20.05.2007 | St. Johannes 14, 15-19 (Exaudi)

EXAUDI – 20. MAI 2007 – PREDIGT ÜBER ST. JOHANNES 14,15-19

Jesus sprach zu seinen Jüngern: Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Und ich will den Vater bitten, und er wird euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.

Eines Tages ging sie einfach weg aus der Wohnung in Prenzlauer Berg und ließ ihre vier Kinder dort allein zurück. Der Vater hatte die Familie schon längst verlassen, und so mussten die vier Kinder zusehen, wie sie alleine in der Wohnung zurechtkamen. Fast ein Jahr lang übernahm der Älteste von ihnen, der zwölfjährige Sohn, die Aufgaben der Mutter, schaffte es tatsächlich einigermaßen, nach außen den Anschein zu wahren, dass bei ihm und seinen Geschwistern doch eigentlich alles in Ordnung sei. Und von Zeit zu Zeit tauchte dann ja auch mal die Mutter auf und legte den Kindern mal wieder fünf Euro zum Essenkaufen auf den Tisch. Dass das für die Ernährung von vier Kindern eine Woche lang wohl kaum reichen würde, war ihr ebenso egal wie die Tatsache, dass die Wohnung im Laufe der Zeit immer mehr verdreckte und vermüllte. Eine unfassliche Geschichte ist das – und doch hat sie sich nur wenige Kilometer von uns entfernt hier in unserer Stadt zugetragen. Kein Wunder, dass diese Geschichte für Aufsehen gesorgt hat, dass sich viele Leute darüber aufgeregt haben, wie eine Mutter sich bloß so gegenüber ihren Kindern verhalten kann – wobei man dann nur allzu leicht den Vater vergisst, der sich ja wohl schon vorher aus dem Staube gemacht und seine Kinder ebenfalls im Stich gelassen hatte.
So ähnlich wie die vier Kinder dort in Prenzlauer Berg mögen sich damals auch die Jünger Jesu vorgekommen sein: Da waren sie nun über Jahre hinweg mit ihrem Herrn und Meister Jesus zusammengewesen, hatten ihr ganzes Leben mit ihm verbracht und auf ihn ausgerichtet. Und jetzt verabschiedet er sich mit einem Mal von ihnen, kündigt ihnen an, dass sie ihn bald schon nicht mehr sehen werden, dass sie bald schon ohne seine sichtbare Gegenwart werden klarkommen müssen. Ja, wie sollten sie das denn bloß schaffen, wie sollte es jetzt bloß mit ihnen weitergehen? Damit waren sie doch total überfordert, jetzt alleine weiterzumachen, alleine die Verantwortung für die Kirche zu übernehmen! Das war doch schon abzusehen, dass das nur schiefgehen konnte!
Doch nun sind wir heute Morgen hier nicht zusammengekommen, um uns miteinander über eine Skandalgeschichte aufzuregen: Wie konnte Jesus das bloß seinen Jüngern antun: erst sie an sich binden und dann in den Himmel abhauen und es sich dort gut gehen lassen und die Jünger im Regen stehen lassen! Nein, Jesus verhält sich nicht wie die Mutter aus Prenzlauer Berg, sein Weggang von den Jüngern ist gerade keine menschliche Schweinerei und erst recht keine Katastrophe; im Gegenteil: seine Himmelfahrt ist das Beste, was den Jüngern, was auch uns überhaupt passieren konnte, so macht es Jesus seinen Jüngern damals, so macht er es auch uns deutlich. Ja, nötig haben auch wir die Worte unseres Herrn, wie wir sie eben in der Predigtlesung gehört haben, denn auch wir mögen uns mitunter in der Kirche ja ganz schön allein vorkommen: Was können wir paar Leute schon bewirken? Wie sollen wir das auf die Dauer denn bloß schaffen, hier den Laden am Laufen zu halten? Doch Jesus macht seinen Jüngern, macht auch uns hier Dreierlei deutlich:
Ihr seid in Wirklichkeit doch gar nicht allein, denn ihr habt doch

- meinen Geist
- mein Wort
- das Versprechen meines Kommens

I.

