir erwarten, die uns diese Frage ein für alle Mal abhaken lassen, sondern nur Hinweise, die uns helfen, mit dieser Frage umzugehen, wenn sie uns immer wieder auch ganz persönlich bedrängt und bewegt. Befasst haben wir uns mit der Ursprungsgeschichte allen menschlichen Leides, der Sündenfallgeschichte; befasst haben wir uns sodann mit zwei Menschen, die diese Frage in tiefer persönlicher Betroffenheit gestellt haben und je auf ihre Weise damit umgegangen sind – Hiob und Paulus. Ja, eine Menge hilfreicher Hinweise konnten wir so zu dieser Frage zusammentragen, und doch spüren wir: All diese Hinweise bleiben unbefriedigend, müssen unbefriedigend bleiben, solange es nur darum geht, wie wir als Menschen am besten mit dem Leid umgehen, das uns diese Frage stellen lässt, wie Gott das alles zulassen kann. Ja, all diese Hinweise müssen unbefriedigend bleiben, solange Gott selber gleichsam außen vor bleibt, nur als Verursacher oder Zulasser von Leid in den Blick kommt, aber diesem Leid letztlich eben doch distanziert gegenübersteht und mit ihm letztlich nichts zu tun hat. Da bleibt sie dann eben doch bestehen, trotz all der Hinweise, die wir nun gesammelt haben, diese Frage: Was ist das für ein Gott, der all dies zulässt, was ist das für ein Gott, der uns leiden lässt und diesem Leid nicht ein Ende bereitet? Muss uns dieser Gott nicht notwendigerweise fremd, ja geradezu abstoßend erscheinen, ist es nicht verständlich, dass Menschen, die von so schwerem Leid betroffen sind, oft genug erklären, sie wollten von solch einem Gott nichts mehr wissen, der sie all dies durchleiden lässt und dabei irgendwo dort oben sitzt und die Engel um sich herum frohlocken lässt?
Nein, mit der Frage danach, wie Gott das zulassen kann, kommen wir nicht weiter, solange wir Gott nur als die Ursache des Leides in den Blick bekommen und nicht zugleich auch als Opfer, solange Gott nur ganz jenseitig bleibt und nicht teilhat an dem Leid dieser Welt, solange er, Gott, nicht selber als leidender Gott von uns wahrgenommen werden kann.
Und darum kann eine Predigtserie über die Frage, wie Gott das zulassen kann, nicht enden, ohne dass wir unseren Blick auch auf Christus richten, auf Christus, bei dem wir es mit keinem anderen zu tun haben als mit dem Gott, an den wir die Frage richten, wie er das zulassen kann, und der doch zugleich selber zutiefst vom Leid betroffen ist, das Leid der Menschen selber aus der Opferperspektive wahrgenommen hat. Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung des heutigen Abends. Denn in ihr werden Gott und das menschliche Leid so dicht aneinander geführt, wie wir dies in den bisherigen Predigten noch nicht wahrgenommen haben, wird deutlich, wie wir als Christen allein im Blick auf den leidenden Christus letztlich an dieser Frage, wie Gott all das Leid in der Welt zulassen kann, nicht irrezuwerden brauchen. Dreierlei wird hier im Hebräerbrief über Christus ausgesagt, dreierlei, das uns im Umgang mit der Frage nach der Zulassung Gottes weiterzuhelfen vermag:

- Gottes Sohn schreit.
- Gottes Sohn lernt.
- Gottes Sohn bringt ewiges Heil.

I.

