19.10.2008 | 1. Johannes 2, 12-17 (22. Sonntag nach Trinitatis)

22. SONNTAG NACH TRINITATIS – 19. OKTOBER 2008 – PREDIGT ÜBER 1. JOHANNES 2,12-17

Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennt den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden. Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.

Eigentlich wollten sie sich noch nicht einmal filmen lassen, denn eigentlich gehörte auch schon das „Bildl obnehmen“, wie sie es nannten, zur Augenlust und zum hoffärtigen Leben, mit dem sie nichts zu tun haben wollten, sie, die Hutterer in ihrer Kolonie in der nordamerikanischen Prärie. Doch dann ließen sie es schließlich doch zu, und so entstand im Jahr 2004 ein eindrucksvoller Dokumentarfilm über die „Kommune der Seligen“, wie der Titel des Films heißt.
Ja, es gibt sie, die christlichen Gruppierungen, die die Worte unserer heutigen Predigtlesung so auslegen, dass sie gar nichts mit dieser Welt zu tun haben wollen, sich aus ihr zurückziehen und in einer eigenen christlichen Gegenwelt leben, am besten natürlich in Amerika, weil da genügend Platz ist, dass einem die böse Welt nicht allzu sehr auf die Pelle rücken kann. Und so leben sie also dort oben im Süden Kanadas, noch in derselben Kleidung, die ihre Vorfahren vor fast 500 Jahren getragen hatten, ohne Fernsehen, Radio und andere Medien – wobei das mittlerweile so ganz auch nicht mehr stimmt, denn im Internet findet man mittlerweile doch auch schon eine Homepage zumindest einer hutterischen Gruppe. Die Welt kommt eben auch den Hutterern immer näher.
Fleischeslust, Augenlust, hoffärtiges Leben – wenn die Heilige Schrift davor hier so eindringlich warnt, was dürfen wir dann als Christen eigentlich alles, und was dürfen wir nicht? Die Hutterer und die verwandte Gruppe der Amish in den USA werden da durch den technologischen Fortschritt vor immer neue Probleme gestellt: Fällt beispielsweise ein Reißverschluss schon unter diese Kategorie, und wie sieht es mit der Benutzung eines Autos aus? Es gibt Gruppen der Amish, die sich mittlerweile dazu durchgerungen haben, dass man ein Auto benutzen darf – aber es muss natürlich schwarz sein, damit es nicht die Augenlust fördert.
Nun mögen wir über solche Gruppierungen ein wenig schmunzeln und uns im Vergleich zu ihnen viel freier und fortschrittlicher vorkommen. Aber das ändert ja nichts daran, dass die Warnung vor der Fleischeslust, der Augenlust und dem hoffärtigen Leben hier in der Heiligen Schrift steht, ändert nichts daran, dass sich diese Frage für uns Christen in immer neuen Zusammenhängen stellt: Was darf denn nun ein Christ, und was darf er nicht? Darf ein Christ fernsehen – oder ist das schon eine Sünde? Darf ein Christ Bier trinken – oder ist das auch schon eine Sünde? Darf ein Christ in die Disco gehen – oder ist das auch schon eine Sünde? Darf ein Christ Computerballerspiele spielen, darf ein Christ in die Sauna gehen, darf ein Christ vor der Ehe schon einmal den Körper seiner Freundin genauer erkunden, darf ein Christ rauchen, darf ein Christ bei Glücksspielen mitmachen, welche Kleidung darf ein Christ tragen und welche nicht, welche Filme darf sich ein Christ anschauen und welche nicht – ach, Schwestern und Brüder, die Liste könnte ich jetzt noch beliebig verlängern. Und natürlich könnte man jetzt auf jede dieser Fragen eine lange Antwort geben und erklären, was denn nun möglich und erlaubt ist und was nicht. Doch damit würden wir uns ganz schnell auf einen falschen Dampfer begeben, würden ganz schnell dem Missverständnis Vorschub leisten, als ob genau das einen Christen ausmacht, dass er dieses oder jenes tut und dieses oder jenes bleiben lässt. Doch damit würden wir genau das eigentlich Wichtige übersehen, was einen Christen zum Christen macht, würden uns stattdessen in immer neuen Gesetzesvorschriften verheddern, ab wie viel Bieren ein Christ denn nun zu sündigen anfängt und ab wie viel Zentimeter Rocklänge bei dem Betrachter die Fleischeslust gefördert wird.
Der heilige Johannes leitet uns hier zu einer ganz anderen Vorgehensweise an: Der spielt hier gerade nicht den Moralapostel, auch wenn man bei ungenauem Hinhören zunächst einmal diesen Eindruck gewinnen mag, sondern der stellt den Empfängern seines Briefes zunächst einmal ganz klar vor Augen, worin das Christsein eigentlich besteht, um dann von daher Konsequenzen aufzuzeigen, die das für unser Leben im Alltag hat. Ja, ganz aktuell sind die Antworten, die St. Johannes uns hier gibt, die Antworten auf zwei ganz grundsätzliche Fragen:

