26.12.2008 | St. Johannes 1, 1-14 (2. Heiliger Christtag)

ZWEITER HEILIGER CHRISTTAG – 26. DEZEMBER 2008 – PREDIGT ÜBER ST. JOHANNES 1,1-14

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Während meiner Studentenzeit an der Hochschule in Oberursel haben wir Studenten natürlich auch allen möglichen Blödsinn veranstaltet. Ich erinnere mich noch daran, wie eines Tages oben auf dem Flachdach des Fernsehraums ein Bett samt Bettwäsche und allem Zubehör stand, das einem Studenten in dessen Abwesenheit aus seinem Zimmer geräumt worden und von dort auf das Dach gehievt worden war. Wir Studenten standen nun vor dem Gebäude und schauten uns feixend das Bett an, als noch ein Student dazukam. Er hielt sich den Bauch vor Lachen über das Bett da oben auf dem Dach – doch plötzlich hielt er inne und wurde ganz still: „Mensch, das ist ja mein Bett, das da oben steht!“ Ja, mit einem Mal sah die ganze Geschichte für ihn völlig anders aus; er war nicht mehr bloß Zuschauer, sondern Betroffener.
Genau das, was jener Student in Oberursel damals angesichts des Betts auf dem Dach erlebte, ist letztlich auch der tiefste Sinn von Weihnachten. Da gibt es viele Menschen, die machen zu Weihnachten im Prinzip auch nicht viel Anderes, als was wir Studenten damals in Oberursel an jenem Nachmittag gemacht haben: Sie schauen sich ein ungewöhnliches Bett an – ein Bett, das in diesem Fall nun nicht auf einem Dach, sondern in einem Viehstall steht, eine Krippe mit einem Baby drin. Nein, sie lachen in der Regel nicht über dieses ungewöhnliche Bett, sie finden es zumeist eher süß und anrührend, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den Gestank nicht riechen müssen, der diese Krippe damals im Viehstall umgab. Aber die, die diese Krippe so betrachten, die bleiben doch in aller Regel Zuschauer, Leute, die sich das Bett eine Weile angucken und dann weitergehen, ohne dass sich in ihrem Leben irgendetwas verändert hätte. Doch damit verpassen sie eben gerade, worum es zu Weihnachten eigentlich geht: um sie selber nämlich, dass sie merken: Mensch, ich bin ja von dem betroffen, was ich da sehe, dieses Bett, diese Krippe, die hat mit mir, mit meinem Leben zu tun. Im Unterschied zu jenem Studenten in Oberursel soll uns diese weihnachtliche Erkenntnis allerdings gerade nicht erschrecken oder gar ärgern, sondern sie kann und soll bei uns im Gegenteil unbändige Freude auslösen, ein Staunen darüber, dass diese ganze scheinbar so weit weg liegende Geschichte in Wirklichkeit mit mir, mit meinem Leben zu tun hat, dass das, was ich da zu Weihnachten höre, für mich noch unendlich wichtiger ist als die Frage, wo ich gerade mein Bett stehen habe.
Und genau zu dieser staunenden Erkenntnis, Schwestern und Brüder, will uns nun auch das Heilige Evangelium des heutigen Tages anleiten. Beim ersten Hinhören mögen wir allerdings durchaus nicht den Eindruck gewonnen haben, dass diese Worte aus dem Beginn des Johannesevangeliums auch nur irgendetwas mit uns, mit unserem Leben zu tun haben könnten. Gewaltig, geradezu erschlagend klingen sie, setzen ein ganz am Anfang, vor aller Zeit und Welt, scheinen über unseren Köpfen schweben zu bleiben.
Was macht man als Prediger, wenn man mit einer Lesung konfrontiert ist, die scheinbar zu dem Leben der Zuhörer erst einmal gar keinen Bezug zu haben scheint? Ich habe in meinem Studium gelernt, dass man sich gerade in solchen Fällen auf Entdeckungsreise begeben sollte, suchen sollte, wo man in den Worten der Lesung dann doch dem Zuhörer und damit nicht zuletzt auch sich selber begegnet. Und auf solch eine Entdeckungsreise möchte ich mich jetzt auch mit euch begeben, möchte, dass uns auf dieser Entdeckungsreise wieder neu aufgeht, was dieses Weihnachtsfest eigentlich mit uns, mit unserem Leben zu tun hat.