Erwachsene schreien normalerweise nicht. Nein, ich meine jetzt nicht das Schreien von Fußballfans im Stadion, nicht das Schreien von irgendwelchen wütenden Leuten, die nicht mehr dazu in der Lage sind, in normaler Lautstärke mit anderen zu kommunizieren. Ich meine das Schreien, das von Schmerzen und tiefem Leid hervorgerufen wird. Ja, Kinder schreien, wenn man ihnen wehgetan hat, wenn sie Angst haben oder traurig sind; bei Kindern gilt das, zumindest wenn sie noch kleiner sind, als normale Reaktion. Doch Erwachsene schreien normalerweise nicht. Von denen erwartet man, dass sie sich in aller Regel erstmal ganz gut selber unter Kontrolle haben und ihre Emotionen zu beherrschen wissen. Umso mehr geht es einem dann durch Mark und Bein, wenn man miterlebt, wie Erwachsene schreien, schreien angesichts des Leides, das sie erfahren haben und das sie so tief getroffen hat, dass sie alle Regeln des anständigen Benehmens hinter sich lassen, sich nicht mehr unter Kontrolle haben, weil der Schmerz, den sie erleiden, einfach zu groß ist und nach außen drängt, gar nicht anders ausgehalten werden kann als so, dass man schreit.
Nein, das vergisst man sein Leben nicht – die Schreie von Eltern, die gerade vom Tod ihres Kindes erfahren haben, die Schreie eines Verzweifelten, der nicht mehr aus noch ein weiß, die Schreie von Menschen, die soeben Entsetzliches haben miterleben müssen, das sie noch gar nicht in Worte zu fassen vermögen. Das geht uns schon nahe, das lässt uns schon da nicht kalt, wo uns solche schreienden Menschen im Fernsehen vor Augen gestellt werden, kann man selbst da kaum hinhören bei diesen Schreien. Ja, diese Schreie sind in gewisser Weise eine unartikulierte Form der Frage danach, wie Gott das zulassen kann, was man da gerade erfahren hat.
Und nun wird hier im Hebräerbrief davon berichtet, dass Christus in den Tagen seines irdischen Lebens ebenfalls laut geschrien hat, geschrien vor Angst, vor Schmerzen, geschrien angesichts des Übermaßes an Leid, das er erfuhr. Liebe Schwester, lieber Bruder, gehen dir diese Schreie nicht auch durch Mark und Bein, selbst wenn du hier nur von ihnen hörst und sie dir nicht direkt zu Ohren kommen? Dein Herr und Heiland schreit, schreit, weil er es zumindest ahnt, was da auf ihn zukommt, weil er es zumindest ahnt, was es heißt, mit einer Geißel ausgepeitscht zu werden, bis der Rücken schließlich nur noch aus rohem Fleisch besteht, weil er es zumindest ahnt, was es heißt, wenn einem da mit einem Hammer die Nägel durch die Hände und die Füße getrieben werden. Ja, geschrien hat Christus dann auch am Kreuz selber, so berichten es die Evangelien, konnte und wollte sich nicht beherrschen angesichts dessen, was er erlitt.
Gottes Sohn schreit und weint. – Ja, da schreit der, der Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott ist. Gott schreit vor Angst und vor Schmerzen, Gott weint angesichts des Leides, das ihn trifft. Brüder und Schwestern, wenn ich an diesen Gott meine Frage richten kann, wie er denn all das Leid in dieser Welt zulassen kann, dann klingt diese Frage schon ganz anders, dann kann ich jedenfalls nicht mehr so tun, als habe dieser Gott, an den ich meine Frage richte, ja keine Ahnung, was Leid bedeutet. Der weiß auch dies sogar noch besser als ich. Und wenn mir selber nur noch nach Schreien zumute ist, dann darf ich’s eben auch wissen: Der Gott, an den ich glaube, hat auch geschrien, hat auch geweint, hat mein Leid geteilt bis in die tiefsten Tiefen hinein. Nein, dieser Gott ist dann keine Fratze mehr für mich, dieser Gott bleibt mir nicht unendlich fern, sondern der ist ganz dicht bei mir dran, der bleibt nicht auf Distanz.
Und er, Christus, hat es dann auch am eigenen Leibe erfahren, wie die Erhörung seines Gebets, seines Flehens um Errettung ausgesehen hat: nicht so, dass ihm das Leid erspart blieb, sondern so, dass er nach allem Leiden, ja nach dem schrecklichen Tod am Kreuz von Gott, seinem Vater, selber aus dem Tod ins neue Leben hineingerettet wurde. Ja, Christi Schreien ist erhört worden – am Ostermorgen, als er aus dem Grab ins neue Leben hinein auferstand. Und wir, wir bleiben auch mit dieser Erfahrung immer wieder Seite an Seite mit Christus, unserm Herrn. Auch alles Schreien der Eltern macht das tote Kind nicht wieder lebendig, nicht hier auf dieser Erde, auch alles Schreien des Schwerkranken, der seine Schmerzen nicht mehr ertragen kann, lässt den Schmerz nicht einfach verschwinden, auch dann nicht, wenn sich dieses Schreien nun direkt an Gott richtet. Die Erhörung dieses Schreiens kommt für uns oft nicht so schnell, wie wir uns das vorstellen und wünschen. Und doch dürfen auch wir gewiss sein: Unser Schreien verhallt nicht einfach im Dunkel des Weltalls, es dringt an Gottes Ohr, selbst dann, wenn wir es gar nicht mehr als Gebet zu artikulieren vermögen. Und um dieses Jesus Christus willen, der für uns vor Angst und Schmerzen geschrien hat, wird Gott auch unser Schreien hören, ja erhören, uns in der Gemeinschaft mit Christus eben auch in das Leben der Auferstehung führen, in dem einmal jeglicher Anlass zum Schreien hinter uns zurückbleiben wird. Ja, wie gut, dass wir an diesen Gott glauben dürfen, dass wir diesen leidenden, gekreuzigten Gott vor Augen haben dürfen, wenn uns nach Schreien zumute ist, wie gut, dass wir an diesen und keinen anderen Gott unsere Fragen richten dürfen. Bei dem dürfen wir gewiss sein: Der weiß, wie es uns geht.

II.