Als die Behörden in Prenzlauer Berg auf den Missstand bei den vier Kindern aufmerksam geworden waren, handelten sie schließlich; die vier Kinder kamen in die Obhut des Jugendamtes. Das war sicher sinnvoll und richtig; aber auf der anderen Seite ist die Betreuung durch das Jugendamt immer nur eine Notlösung, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, und so begann auch schnell eine Diskussion darüber, ob die Kinder nicht doch wieder zu ihrer Mutter zurückkehren sollten, nachdem diese versprochen hatte, sich in Zukunft wieder besser um die Kinder zu kümmern.
Auch Jesus kündigt seinen Jüngern für die Zeit nach seinem Weggang einen Fürsorger, einen Betreuer an, der sich um die Jünger kümmern, ja bei ihnen sein wird: den Heiligen Geist, den Geist der Wahrheit. Doch diese Ankündigung mag auch uns ähnlich verlockend erscheinen wie die Ankündigung an die Kinder, dass nun das Jugendamt sich um sie kümmern wird. Lieber wäre es uns ja, wenn Jesus selber sich um uns kümmern würde; aber nun ja: wenn es denn nicht anders geht, dann ist der Heilige Geist immerhin besser als gar nichts. Doch mit solch einer Einstellung hätten wir überhaupt nicht kapiert, was Jesus seinen Jüngern, was er auch uns hier sagt: Der Heilige Geist ist nicht das himmlische Jugendamt, das sich als Notlösung um uns kümmert, um einen größeren Verlust wenigstens teilweise auffangen zu können. Sondern das Kommen des Heiligen Geistes ist für uns nicht weniger gut und wichtig als das Kommen Jesu selber. Eine Mutter ist und bleibt einmalig und lässt sich durch nichts und niemanden ersetzen. Jesus ist und bleibt gewiss auch einmalig, und doch redet er hier bezeichnenderweise von einem anderen Tröster, den der Vater den Jüngern senden wird: Der Heilige Geist ist dieser andere Tröster, er ist genauso Tröster wie der erste Tröster, wie er, Jesus, selber; wie Jesus seinen Jüngern persönlich beigestanden hat, so wird nun auch der Heilige Geist den Jüngern beistehen, wird mit ihnen nicht weniger verbunden sein, als er, Christus, dies bisher gewesen war.
„Tröster“ übersetzt Martin Luther das griechische Wort, das hier steht, und das ist richtig. Aber in diesem Wort stecken ganz viele Bedeutungen drin, die alle wichtig sind zum Verständnis dessen, was Jesus hier sagt: Parakletos – das heißt ganz wörtlich übersetzt: der Herbeigerufene, einer den man in der Not rufen kann und der dann da ist, wenn man ihn braucht. Parakletos, auf lateinisch: Advocatus, das bedeutet zugleich: der Rechtsanwalt, einer der für seinen Mandanten redet, der tut, wozu der Mandant selber nicht in der Lage ist. Parakletos – das kann von daher auch „Fürsprecher“ heißen, einer, der bei Gott für einen anderen eintritt. Jedenfalls merken wir schon: der, dessen Kommen Jesus hier seinen Jüngern verspricht, ist genauso Person, wie er, Jesus, eine Person ist. Der Heilige Geist, der Tröster, ist nicht bloß irgendwie so eine Stimmung, ein Gefühl, das eine Gruppe von Menschen erfasst, er ist kein Vogel und auch kein Gespenst. Sondern mit diesem Heiligen Geist kann man sprechen, den kann man anrufen, wie man auch Jesus anrufen kann, der hört zu, der schenkt Gemeinschaft, der sorgt dafür, dass wir nicht allein bleiben. Nein, der Heilige Geist verhält sich nicht wie ein Sachbearbeiter – distanziert, zurückhaltend; der sucht den persönlichen Kontakt mit uns, ja mehr noch: der verbindet sich mit uns, der lebt in uns. „Er bleibt bei euch und wird in euch sein“, so verspricht es Jesus hier. Und der Heilige Geist hat auch keine 40-Stunden-Woche, der kommt auch nicht bloß übergangsweise oder vertretungsweise, nein, dieser Tröster wird von Gott dem Vater gesandt, „dass er bei euch sei in Ewigkeit“, betont Jesus ausdrücklich.
Schwestern und Brüder, ahnt ihr etwas davon, wie wunderbar, wie großartig das ist, dass er, der Heilige Geist, uns von Gott dem Vater gesandt worden ist? Wir sind als Kirche niemals bloß ein Trupp von Leuten, der allein versuchen muss, den Laden am Laufen zu halten. Nein, in allem, was wir in der Kirche tun und erfahren, ist er, der Heilige Geist, bei uns und in uns. Er ist es, der uns den Glauben an Christus geschenkt hat, er ist es, der uns die Augen dafür geöffnet hat, was für reich beschenkte Leute wir als Christen sind, er ist es, der unsere Schritte heute Morgen wieder hierher in die Kirche gelenkt hat, der uns erkennen lässt, dass wir ohne Christus und sein Wort nicht leben könnten. Den Geist der Wahrheit – so nennt Christus den Heiligen Geist hier und macht damit deutlich, dass der Heilige Geist keine andere Aufgabe hat, als immer wieder auf ihn, Christus, hinzuweisen, und Menschen in der Verbindung mit Christus festzuhalten, mit ihm, Christus, der doch der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Nein, der Heilige Geist ist keine Konkurrenz für Christus, er will ihn nicht ersetzen, sondern im Gegenteil immer wieder uns auf ihn, Christus, hinweisen und uns mit ihm verbinden. Ja, dafür können wir gar nicht oft genug danken, darum können wir gar nicht oft genug bitten, denn ohne den Heiligen Geist würde bei uns in der Tat gar nichts laufen, würden wir nichts von Christus kapieren, hätten wir nicht den Trost, der uns in unserem Leben wirklich trägt und hält. Ja, wenn uns das der Heilige Geist aufgehen lässt, dann ist es klar, warum Pfingsten für uns Christen so ein wichtiges Fest ist, warum wir das nicht auf der Autobahn, sondern in der Kirche feiern, nicht nur an einem Tag, sondern gleich an zwei, weil wir doch so froh sein können, dass er, Jesus, uns eben nicht mit einer Notlösung abgespeist hat, sondern für alles, wirklich alles gesorgt hat, was wir als Christen brauchen.

