18.10.2008 | St. Lukas 1, 1-4 (Tag des Evangelisten St. Lukas)

TAG DES EVANGELISTEN ST. LUKAS – 18. OKTOBER 2008 – PREDIGT ÜBER ST. LUKAS 1,1-4

Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. So habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.

Habt ihr’s schon gelesen – das Judasevangelium? Bereits vor einigen Jahren war es in Ägypten gefunden worden, und nun hat man es vor zwei Jahren auch veröffentlicht, dass jeder es lesen kann. Vieles, was wir darin lesen, klingt ganz anders, als wir es bisher aus den vier Evangelien kannten, die wir im Neuen Testament finden. Muss die Geschichte Jesu, muss die Geschichte des Urchristentums jetzt also noch einmal ganz neu geschrieben werden, ist das Judasevangelium ein weiterer Beweis dafür, dass die alte Kirche Informationen über Jesus, die ihr nicht passten, unterdrückte, nicht ahnend, dass später einmal doch noch die Wahrheit ans Licht kommen würde?
Ja, ich weiß, mit solchen Verschwörungstheorien lässt sich immer wieder gut Geld verdienen; und entsprechend erfreute sich das Judasevangelium nach seiner Veröffentlichung gerade in so manchen esoterischen Kreisen großer Beliebtheit. Und das aus gutem Grund: Denn das Judasevangelium ist eben keine christliche, sondern eine gnostische Schrift, viele Jahrzehnte später entstanden als das Lukasevangelium und letztlich nur eine billige Nachmache des Originals: Jesus, der große Lehrer, der zur Erkenntnis des Göttlichen in einem jeden Menschen anleitet und am Ende Judas bittet, ihn von seiner irdischen Hülle zu befreien. Das ist, wie gesagt, heute wieder ganz modern; aber es enthält eben gerade nicht die ursprüngliche christliche Botschaft. Doch genau um die geht es im Lukasevangelium, an dessen Verfasser wir heute an diesem Tag in besonderer Weise denken. Was ist eigentlich ein Evangelium? Genau mit dieser Frage wollen wir uns nun in dieser Predigt befassen, genauer gesagt

- mit der Grundlage
- mit der Gattung
- mit der Absicht des Lukasevangeliums

I.

