02.11.2008 | St. Matthäus 9, 18-26 (24. Sonntag nach Trinitatis)

24. SONNTAG NACH TRINITATIS – 2. NOVEMBER 2008 – PREDIGT ÜBER ST. MATTHÄUS 9,18-26

Als er dies mit ihnen redete, siehe, da kam einer von den Vorstehern der Gemeinde, fiel vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist eben gestorben, aber komm und lege deine Hand auf sie, so wird sie lebendig. Und Jesus stand auf und folgte ihm mit seinen Jüngern. Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes. Denn sie sprach bei sich selbst: Könnte ich nur sein Gewand berühren, so würde ich gesund. Da wandte sich Jesus um und sah sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und die Frau wurde gesund zu derselben Stunde. Und als er in das Haus des Vorstehers kam und sah die Flötenspieler und das Getümmel des Volkes, sprach er: Geht hinaus! Denn das Mädchen ist nicht tot, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. Als aber das Volk hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff sie bei der Hand. Da stand das Mädchen auf. Und diese Kunde erscholl durch dieses ganze Land.

Heute Nacht wird in aller Frühe bei mir vor der Tür ein Taxi stehen und mich zum Flughafen Tegel fahren. Ja, dieses Taxi werde ich ganz früh bestellen, damit es für mich auf keinen Fall morgen früh knapp wird, damit ich nicht in die Gefahr gerate, dass ich nachher zu spät am Flughafen ankomme und den Start meiner Maschine, die mich in den Urlaub befördern soll, nur noch von der Besucherterrasse aus verfolgen kann.
Ja, wir können so manche Maßnahmen ergreifen, um nicht zu spät zu kommen, wenn es um wirklich wichtige Termine, um wirklich wichtige Entscheidungen geht. Und dennoch bleibt es uns Menschen nicht erspart, dass wir in unserem Leben doch immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass wir zu spät dran sind, dass da Entscheidungen bereits gefallen sind, an denen wir nichts mehr ändern können, die wir nicht mehr rückgängig machen können. „Zu spät“ – so äußert es beispielsweise mancher, der in seinem Leben nie etwas von Kirche und Glauben mitbekommen hatte und nun darauf angesprochen wird: „Ja, wenn ich früher einen Zugang zum Glauben gefunden hätte, dann wäre daraus vielleicht noch was geworden; aber jetzt ist es zu spät, jetzt muss ich zusehen, wie ich mein Leben auch ohne Glauben, ohne Kirche einigermaßen anständig über die Bühne bringe.“ Und „zu spät“ – diese Gedanken gehen uns gerade auch dann immer wieder durch den Kopf, wenn wir mit der Realität des Todes konfrontiert werden. Endgültig ist der Tod, jetzt ist es zu spät, mit medizinischen Maßnahmen noch irgendetwas retten zu wollen, jetzt ist es zu spät, mit dem Verstorbenen noch sprechen, mit ihm noch etwas abklären zu wollen, jetzt ist es zu spät, sich mit ihm noch zu versöhnen. Ja, schmerzlich ist diese Erkenntnis, zu spät dran zu sein, schmerzlich ist es erst recht, wenn wir dabei zugleich erkennen, dass wir damit das Beste und Wichtigste im Leben überhaupt verpasst haben, einfach, weil wir zu spät dran sind.
„Zu spät!“ – So möchte man es als Betrachter auch den beiden Menschen zurufen, die uns St. Matthäus im Heiligen Evangelium dieses heutigen Sonntags vor Augen stellt: „Was ihr wollt, was ihr erwartet, das kann gar nichts mehr werden; ihr seid zu spät dran. Gebt eure Hoffnung auf, findet euch damit ab, dass ihr an eurer Lage nichts mehr ändern könnt!“ Doch genau das machen diese beiden Menschen hier in unserem Evangelium nicht. Sondern sie wenden sich je in ihrer Weise an Jesus, erwarten von ihm gerade da Hilfe, wo eigentlich schon längst alles zu spät ist. Und dabei machen sie eine Erfahrung, die auch für uns heute immer noch von entscheidender Bedeutung ist: Für Jesus gibt es kein „Zu spät“:

- nicht im Blick auf unseren Lebensweg
- nicht im Blick auf unseren Tod.

I.