II.

Bestens gesorgt hat er, Christus, für uns vor seiner Himmelfahrt. Und dazu zählt auch, dass er uns sein Wort, seine Gebote, gegeben hat, die uns in unserem Leben Orientierung schenken und uns helfen, in der Gemeinschaft mit ihm, Christus, zu bleiben.
Und dass wir diese Worte Jesu haben, das haben wir nun auch wieder dem Heiligen Geist zu verdanken. Nein, es ist ja nicht so, dass die Jünger Jesu damals gleich nach ihrer Berufung die ganze Zeit mit einem Diktiergerät neben Jesus hergelaufen sind und dann nach seiner Himmelfahrt festgestellt haben: So, jetzt haben wir genügend Material zusammen, jetzt können wir daraus mal ein paar Evangelien schreiben. Im Gegenteil, so betont es vor allem der heilige Johannes in seinem Evangelium: Vor der Kreuzigung und Auferstehung Jesu haben die Jünger eigentlich noch gar nicht richtig kapiert, was Jesus ihnen da sagte, konnten noch gar nicht begreifen, was für eine Bedeutung seine Worte eigentlich haben würden. Aber dann, nach Ostern, da ratterten die Groschen bei ihnen gleich serienweise, da verstanden sie nun, was ihnen vorher so rätselhaft geblieben war, da half ihnen der Heilige Geist, nun erst richtig zu erfassen, was Jesus mit seinen Worten und Taten eigentlich gemeint hatte. Und so entstanden dann schließlich auch die Evangelien unter dem Wirken des Heiligen Geistes, und genau so kommen wir nun auch heute an die Worte Jesu heran.
Und diese Worte Jesu sind eben nun nicht bloß irgendwelche klugen Sprüche eines großen Lehrers aus längst vergangener Zeit, sie sind eben nicht bloß, um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen, fünf Euro, die nicht lange satt machen, die den Hunger nach Leben bei uns auf die Dauer doch nicht zu stillen vermögen. Jesus speist uns in seinem Wort nicht mit ein paar moralischen Anweisungen ab nach dem Motto: „Seid immer schön brav, wenn ich nicht mehr da bin!“ Sondern diese Worte, die wir immer wieder hören und lesen dürfen, die haben Kraft in sich, ja mehr noch: in diesen Worten ist er, Christus, selber gegenwärtig, spricht zu uns, kommt uns nicht weniger nahe, als dies damals bei seinen Jüngern in Israel der Fall war. Was für eine Kraft diese Worte haben, das sieht man ihnen von außen nicht an. Wer sich nicht auf sie einlässt, für den bleiben sie Sprüche wie so viele Sprüche von bedeutenden Menschen überall auf der Welt. Nein, ohne den Geist Gottes erschließt sich uns nicht, was für eine Bedeutung diese Worte für uns haben. Aber wem der Geist Gottes die Augen öffnet, der erfährt, wie tragfähig diese Worte sind: Ja, „liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten“, so formuliert es Christus hier. Wenn ihr durch den Heiligen Geist mit mir verbunden seid, dann werdet ihr erfahren, was in diesen Worten steckt, wie euch diese Worte tragen. Und diese Verheißung unseres Herrn, die hat sich im Leben von Menschen bewahrheitet bis auf den heutigen Tag, die hat sich bewahrheitet gerade auch da, wo Menschen Schweres in ihrem Leben zu tragen hatten, wo sie scheinbar ganz allein dastanden oder dalagen, die hat sich bewahrheitet an Kranken- und Sterbebetten, die hat sich bewahrheitet, wenn Menschen an den Gräbern geliebter Menschen standen und stehen: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Ach, was für ein Trost steckt allein in diesem kurzen Satz, mit dem Christus hier unsere Predigtlesung schließt!