- Was ist ein Christ?
- Wie lebt ein Christ?

I.

Mit einer Reihe von unterschiedlichen Anreden, die uns erst einmal etwas merkwürdig vorkommen mögen, beginnt unsere heutige Predigtlesung: Da werden Kinder, Väter und junge Männer angeredet. Da könnte man natürlich fragen: Wo bleiben denn nun die Mütter und die jungen Frauen? Vor allem aber bleibt es schwierig, das, was über die einzelnen Personengruppen, die hier genannt werden, gesagt ist, nur auf diese jeweilige Gruppe zu beziehen: Werden nur den Kindern die Sünden vergeben? Kennen nur Väter Christus? Bleibt das Wort Gottes nur in jungen Männern? Nein, was St. Johannes hier in immer neuen Wiederholungen schreibt, gilt wohl jedes Mal der ganzen Gemeinde, aber doch so, dass er zugleich daran erinnert, dass Menschen in ihrem Glaubensleben durchaus auch immer wieder unterschiedliche Funktionen in der Gemeinde wahrnehmen: Wie Kinder dürfen sie sich immer wieder beschenken lassen, wie junge Männer stellen sie sich dem Kampf mit Anfechtungen und Versuchungen, als geistliche Väter und Mütter weisen sie anderen in der Gemeinde den Weg. Doch trotz dieser unterschiedlichen Funktionen bleibt doch dies eine ganz klar erkennbar: Was einen Christen ausmacht, ist nicht, ob er dies oder jenes tut, ob er in die Disco geht oder nicht, ob er Fernsehen guckt oder nicht. Sondern was einen Christen ausmacht, ist allein das Leben in der Gemeinschaft mit Christus.
Und genau das dekliniert der heilige Johannes hier nun in diesen ersten Versen unserer Predigtlesung immer wieder von neuem durch: „Euch sind die Sünden vergeben um seines Namens willen“, damit beginnt er. Ja, das macht einen Christen zum Christen, dass ihm die Sünden vergeben sind und immer wieder vergeben werden. Ein Christ ist nicht einer, der keine Sünde hat, sondern einer, der aus der Vergebung lebt. Ja, Schwestern und Brüder, ich weiß, das klingt nun auch so abgelutscht, von der Sündenvergebung ist in der Kirche dauernd die Rede. Doch in Wirklichkeit brauchen wir dafür ein ganzes Leben, um das auch nur ansatzweise ermessen zu können, was das heißt: In meinem Leben zählt nicht das, was ich getan habe, was ich geleistet habe; in meinem Leben zählt allein, was Gott getan hat, was er mir um Christi willen geschenkt hat. Nein, ich komme in meinem Leben als Christ eben niemals in den Zustand der Vollkommenheit; sondern ich bleibe immer, ein Leben lang, angewiesen auf diese Vergebung, darauf, dass Gott selber immer wieder auslöscht, was mich in seinem Gericht anklagen und verdammen könnte.