Im ersten Vers des Heiligen Evangeliums des heutigen Tages kommen wir definitiv nicht vor: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Aber das ist zugleich auch eine ganz wichtige Erkenntnis und Aussage, dass es da eine Realität gibt, in der wir nicht vorkommen, die außerhalb von uns selbst ist. Für viele Menschen reicht die Welt ja nicht weiter als bis zu den Grenzen dessen, was sie sich selber vorstellen können, was ihnen selber einleuchtet, was in ihrer alltäglichen Wirklichkeit vorkommt. Alles, was darüber hinausgeht, interessiert sie nicht, oder sie leugnen es direkt: Ich habe den lieben Gott noch nie gesehen, also gibt es ihn nicht.
Ach, wie kurzsichtig ist es, so zu denken, so macht uns St. Johannes hier gleich am Beginn seines Evangeliums deutlich. Diese Welt, in der wir leben, die wir tagtäglich erfahren, die hat einen Ursprung, und dieser Ursprung, dieser allererste Anfang ist wiederum nicht dem Prinzip von Ursache und Wirkung unterworfen. Ewig ist der, der an diesem Anfang steht, nein, ewig ist nicht die Materie, ewig ist Gott, ewig ist das Wort, und beide gehören so eng zusammen, dass Johannes formulieren kann: Gott war das Wort. Nein, du verdankst deine Existenz nicht dir selber, du verdankst deine Existenz auch nicht irgendeinem blinden Zufall, der dich auf wundersame Weise aus einigen Aminosäuren hat entstehen lassen. Nein, dass du lebst, verdankst du Gott selber, der auch dich im wahrsten Sinne des Wortes ins Leben gerufen hat durch sein Wort. Ja, ohne dieses Wort ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Liebe Schwester, lieber Bruder: Merkst du, wie du gleich hier am Anfang dieses wunderbaren Liedes ganz persönlich vorkommst? Ja, Weihnachten beginnt damit, dass dir wieder neu klar wird, dass du Geschöpf Gottes bist, dass Gott damit deinem Leben einen Sinn, ein Ziel gegeben hat, dass sich dieser Sinn deines Lebens nur erschließt, wenn dir klar ist, wem du dieses Leben eigentlich verdankst.
Nun muss ich an dieser Stelle kurz unterbrechen und ein wenig Griechisch mit euch machen: Vom Leben habe ich nun eben die ganze Zeit geredet. Im Griechischen wird unser deutsches Wort „Leben“ jedoch mit zwei verschiedenen Wörtern wiedergegeben: Das eine Wort ist „bios“. Das Wort kennt ihr im Deutschen aus vielfältigen Zusammenhängen: Biologie – das ist die Lehre vom Leben, Bioprodukte – das sind Produkte, die angeblich ein gesünderes oder längeres Leben bewirken. Aber dieses Bio-Leben, das ist und bleibt ein endliches, ein vergängliches Leben. Ich kann mich noch so „bio“ ernähren – vielleicht lebe ich dann auch tatsächlich zehn Jahre länger. Aber irgendwann ist Schluss. Denn die Welt ist nicht mehr so gut, wie Gott sie ganz am Anfang durch sein Wort geschaffen hatte. In dieser Welt gibt es Finsternis, so formuliert St. Johannes hier, da gibt es so vieles, was unser Leben einschränkt, bedroht, belastet. Und da kann jetzt jeder von euch ganz persönlich eintragen, was es da alles für Finsternis in seinem Leben gibt, was da alles sein Leben einschränkt, bedrückt, seinem Ende entgegengehen lässt. Aber nun gibt es im Griechischen noch ein anderes Wort für „Leben“, und das ist das Wort „zoe“. „Zoe“ – ja, das Wort kommt bei uns im Deutschen auch in dem Wort „Zoologischer Garten“ vor. Aber wenn Johannes