III.

Aber eins bleibt natürlich richtig: Noch können wir Jesus nicht so sehen, wie wir uns dies wünschen und ersehnen, noch erfahren wir es in unserem Leben immer wieder ganz schmerzlich, dass wir noch nicht in der Vollendung leben. Gewiss, Jesus hat für uns bestens vorgesorgt mit seinem Geist, mit seinem Wort, kümmert sich so um uns, dass wir von ihm alles bekommen, was wir brauchen, um das Ziel unseres Lebens zu erreichen. Doch das Allerbeste steht uns noch bevor: Der Tag, an dem Jesus sein Versprechen endgültig wahrmachen wird: „Ihr sollt mich sehen!“
Die Worte unserer heutigen Predigtlesung hat Jesus ursprünglich seinen Jüngern kurz vor seiner Verhaftung und Hinrichtung gesagt. Wenige Stunden danach verschwand er tatsächlich von der Bildfläche, bis er am Sonntag darauf seinen Jüngern sichtbar als der Auferstandene erschien. Ja, da durften sie ihn schon einmal sehen, während die Welt ihn nicht sehen konnte; da erfuhren sie schon einmal, was das heißt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Doch das Versprechen Jesu, es reicht weiter, es ist nicht dazu da, uns neidisch zu machen auf die Apostel, die damals sehen durften, was wir nun nicht mehr sehen dürfen. Nein, auch wir warten darauf, dass Jesus uns als der auferstandene Herr sichtbar entgegentritt und die Zwischenzeit, in der wir im Augenblick leben, beendet. Ja, das ist das Ziel, auf das wir hinleben, dass wir einmal für immer gemeinsam in Gottes Familie zusammenleben werden, ohne dass es noch irgendetwas geben wird, was dieses Zusammenleben jemals noch bedrohen könnte: keine Krankheit, kein Abschied und kein Tod.
Und bis es soweit ist, kommt er, der Herr, doch auch jetzt schon immer wieder zu uns, erfüllt schon jetzt sein Wort an uns: „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch.“ Er kommt zu uns, um, im Bilde gesprochen, schon jetzt in unserem Leben immer wieder aufzuräumen, alles in Ordnung zu bringen, was sich da an Müll in der Wohnung unseres Lebens angesammelt hat. Nein, er legt uns hier im Gottesdienst nicht bloß fünf Euro auf den Tisch, sondern er gibt uns alles, was er hat, sich selbst, seinen Leib und Blut, und wenn wir ihn so empfangen, dann ist wirklich alles in Ordnung bei uns, dann stinkt da nichts mehr vor sich hin, dann ist alle Schuld unseres Lebens vergeben, dann gehen wir auch nicht allein in die neue Woche, müssen uns nicht allein durchboxen, weil wir doch ihn, den Herrn, in uns haben, und der Tröster, der Heilige Geist, uns beisteht und uns hilft. Ja, Schwestern und Brüder, Christus hat uns nicht allein zurückgelassen und ist einfach weggegangen. Im Gegenteil: Wir sind und bleiben von ihm bestens versorgt! Amen.