Schauen wir zunächst auf die Frau, die uns hier in dieser Geschichte geschildert wird. Seit zwölf Jahren hatte sie den Blutfluss, so formuliert es St. Matthäus hier ganz nüchtern. Was für ein Leid das für diese Frau in Wirklichkeit bedeutete, kann man nur erahnen: Menstruationsblutungen machten nach den Vorschriften des 3. Buches Mose eine Frau unrein: Niemanden durfte sie berühren, niemand durfte sich dorthin setzen, wo sie gesessen hatte, solange sie ihre Blutungen hatte, und natürlich konnte und durfte sie in dieser Zeit auch nicht am Gottesdienst teilnehmen. Und wenn eine Frau diese Blutungen nun dauernd, ohne Unterbrechungen hatte, dann war das eben nicht bloß lästig, dann war das nicht bloß ein hygienisches oder gesundheitliches Problem, sondern damit war diese Frau ausgegrenzt aus der Gemeinschaft der Menschen, war sie ausgegrenzt auch aus der Gemeinschaft mit Gott. Zwölf Jahre ging das bei dieser Frau nun schon; so lange konnte sie nun schon nicht mehr zum Gottesdienst kommen, so lange war sie nun schon unrein. Eigentlich ein hoffnungsloser Fall – wie sollte sich daran noch einmal etwas ändern? Doch diese Frau gibt nicht auf und macht etwas eigentlich Ungeheuerliches: Sie pirscht sich von hinten an Jesus heran, um eine Quaste seines Gebetsmantels zu berühren, den Jesus als frommer Jude trug. Nein, das war nicht nur ein bisschen unanständig, dass sich eine Frau so an einen Mann heranmachte; das bedeutete in Wirklichkeit viel mehr: Mit ihrer Berührung machte sie nach den Gesetzesvorschriften des 3. Buches Mose auch Jesus unrein, hinderte ihn zumindest für diesen Tag daran, weiter noch für andere Menschen tätig sein zu können, weil er sich als Unreiner ja von den Anderen, den Reinen fernzuhalten hatte. Doch die Frau macht es trotzdem, nicht aus Rücksichtslosigkeit gegenüber Jesus, sondern weil sie glaubt: „Dieser Jesus, der wird durch mich nicht unrein, der hat im Gegenteil die Kraft, mich gesund zu machen; ja schon allein ihn zu berühren, das wird mir helfen, das kann mich heil machen.“ Eine reichlich abergläubische Vorstellung, mögen wir meinen, das klingt ja fast ein bisschen magisch: Heilung durch Berührung! Doch Jesus nennt diese Annäherung der Frau, diese Berührung in der Hoffnung auf Heilung „Glaube“, spricht der Frau zu, dass dieser Glaube ihr helfen wird, dass ihr durch diesen Glauben Hilfe und Rettung widerfährt. Und genauso geschieht es. Für Jesus kommt diese Frau nicht zu spät, auch nicht nach zwölf Jahren, auch nicht, nachdem sie so lange aus der Gemeinschaft des Gottesvolkes ausgeschlossen war. Er ermöglicht ihr die Rückkehr, ermöglicht ihr den Neuanfang, macht sie damit heil an Leib und Seele.
Mit alttestamentlichen Reinheitsgeboten haben wir es heute nicht mehr so; ob eine Frau gerade ihre Tage hat oder nicht, braucht keinen sonst in der Gemeinde zu interessieren; das braucht auch keine Frau von der Teilnahme am Gottesdienst abzuhalten. Doch diese Szene, die St. Matthäus uns hier schildert, ist und bleibt doch hochaktuell, denn in der Gestalt dieser Frau erkenne ich so viele Menschen, auch so viele Glieder unserer Gemeinde wieder:
Den Anschluss an die Gemeinde verloren haben sie im Laufe der Zeit, ja, damit auch den Anschluss an Christus, an die Gemeinschaft mit ihm. Fünf Jahre, zehn Jahre, zwölf Jahre sind sie vielleicht schon dem Heiligen Abendmahl ferngeblieben, haben sich allmählich der Gemeinde entfremdet. Nein, da geht es jetzt gar nicht um Schuldzuweisungen, so wenig, wie es darum gehen könnte, der armen Frau hier in unserer Geschichte irgendwelche Schuld an ihrem Ergehen zuzuweisen. Sie war nun einmal in dieser Lage, kam da nicht mehr raus – und so kommen auch so viele, die erst einmal weg vom Fenster sind in der Gemeinde, selber kaum noch aus ihrer Lage wieder raus – „jetzt“, so denken sie, „ist es doch ohnehin schon zu spät.“ Was sie vom christlichen Glauben noch wissen, ist vielleicht auch nicht viel mehr als das, was diese Frau hier von Jesus wusste: Dass er ihr in der Not vielleicht doch helfen kann. Alles theologisch vielleicht nicht sehr weit durchdacht, vielleicht sogar reichlich primitiv. Wie soll daraus noch einmal ein Neubeginn werden?
„Zu spät“ – so mögen wir als Menschen denken. „Zu spät – was kümmert sich der Pastor immer noch um solche Leute? Bei denen ist doch sowieso schon Hopfen und Malz verloren; die kommen doch eh nicht zurück!“ Doch für Jesus gibt es kein „Zu spät“ – auch nicht für Leute, die nun schon so lange getrennt von Gott, so lange getrennt von ihm, Christus, gelebt haben. Jesus gibt diese Menschen nicht auf; und er erwartet auch nicht von ihnen, dass sie erst einmal alles richtig wissen müssen, ihren primitiven Glauben durch einen biblisch fundierteren Glauben ersetzt haben müssen, bevor er dazu bereit ist, sich mit ihnen zu befassen. Nein, Jesus stößt keinen zurück, der sich ihm wieder nähern will, lässt auch eine reichlich einfache, primitive Form von Glauben gelten, wenn Menschen sich mit ihrer Hoffnung nur auf ihn richten, von ihm Hilfe und Rettung erwarten. Ja, das habe ich selber schon in unserer Gemeinde wiederholt erlebt, wie Menschen nach Jahrzehnten ohne Christus den Weg zurück zu ihm fanden, Menschen, bei denen scheinbar schon alles zu spät war. Das habe ich selber schon in unserer Gemeinde wiederholt erlebt, wie Menschen, deren Glaubenskenntnisse zunächst einmal mehr als ausbaufähig waren, die vielleicht auch manche merkwürdigen Vorstellungen hatten, hier in unserer Gemeinde heimisch wurden, Christus hier an seinem Altar begegneten, ihn hier nicht weniger direkt berühren durften in den Gestalten von Brot und Wein, als die Frau dies damals bei Jesus tat, und dadurch Hilfe und Heilung erfuhren, Wachstum im Glauben, Frieden, Vergebung.
Nein, für Christus gibt es kein „Zu spät“. Das gilt auch für dich. Der gibt dich nicht auf, auch wenn du selber schon dabei bist, dich aufzugeben. Er verachtet dich nicht für das, was gewesen ist, er ist sich nicht zu fein für dich, erlaubt dir, ihn anzupacken und zu berühren, will gerade so deinen Glauben stärken. Nein, du brauchst dich nicht von hinten an ihn heranzuschleichen; komm hierher durch den Mittelgang, komm nach vorne zu ihm, berühr ihn leibhaftig mit deinem Mund, lass dir dadurch Vergebung, Leben und Seligkeit schenken. Ja, er, Christus, nimmt auch heute alles von dir weg, was dich von Gott trennen könnte, macht dich rein, ganz und gar, noch heute. Nein, es ist für dich noch nicht zu spät.