Ungewöhnlich beginnt das Lukasevangelium – mit einem kunstvoll gebauten Satz, der das Herz eines jeden gebildeten Griechen höher schlagen ließ, so schön war er formuliert, so schön brachte Lukas in diesem einen Satz zum Ausdruck, worum es ihm in diesem Evangelium ging, das er dem hochgeehrten Theophilus widmete, zu seiner Unterweisung im christlichen Glauben und vermutlich auch als Dank dafür, dass der Theophilus dieses kostspielige Projekt einer Evangelienabfassung als Sponsor großzügig gefördert hatte.
Von der Grundlage des Lukasevangeliums erfahren wir hier zunächst einmal etwas. Und da macht uns der heilige Lukas gleich zu Beginn dies eine ganz deutlich: Er selber ist nicht mit dabei gewesen, als Jesus damals im Heiligen Land gewirkt hat, er war nicht dabei bei Jesu Geburt, nicht bei seiner Taufe, nicht, als er durch Galiläa und Judäa zog, auch nicht bei seiner Kreuzigung und Auferstehung. Nein, Lukas ist kein Augenzeuge dieser Geschehnisse. Aber Lukas hat sich auch nicht einfach hingesetzt und nun nach seinen persönlichen Vorstellungen einen Phantasieroman geschrieben: „Ein Mensch namens Jesus“ oder so ähnlich. Sondern der Lukas hat angefangen, ganz genau zu recherchieren, was damals eigentlich geschehen ist, hat sich nicht bloß auf irgendwelche Gerüchte verlassen, sondern hat die befragt, die es wissen mussten, weil sie selber miterlebt hatten, wovon er in seinem Evangelium nun berichtet. Ja, schriftliche Quellen hatte Lukas offenbar schon vorliegen, er spricht davon, dass schon viele es unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind. Ja, Lukas lebt in einer Zeit, in der die Generation der ersten Augenzeugen bereits alt geworden ist, in einer Zeit, in der man allmählich die Gefahr erkannte, dass Leute anfangen könnten, aus ihrer eigenen Phantasie heraus sich ihr eigenes Jesusbild zu basteln, in einer Zeit, in der man merkte, dass es wichtig und hilfreich war, die Jesusüberlieferungen nun auch einmal für den Gebrauch im Gottesdienst zusammenzufassen. Einige hatten bereits angefangen zu schreiben; andere, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind, wie Lukas es hier formuliert, konnten noch selber mündlich davon berichten. Lukas jedenfalls hat das alles, wie er es hier schreibt, „von Anfang an sorgfältig erkundet“, hat die Quellen studiert, hat die Augenzeugen gesprochen, hat dabei so manches gesammelt, was wir in keinem der anderen Evangelien finden. Wenn der Lukas nicht sein Evangelium geschrieben hätte, dann wüssten wir viel weniger von Maria, der Mutter Gottes, würden die Geschichte von der Ankündigung der Geburt Jesu, von Marias Besuch bei Elisabeth ebenso wenig kennen wie die Weihnachtsgeschichte. Ja, sämtliche Krippenspiele müssten ausfallen, wenn nicht der Lukas offenbar so seine Verbindungen zur Familie Jesu gehabt hätte, möglicherweise sogar zu Maria selber, wenn er nicht so sorgfältig recherchiert hätte. Und worauf müssten wir sonst noch alles verzichten, wenn wir den Lukas nicht hätten: keinen Lobgesang des Simeon könnten wir im Gottesdienst singen, keine Erzählung vom barmherzigen Samariter oder vom reichen Mann und dem armen Lazarus, kein Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom verlorenen Groschen, vom reichen Kornbauern, vom Pharisäer und Zöllner würden wir kennen, keine Erzählung von Zachäus oder von den Emmausjüngern, ja auch von der Himmelfahrt Jesu wissen wir nur durch Lukas und niemanden sonst. Ja, Lukas hat uns diese Überlieferungen bewahrt, hat sie aufgezeichnet, hat uns damit eine solide Grundlage für unseren Glauben gegeben, mit der die gnostischen Phantasieprodukte ein Jahrhundert später in keiner Weise mithalten können. Nein, unser Glaube gründet sich nicht auf irgendwelchen Buschfunk, sondern auf solide Tradition, auf die Aussagen derer, die ihn selber noch erlebt und gesehen haben: ihn, Jesus, vor und nach seiner Auferstehung.

II.

Ein Evangelium hat der Lukas aus dem allen komponiert, was er selber gehört und gelesen hatte. Ein Evangelium, das ist seiner Gattung nach zunächst einmal eine Erzählung, die Geschichten berichtet, wie Lukas es hier ausdrückt.
Das ist nicht selbstverständlich, Schwestern und Brüder, das ist gar nicht so logisch, wie es zunächst klingen mag. Der Koran ist keine Erzählung, die Geschichten berichtet, sondern eine Sammlung von Orakelsprüchen; da findet sich keine fortlaufende Handlung, da findet sich keine chronologische Anordnung, vielmehr sind die Suren nach ihrer Länge geordnet. Und auch das Judasevangelium ist letztlich nur ein müder Abklatsch einer Erzählung. Denn das eigentlich Wichtige für das Judasevangelium wie für alle gnostischen Schriften ist ja nicht, was Jesus getan hat, sondern nur, was er als Weisheitslehrer von sich abgesondert hat. Und darum kann im Judasevangelium am Ende beispielsweise auch die Auferstehung Jesu fehlen; die ist ja nicht wichtig, nachdem Jesus die Leser dieser Schrift zuvor dazu angeleitet hatte, sich selber zu erkennen.
Doch das Lukasevangelium ist eine Erzählung, denn unser christlicher Glaube beruht auf Geschichten, auf Ereignissen, die sich in unserer Menschheitsgeschichte abgespielt haben, etwa zu der Zeit, als ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, zu der Zeit, in der Quirinius Statthalter in Syrien war, wie Lukas es ausdrücklich betont. Nein, das Lukasevangelium enthält keine zeitlosen Wahrheiten, keine schönen Sinnsprüche fürs Poesiealbum, sondern es erzählt den Weg Jesu von seiner Geburt über sein Wirken bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung. Dass Gott selber leibhaftig in Jesus Christus in unsere Geschichte eingegangen ist, daran liegt Lukas besonders, angefangen von der Ankündigung der Geburt Jesu an Maria bis hin zu den Auferstehungsgeschichten, in denen es immer wieder um den Leib Jesu geht, mit dem er, Jesus, schließlich auch als der Auferstandene noch ein Fischbrötchen zu verzehren vermag – eine grauenhafte Vorstellung für jeden Gnostiker!
Zum Erzählen leitet Lukas damit auch uns an, wenn wir nach unserem christlichen Glauben gefragt werden. Da kommen wir eben auch nicht bloß mit irgendwelchen Schlagworten weiter, dass wir von Freiheit oder von Nächstenliebe oder Geborgenheit oder von Gott im Allgemeinen reden. Sondern da kommen auch wir nur weiter, wenn wir davon erzählen, wie Gott sich ganz konkret in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, wenn wir eben von dem erzählen, was uns St. Lukas in seinem Evangelium berichtet. Wie gut, dass St. Lukas uns diese Grundlage für unser Erzählen gegeben hat!