„Ihr kennt den, der von Anfang an ist“, fährt St. Johannes fort. Ja, ein Christ ist einer, der seinen Herrn Jesus Christus kennt, ihn, der nicht nur ein netter Mensch war, nicht nur ein Vorbild, ein Prophet, ein großer Lehrer, sondern der der ewige Gott war und ist und sein wird, er, der von Anfang an ist, er, in dem Gott selber zu uns Menschen gekommen ist. Ja, ein Christ ist einer, der das nicht bloß weiß, sondern der diesen Jesus Christus lieb hat, weil der für ihn alles getan hat, weil dieser ewige Gott für ihn sein Leben in den Tod gegeben hat.
„Ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden“, so schreibt St. Johannes hier schließlich. Nein, auch hier redet Johannes nicht von dem, was sie, die Christen geleistet haben, nicht von dem, was sie aus eigener Kraft erreicht haben. Sondern er redet von dem, was das Wort Gottes, was die Taufe an und in den Empfängern seines Briefes bewirkt hat: Anteil gegeben hat Christus ihnen dadurch an seiner Stärke, an seinem Sieg über den Teufel, hat in ihnen Wohnung genommen und ihnen damit die Kraft geschenkt, auch weiter in dem Kampf mit all den Mächten bestehen zu können, die sie wieder von Gott wegziehen wollen.
Darum also, liebe Schwester, lieber Bruder, bist du auch ein Christ: Getauft bist du, und damit hat Christus auch von dir abgewaschen, womit du in Gottes Augen nicht bestehen könntest. Ja, auch dir sind deine Sünden vergeben, so hast du es heute Morgen wieder in der Beichte gehört, nein, hast es dort nicht nur gehört, sondern diese Vergebung ganz persönlich empfangen. Und zu einem Christen macht Christus selber dich nun gleich wieder, wenn er mit seinem Leib und Blut in dir Wohnung nimmt, trotz all dessen, was da auch in der vergangenen Woche wieder in deinem Leben geschehen ist. Ein Christ bist du, denn du hast deinen Heiland Jesus Christus lieb, sonst hättest du dich heute Morgen wohl kaum hierher auf den Weg in die Kirche begeben. Ein Christ bist du, denn du weißt: Am Anfang und am Ende all dessen, was in dieser Welt geschieht, am Anfang und am Ende auch meines Lebens steht Christus; er ist das A und das O. Ein Christ bist du, denn Christus hat auch dich den Mächten des Bösen entrissen in deiner Taufe, ein Christ bist du, ja, das erfährst du gerade auch darin, dass du merkst, dass da in deinem Inneren immer wieder ein Kampf tobt, dass es da so viel gibt, was dich doch immer wieder von Christus wegziehen will. Wenn du kein Christ wärst, dann gäbe es diesen Kampf nicht, dann hättest du Ruhe, dann hätten die Mächte des Bösen ja genau erreicht, was sie wollten, bräuchten dich nicht länger zu belästigen. Ja, ein Christ bist du, weil Gott selbst mit seiner Liebe in dir wohnt, so fasst es St. Johannes hier zusammen. Ja, merkst du es, wie unglaublich gut du es hast, dass du ein Christ sein darfst?