Gott schreit vor Angst und Schmerzen, Gott leidet – Wir merken schon, diese Worte gehen uns nicht so einfach über die Lippen, die scheinen so gar nicht zusammenzupassen, und tun es doch, tun es ganz konkret in der Person des Gottessohnes Jesus Christus. Und das gilt auch für die nächste Behauptung, die der Hebräerbrief hier aufstellt: Gottes Sohn hat gelernt, hat Gehorsam gelernt.
Was muss Gott schon noch lernen, mögen wir einwenden; der ist doch allwissend, dem muss nun wirklich keiner mehr was beibringen. Dieser Einwand klingt logisch und einleuchtend. Und doch schreibt der Hebräerbrief hier, dass Christus in seinem Leiden Gehorsam lernen musste, obwohl er Gottes Sohn war.
Ja, in Christus ist der Gott, von dem wir wissen wollen, wie er all das Leid dieser Welt zulassen kann, ist dieser Gott wirklich ganz Mensch geworden, hat ganz an unserem Menschenschicksal teilgehabt, und dazu gehört eben auch, dass er, der Sohn Gottes, dazulernen musste, mühsam und schmerzlich dazulernen musste, was es heißt, Gott gehorsam zu sein, anzunehmen, was der Vater ihm auferlegt hat. Durchs Leben, durchs Leiden lernen – wer diesen Lernprozess hat durchmachen müssen, der vergisst das, was er da gelernt hat, sein Leben lang nicht mehr. Und das gilt eben auch für Christus. Das hat sich ihm unauslöschlich eingeprägt, was es heißt, leiden zu müssen, was es heißt, in diesem Leiden bei Gott zu bleiben, auch wenn alle Erfahrung dagegen zu sprechen scheint. Ja, das hat sich ihm unauslöschlich eingeprägt, was es heißt, in seinem Leiden bis an den Punkt zu kommen, wo man nur noch fragen kann: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
An diesen Gottessohn darfst du dich wenden, wenn du mit deinen Fragen, wie Gott das alles zulassen kann, gar nicht mehr weiterkommst, wenn du selber merkst, wie mühsam das ist, Gehorsam zu lernen. An diesen Gottessohn darfst du dich wenden, wenn dir Gott wieder so rätselhaft zu werden droht, wenn du ihn einfach nicht kapierst. Wissen darfst du: Er, Christus, versteht dich, er hat das selber durchgemacht – und er steht dir bei, hilft dir, bei ihm zu bleiben, auch da, wo du das von dir aus gar nicht mehr fertigbekommst. Ach, was haben wir es gut, an einen Gott glauben zu dürfen, der selber Gehorsam gelernt hat!

III.

Aber nun besteht die Botschaft des christlichen Glaubens doch noch in mehr als darin, dass in Christus Gott sich ganz mit uns und unserem Leid solidarisiert hat. Gewiss, das ist eine zutiefst tröstliche Botschaft. Und doch bliebe sie hohl, wenn wir die Antwort danach, wie Gott das alles zulassen kann, was in dieser Welt und in unserem Leben geschieht, nur hier in diesem irdischen Leben suchen und finden könnten. Nein, die Weltgeschichte ist eben nicht das Weltgerichte, wie einst der alte Schiller behauptete.
Christus ist, so betont es der Hebräerbrief hier, „der Urheber des ewigen Heils geworden“. Sein Tod und seine Auferstehung betreffen nicht nur ihn selber, sondern eröffnen auch uns, eröffnen allen Menschen eine Perspektive, die weit über die begrenzten Erfahrungen unseres irdischen Lebens mit all seinem Leid hinausreicht. Ewiges Heil – Leben in der Gemeinschaft mit Christus, das alles Leid, das alle entsetzlichen Erfahrungen, die Menschen nur noch schreien lassen, einmal unendlich aufwiegen wird: Das ist die Hoffnung, die wir als Christen haben und die uns an der Frage, wie Gott all das Leid in der Welt zulassen kann, nicht irrewerden lässt. Nein, das ist keine billige Vertröstung aufs Jenseits. Mit dem Diesseits und damit, wie wir hier mit dieser Frage umgehen können, haben wir uns in den vergangenen Wochen ausführlich beschäftigt. Aber ohne diese Perspektive, dass Gott einmal endgültig Heil und Gerechtigkeit schaffen wird, ließe sich eben letztlich doch nicht ertragen, was wir an Unfassbarem in dieser Welt miterleben müssen. Nein, billig ist dieser Verweis auf Gottes neue Welt keinesfalls; er hat schließlich Christus das Leben gekostet. Und eine Vertröstung ist es auch nicht, weil dieses neue Leben doch schon eine Realität ist, seit am Ostermorgen Christus nicht mehr im Grab gefunden wurde. Er, der einst so entsetzlich geschrien hat, der so mühsam Gehorsam gelernt hat, der lebt, der ist auch heute in unserer Mitte gegenwärtig. Und er hilft uns mit seinem Wort, mit seinem Leib und Blut durchzuhalten in diesem Leben – bis wir einmal dahin kommen, wo es uns wie Schuppen von den Augen fallen wird: Ach, darum hat Gott dies alles zugelassen! Amen.