III.

Aber nun ist das Lukasevangelium zugleich auch etwas Anderes als ein Polizeibericht oder eine Zeitungsmeldung. Lukas geht es in seinem Evangelium nicht darum, die Neugier der Leute zu befriedigen, er will nicht bloß eine Zeitzeugendokumentation erstellen. Nein, damit würde er dem Gegenstand, von dem er in seinem Evangelium berichtet, gerade nicht gerecht werden, denn sein Evangelium handelt eben nicht bloß von einer beeindruckenden Persönlichkeit, nicht bloß von einem großen Lehrer, sondern von dem Heiland der Welt, von dem, dessen Leben und Werk auch für das Leben aller Leser dieses Evangeliums von entscheidender Bedeutung ist. Und darum schreibt St. Lukas sein Evangelium natürlich, um dadurch Glauben zu wecken und Glauben zu stärken, schreibt er, um Taufbewerber und getaufte Christen zu unterrichten, um ihnen einen sicheren Grund für ihren Glauben zu geben.
Nein, St. Lukas ist nicht neutral, und entsprechend schreibt er auch nicht als neutraler Beobachter. Aber er schreibt sein Evangelium so, dass er mit dem, was er da berichtet, rechenschaftsfähig ist. Er beschreibt seine Position gleich hier in der Vorrede, schildert gleich, dass er die Geschichte von Jesus so erzählt, dass darin erkennbar wird, dass sich in Jesus die Geschichte des Alten Testaments erfüllt, schildert gleich, dass dieses Evangelium auf Glaubensstärkung zielt. Nein, das heißt gerade nicht, dass Lukas das, was er gehört und gelesen hat, verdreht und verfälscht hat – im Gegenteil: Damit würde er Theophilus und den anderen Lesern seines Evangeliums ja gerade den sicheren Grund ihres Glaubens rauben, wenn er ein frommes Märchen erzählen würde. Es geht schon um die Geschichten, die tatsächlich geschehen sind. Aber die hat Lukas nun in seinem Evangelium so angeordnet und zusammengestellt, dass sie sich den Hörern und Lesern des Evangeliums besonders gut einprägen, dass ihnen das Bild Jesu am Ende des Evangeliums möglichst klar vor Augen steht.
Und eben diesen Dienst leistet Lukas mit seinem Evangelium auch heute noch bei uns. Nehmt euch darum sein Evangelium mal wieder vor, lest es euch einfach mal wieder durch. Ihr werdet wieder neu staunen, dessen bin ich gewiss, was ihr darin wieder alles an Neuem entdecken werdet. Ihr werdet staunen, wie ihr wieder von Neuem in eine Geschichte hineingenommen werdet, in die größte Geschichte aller Zeiten, und ihr werdet es selber wieder von Neuem erfahren, wie eben dadurch euer Glaube gestärkt wird, wie er wieder neu auf sicheren Grund gestellt wird, werdet erfahren, wie Altes und Neues Testament aufeinander, nein besser: gemeinsam auf Christus zugeordnet sind, ja, werdet die Wahrheit des Wortes Jesu erfahren, das uns auch kein anderer als Lukas allein überliefert: Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren. Amen.