von „zoe“ redet, dann meint er eben nicht bloß eine Variante unseres biologischen Lebens, dann meint er ein Leben in Fülle, ein Leben, das der ursprünglichen Absicht Gottes entspricht, ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott, in seiner Gegenwart, ein Leben, das nicht eingeschränkt ist durch Leid, durch Angst, durch Krankheit und Tod. Und von diesem Leben, dieser „zoe“, spricht Johannes nun hier in diesen Versen unserer Predigtlesung. Dieses Leben, diese „zoe“, nein, die haben wir Menschen nicht von uns aus; im Gegenteil: Von diesem Leben sind wir allesamt getrennt; dieses Leben befindet sich nur in ihm, dem Wort Gottes, dem Gegenüber Gottes, der zugleich doch selber auch Gott ist. Ja, wir sehnen uns nach diesem Leben, diesem vollkommenen, uneingeschränkten, ewigen Leben, sehnen uns danach gerade an diesen Weihnachtsfeiertagen, versuchen immer wieder vergeblich, dieses Leben in Fülle bei unseren Weihnachtsfeierlichkeiten bereits Wirklichkeit werden zu lassen, und scheitern daran doch immer wieder. Heute, am Zweiten Weihnachtsfeiertag, ist für die Polizei in Deutschland wieder Großkampftag, weil sich an keinem anderen Tag im Jahr die Leute so sehr in die Wolle geraten wie an diesem Tag, wenn die Enttäuschung wieder von Neuem hochkommt, dass Weihnachten auch diesmal wieder nicht den Himmel auf Erden gebracht hat. Ja, wir sehnen uns nach diesem vollkommenen Leben, geben die Hoffnung nicht auf, doch noch daran teilhaben zu können, und kommen doch von uns aus nicht heran. Merkst du, wie es die ganze Zeit hier in diesen Versen um dich, um dein Leben geht, um dein bios und deine zoe?
Aber nun fährt St. Johannes hier in seinem Lied fort und beschreibt eine geradezu atemberaubende Gegenbewegung: Wir Menschen sehnen uns nach dem wahren Leben und kommen nicht heran. Aber nun macht sich das wahre Leben in Person umgekehrt auf den Weg in diese Welt, kommt auf die Menschen zu. Doch dieselben Menschen, die sich nach diesem wahren Leben so sehr sehnen, erkennen es nicht, wenn es ihnen gleichsam vor die Nase gehalten wird, nehmen es nicht wahr, nehmen es nicht an: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.“ Eigentlich könnte man schon mit etwas Nachdenken darauf kommen, dass diese Welt nicht einfach ein Zufallsprodukt sein kann; eigentlich hätte man schon mit etwas Nachdenken darauf kommen können, dass in dieser Welt der Schöpfer bereits seine deutlich erkennbaren Spuren hinterlassen hat. Aber wir Menschen sind und bleiben blind dafür, sind eher dazu bereit, an irrsinnige Zufälle, an abenteuerliche Hypothesen über die Entstehung des Lebens zu glauben, als an den, der die Welt geschaffen hat und uns an seinem wahren Leben Anteil geben will. Ja, Gott ist in dieser Welt, redet zu uns Menschen auch direkt durch sein Wort, hat schon vor der Geburt Jesu zu seinem Volk Israel geredet durch die Propheten. Aber es nützte alles nichts: Die Menschen waren nicht bereit, auf sein Wort zu hören, ihn selber durch dieses Wort anzunehmen, aufzunehmen, durch ihn das Leben zu bekommen. Nein, das konnten sie auch gar nicht, so fährt Johannes fort, denn in dieses neue Leben, in diese zoe, kann man nur hineingeboren werden, kann selber dazu so wenig beitragen, wie ein Baby dazu beitragen kann, von seiner Mutter geboren zu werden.