II.

Und dann redet St. Johannes im Weiteren tatsächlich davon, wie ein Christ lebt. Nein, er macht das gerade nicht so, dass er nun lauter Einzelanweisungen gibt, was ein Christ in welcher Situation genau zu tun hat, was ihm noch so gerade erlaubt ist und was dann eher doch nicht. Sondern er sagt: Lebt so, dass nichts eure Gemeinschaft mit Christus gefährdet und in Frage stellt, dass ihr euch durch nichts und niemand von Christus selber wegziehen lasst.
Darum geht es auch bei diesen zunächst so missverständlich klingenden Stichworten „Fleischeslust“ und „Augenlust“ und „hoffärtiges Leben“. Damit ist nicht gemeint, dass Christen keine Lust am Leben haben dürften, keine Lust am Essen, keine Lust am Sex, keine Freude an schönen Dingen, keinen Spaß gemeinsam mit anderen Menschen. Im Gegenteil: St. Johannes betont hier ja gerade, dass Christus „von Anfang an“ ist, dass also durch ihn die Welt geschaffen worden ist, dass die Welt selber nichts Schlechtes, nichts Böses ist, dass also auch die Dinge, die in ihr geschaffen sind, von daher nicht selber schlecht und böse sind, dass wir uns im Gegenteil an ihnen freuen und sie genießen können. Aber Johannes weiß eben auch, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, eben nicht einfach bloß gut ist, dass in ihr auch der Böse, der Teufel am Werk ist und versucht, uns auch durch diese guten, geschaffenen Dinge von Christus wegzuziehen, uns von diesen eigentlich guten, geschaffenen Dingen abhängig zu machen. Und davor warnt er uns hier eindringlich.
Nein, Fernsehen und Computerspiele sind an sich keine Sünde, keine „Augenlust“. Aber sie können uns abhängig machen, uns Zeit rauben, uns auch mit Bildern prägen, die nicht gut für uns sind – mal ganz abgesehen von dem Niveau dessen, was uns dort im Fernsehen oft genug geboten wird, woran uns Marcel Reich-Ranicki letzte Woche so eindringlich erinnert hat. Ja, wenn Eltern ihre Kinder jeden Tag stundenlang vor der Glotze und vor Computerspielen sitzen lassen, ist das auch eine Form von Körperverletzung. Und wenn jemand in der virtuellen Welt des Computers dauernd trainiert, Gottes Gebote zu übertreten, dann wird das auch auf seine eigene Seele auf die Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben.
Alkohol zu trinken ist an sich auch keine Sünde. Aber wir wissen, wie schnell auch das uns abhängig machen kann, uns zu unfreien Menschen machen kann, die von ihrer Sucht beherrscht werden und sich in ihrer Sucht nicht mehr unter Kontrolle haben.
Geld zu besitzen ist auch keine Sünde. Aber auch das macht eben so schnell abhängig, bestimmt und bewegt unser Herz, dass unsere Gedanken immer wieder so schnell nur noch um dieses Thema kreisen, dass wir mitunter nicht nur unseren Verstand ausschalten, um angeblich ganz schnell an Geld herankommen zu können, uns an irgendwelchen obskuren Gewinnspielen und Schneeballsystemen beteiligen, sondern dass wir dann auch so leicht geneigt sind, Gottes gute Gebote nicht so ernst zu nehmen, wenn sie uns bei unserem Verlangen nach mehr Geld und Besitz im Wege stehen.
Sex ist auch keine Sünde, sondern eine geniale Erfindung unseres Gottes. Wer aber glaubt, dabei die Gebrauchsanleitung des Erfinders beiseite tun zu können, Gottes gutes Gebot übertreten zu können, das diese geschlechtliche Gemeinschaft einbindet in die lebenslange Verbindung von Mann und Frau in der Ehe, bei dem geht auch in seiner Beziehung zu Christus selber etwas kaputt, so warnt der Apostel hier. Nein, ich kann nicht zugleich Christus lieb haben und dem, was er in seinem Wort sagt, ganz bewusst und vorsätzlich immer wieder widersprechen und ihn damit nicht ernst nehmen.
„Aber man muss doch alles mal ausprobiert haben“, so lautet dann ein beliebter Einwand. Und außerdem muss man doch versuchen, so viel vom Leben mitzubekommen, wie einem möglich ist. Nein, das sieht Johannes anders. Gebrauchen können wir vieles in dieser Welt, aber an nichts sollen und dürfen wir uns klammern. Denn all das, woran wir uns in dieser Welt klammern, worauf wir auf keinen Fall verzichten wollen, das vergeht, das darf darum niemals zu unserem Lebensinhalt, niemals zum Allerwichtigsten werden. Wer Christ ist, blickt weiter, der weiß: Wer mit Christus verbunden ist, der bleibt in Ewigkeit, der hat eine Perspektive, die unendlich weiter reicht, die nicht nur auf das schaut, was mir im Augenblick gerade Spaß macht oder einen Vorteil bringt. Nichts und niemand soll uns diese Perspektive verstellen, nichts und niemand darf uns aus dieser Christusgemeinschaft herausziehen. Das ist das Entscheidende, was unser Leben als Christen bestimmt. Und wenn uns das klar ist, dann brauchen wir auch nicht nach Kanada auszuwandern, dann lässt es sich für uns als Christen auch mitten in dieser Welt gut leben, ja auch hier in Berlin! Amen.