II.

Und da ist zum anderen dieser Synagogenvorsteher. Ein besonderes Ehrenamt bekleidet er, ein Amt, verbunden mit einem hohen Ansehen in der Bevölkerung. Doch nun hat ihn in seinem Leben eine schwere Katastrophe getroffen: Seine kleine Tochter ist gestorben. Furchtbar war das für ihn – natürlich schon allein, weil es furchtbar für Eltern ist, ein Kind zu verlieren. Doch in seinem Fall bedeutete der Tod dieses Kindes noch mehr: Wenn ein Kind starb, dann galt das damals als Strafe für eine verborgene schwere Sünde der Eltern. Als schwere Sünder standen der Synagogenvorsteher und seine Frau damit vor den anderen Leuten da – und das konnte sehr wohl bedeuten, dass dieser Synagogenvorsteher damit zugleich auch sein Amt verlor. Verzweifelt ist er, und so verhält er sich auch mehr als ungewöhnlich: Anbetend fällt er vor Jesus nieder, huldigt ihm, wie man nur Gott selber huldigte, und bittet ihn allen Ernstes, seine Tochter per Handauflegung wieder zum Leben zu erwecken. Was für eine Erwartung – wer anders als Gott selber sollte zu so etwas in der Lage sein?
Die Tochter ist tot, das ist klar. Doch für Jesus bedeutet das nicht, dass es nun schon zu spät wäre, dass er nun nicht mehr zu kommen bräuchte. Im Gegenteil: Er steht auf und kommt mit, geht mit dem Vorsteher ins Trauerhaus. Was er dort erlebt, entsprach den Trauerbräuchen der damaligen Zeit: Angemietete Flötenspieler und Klageweiber veranstalteten einen großen Lärm, und da der Vorsteher vermutlich ein reicher Mann war, war man bei der Anmietung der Trauermusik nicht gerade kleinlich gewesen. Doch Jesus beendet die ganze Trauermusik abrupt – nein, nicht, weil sie seinem musikalischen Geschmack nicht entsprochen hätte, nicht, weil er stille Trauer für angemessener gehalten hätte, sondern weil diese Leute aus seiner Sicht viel zu früh mit ihrer Trauer begonnen haben: „Das Mädchen ist nicht tot, sondern es schläft“, so erklärt er. Höhnisches Gelächter erntet er für diese Bemerkung. „Natürlich ist das Mädchen tot; davon haben wir uns doch selber überzeugt; wie kann Jesus uns und die Eltern hier für so blöd verkaufen: Tot ist tot, daran lässt sich doch nun nichts mehr ändern, auch nicht mit noch so schönen Sprüchen.“ Doch Jesus weiß: Er kommt nicht zu spät; wo er ist, da ist das Leben in Person. Nur bei der Hand packen muss er das Mädchen, schon steht es auf und lebt. So einfach ist das. Die Flötenspieler, die Klageweiber, sie können wieder abziehen. Wo Jesus erscheint, da werden sie arbeitslos. Denn für den ist es selbst im Tod nicht zu spät.
Klageweiber und Flötenspieler pflegen wir bei Todesfällen heutzutage nicht unbedingt anzuheuern. Doch auch diese Szene, die St. Matthäus hier beschreibt, hat eine ungeheure Aktualität: Da stehen sie, die Leute, die im Angesicht des Todes keine Hoffnung haben, für die mit dem Tod tatsächlich alles aus ist. Mit allem Möglichen versuchen sie die Stille des Todes zu übertönen: Mit feierlichen Beteuerungen, dass die Verstorbenen in unseren Herzen weiterleben werden, mit anrührenden Ansprachen freier Redner, die der versammelten Trauergemeinde erklären, was für ein guter Mensch der Verstorbene doch gewesen sei, mit „Time to say goodbye“ vom CD-Player, mit hübsch bemalten Urnen, vielleicht sogar als Fußball gestaltet. Alles Mögliche unternehmen sie – nur für eines haben sie kein Ohr, lachen nur darüber: für die Botschaft von der Auferstehung der Toten, für die Botschaft, dass Christus die Macht hat, auch diesen verstorbenen Menschen zu einem neuen Leben aufzuerwecken: „Was für ein Quatsch! Was für eine blödsinnige Vorstellung, dass Christus einen verwesenden Leichnam, ein bisschen Asche in einer Urne zu neuem Leben erwecken könnte! Wollt ihr denn nicht anerkennen, dass es dafür nun zu spät ist!“
Nein, das wollen wir nicht anerkennen, denn wir kennen ihn, Christus, den auferstandenen Herrn. Wir kennen ihn, der selber den Tod überwunden hat und die Macht hat, Menschen dem Tod zu entreißen, die ihm doch scheinbar hoffnungslos verfallen sind. Er braucht uns nur an der Hand zu packen, dann stehen wir auf. Und er hat uns bereits an unserer Hand gepackt in unserer heiligen Taufe, hat uns dort bereits mit sich auferstehen lassen in ein neues Leben, das auch der Tod nicht mehr zerstören kann. Und mit seiner Hand hält er uns auch weiter fest, wird er uns auch einmal festhalten, wenn wir einmal in einem Sarg liegen werden, wenn menschlich gesprochen von uns doch scheinbar gar nichts mehr übrig bleibt. Weil Christus uns mit seiner Hand festhält, darum wird es für uns nie zu spät sein, darum werden wir leben, für immer leben in seiner Gemeinschaft. „Er schläft“, „sie schläft“ – wenn wir das im Blick auf einen getauften Christen sagen, der gestorben ist, dann ist das keine Schönrederei. Dann nehmen wir nur auf, was Jesus selber über das tote Mädchen damals gesagt hat. Er schläft, sie schläft, mehr nicht, schläft dem Augenblick entgegen, an dem Christus ihn und sie aufwecken wird, hinein in ein neues Leben, in dem es endgültig kein „Zu spät“ mehr geben wird. Denken wir daran, wenn uns die scheinbar unumstößliche Realität des Todes den klaren Blick für die Wirklichkeit zu trüben droht, denken wir daran, wie Christus selber das sieht, was für uns das Ende zu sein scheint – ja, schauen wir vor allem immer wieder auf ihn, Christus, und richten unsere Hoffnung auf ihn. Denn bei ihm, Christus, gibt es kein „Zu spät“. Amen.