Und weil die Menschen so blind für ihn, Gott, sind, weil sie sich ihm immer wieder verweigern, nicht erkennen, dass er es ist, der immer wieder an der Tür ihres Lebens anklopft, darum hat Gott selber zu einem allerletzten Mittel gegriffen: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, so formuliert es St. Johannes hier. Er, der selber Gott in Person ist, er wird Fleisch, ein schwacher, sterblicher Mensch, ja, er wird ganz und gar zu einem von uns. Gott begnügt sich nicht bloß damit, die Menschen darüber zu informieren, dass es ihn gibt. Er geht ganz in unser Menschsein ein, nimmt nicht nur das Menschsein an, wie man einen Mantel anziehen und bei Bedarf auch wieder ausziehen kann, sondern wird Mensch, wird Fleisch, ja, da findet an ihm, dem unveränderlichen Gott, zugleich eine Veränderung statt, nicht nur zeitweise, sondern für immer und ewig: Das Wort, der ewige Sohn Gottes, er wird nie mehr aufhören, zugleich Fleisch zu sein, ein richtiger Mensch wie wir auch. Und das alles einzig und allein, damit wir uns nicht mit einem Bio-Leben zufrieden geben müssen und versuchen müssen, dieses Leben vielleicht um ein paar Jahre zu verlängern, sondern damit wir Anteil haben an diesem Leben in Fülle, an dieser Zoe, an diesem Leben, das er selber in Person ist. Die Krippe im Stall von Bethlehem, sie steht um deinetwillen da, damit du an dieses Leben rankommst, damit dein Leben nicht einfach unter der Erde endet.
Das Wort wird Fleisch; Gott wird sichtbar, darstellbar, anfassbar: Ja, wir sahen seine Herrlichkeit, so schreibt es St. Johannes hier. Nein, diese Herrlichkeit lässt sich nicht in Watt oder Lux messen, sie besteht nicht in einem Lichtschein, der Jesus seit seiner Geburt im Stall von Bethlehem umgeben hätte. Nein, sehen kann man diese Herrlichkeit nur, wenn dieser Jesus einem Anteil an seinem neuen Leben geschenkt hat, wenn er ihn wiedergeboren hat durch das Wasser und den Heiligen Geist. Ja, im Glauben an ihn kannst auch du seine Herrlichkeit heute Vormittag hier in Steglitz sehen, kannst es sehen und miterleben, wie er, der eingeborene Sohn Gottes, auch heute wieder bei uns zeltet. „Und wohnte unter uns“ – so übersetzt Martin Luther. „Und zeltete unter uns“, so heißt es hier wörtlich. Jesus bindet sich nicht an einen bestimmten heiligen Ort; im Gegenteil: Dort, wo er ist, da wird ein Ort durch seine Gegenwart heilig, da wird dieser Ort erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Christus, das ewige Wort Gottes, er zeltet unter uns – das Tuch über den Abendmahlsgeräten mit seiner Zeltform soll uns daran immer wieder erinnern. Ja, sehen darfst du mit den Augen des Glaubens die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes Gottes, wenn du die Hostie, wenn du den Kelch siehst: Da ist er, dein Gott, verborgen und doch zugleich im Lichtglanz seiner Herrlichkeit. Da ist er, dein Gott, um dir auch heute wieder das Leben zu schenken, das diesen Namen wirklich verdient. Da ist er, dein Gott, der sich damals in den Futtertrog von Bethlehem hat legen lassen und der sich heute in deinen Mund legen lässt, damit du Anteil bekommst an dem Leben, in dem es einmal nie mehr dunkel werden wird. Ja, so weit geht Gott, damit auch du an dem Ziel ankommst, für das er doch auch dich einmal geschaffen hat, so weit geht Gott, dass er sich mit dir leibhaftig verbindet, damit du auf dem Weg zu diesem Ziel auch ja nicht auf der Strecke bleibst.
Merkst du es, liebe Schwester, lieber Bruder: Es geht um dich, um dich, um dich bei all dem, was St. Johannes hier schreibt, es geht um dich, um dich, um dich jetzt zu Weihnachten, es geht um dich, um dich, um dich jedes Mal, wenn Christus dich einlädt, es hier am Altar wieder neu zu erfahren, was das heißt: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Um dich geht es – und du sollst nicht erschrecken, sondern darfst vor Freude aufspringen, dass Gottes Geschichte vom ersten Anfang bis zu dir in dein Leben hinein geführt hat. „Das hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu sich alle Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit.“ Amen.