24.01.2009 | St. Matthäus 8, 5-13 (Vorabend zum 3. Sonntag nach Epiphanias)

VORABEND ZUM DRITTEN SONNTAG NACH EPIPHANIAS – 24. JANUAR 2009 – PREDIGT ÜBER ST. MATTHÄUS 8,5-13

Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er's. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde.

„Adolf Merckle ist tot. Adolf Merckle hat für seine Familie und seine Firmen gelebt und gearbeitet. Die durch die Finanzkrise verursachte wirtschaftliche Notlage seiner Firmen und die damit verbundenen Unsicherheiten der letzten Wochen sowie die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben den leidenschaftlichen Familienunternehmer gebrochen, und er hat sein Leben beendet.“ – So lautete die Erklärung der Familie des Milliardärs Adolf Merckle, nachdem dieser sich in der Nähe seines Wohnortes Blaubeuren vor einen Zug geworfen hatte.
Nein, es steht uns als Christen nicht zu, über Adolf Merckle und seinen Tod in irgendeiner Weise zu richten. Im Gegenteil: Die Erfahrung, die Adolf Merckle gemacht hat und die seine Familie in ihrer Erklärung beschreibt, ist eine Erfahrung, die doch auch wir in unserem Leben machen können und vielleicht auch gemacht haben, auch wenn wir alle miteinander keine Milliardäre sind und kein Firmenimperium besitzen: Von der Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, spricht Adolf Merckles Familie; ja, genau diese Ohnmachtserfahrung konnte Adolf Merckle nicht länger tragen und ertragen.
Die Dimensionen, um die es bei Adolf Merckle ging, waren gewiss ganz andere als die, die wir kennen. Aber verstehen können wir ihn wohl dennoch nur allzu gut. Uns ist es doch auch wichtig, die Kontrolle über unser Leben zu haben, bestimmen zu können, was in unserem Leben geschieht, tun und lassen zu können, was wir wollen. Und genauso läuft es in unserem Leben ja auch normalerweise, ohne dass wir uns deswegen viele Gedanken machen. Wir entscheiden selber, wie wir unseren Tagesablauf gestalten, wir entscheiden selber, wo wir hingehen und wohin nicht, wir entscheiden selber, mit wem wir zusammen sein wollen und mit wem nicht. Doch dann kann es auch in unserem Leben mit einem Male geschehen, dass wir an Grenzen stoßen, Ohnmachtserfahrungen machen, die wir von uns aus überhaupt nicht überwinden können. Da funktioniert unser Körper mit einem Mal oder vielleicht auch ganz allmählich nicht mehr so, wie er dies bisher doch immer getan hatte, entgleitet unser Körper gleichsam unserer Kontrolle. Nein, da ist dann nichts mehr mit Kopf hoch und zusammenreißen – es klappt einfach nicht mehr; unser Körper will uns einfach nicht mehr gehorchen, durchkreuzt unsere Wünsche und Pläne, lässt uns schmerzlich und eindeutig erfahren, dass wir nicht die Herren über unsere Gesundheit sind, dass wir unseren Körper nicht einfach herumkommandieren können, wie wir wollen. Und das mag dann schließlich sogar einschneidende Konsequenzen haben, dass wir etwa merken, dass wir nicht länger in unserer eigenen Wohnung bleiben können, dass wir dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind, dass wir mehr oder weniger ohnmächtig miterleben müssen, wie andere anfangen, Entscheidungen in unserem Leben zu treffen, vom Tagesablauf bis hin zum Aufenthaltsort. Oder da schienen wir beruflich doch so fest im Sattel zu sitzen – doch dann kam eines Tages die Kündigung, die Arbeitslosigkeit, die Abhängigkeit von den Entscheidungen von Ämtern und Behörden. Oder da machen so viele die Erfahrung, dass ihre Ehe, ihre Familie auseinanderbricht, dass all das, was bisher ein fester Halt im Leben gewesen war, einem mit einem Mal genommen wird. Ohnmächtig ist man da in aller Regel, schafft es zumeist nicht, selber dabei noch das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Ja, die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, die Adolf Merckle am Leben zerbrechen ließ, ist eine Erfahrung, die wir gewiss in unterschiedlicher Intensität in unserem Leben immer wieder machen müssen.
Genau eine solche Erfahrung musste damals auch der Hauptmann machen, von dem St. Matthäus im Heiligen Evangelium dieses Dritten Sonntags nach Epiphanias berichtet. Er war es gewohnt, zu kommandieren, seine Untergebenen hierhin und dorthin zu schicken. Er war es gewohnt, die Kontrolle über sein Leben zu haben und zu behalten. Aber nun muss er erfahren, dass auch er mit allem Kommandieren und Kontrollieren nicht mehr weiterkommt: Sein Knecht oder gar sein Sohn – das griechische Wort meint beides – erkrankt schwer, ist gelähmt und leidet große Qualen. Ohnmächtig muss der Hauptmann das ansehen, stößt an seine Grenzen, kann dem Kranken auch nicht helfen. Und so macht er sich auf den Weg nach Kapernaum, in den Ort, in dem Jesus wohnte und wirkte, um Jesus um Hilfe zu bitten. Der hat ganz andere Möglichkeiten zu kommandieren und zu kontrollieren als er, der Hauptmann, so stellt dieser sich die Geschichte vor: Er, der Hauptmann, hat nur die Befehlsgewalt über hundert Leute; für alle anderen ist er nicht zuständig. Doch Jesus ist für ihn sozusagen der Oberkommandierende – nicht nur über die Menschen, sondern auch über alle Mächte des Bösen, ja, auch über alle Krankheiten. Der braucht nur ein Wort zu sprechen, und schon muss ihm alles gehorchen, jeder Mensch und eben auch jede Krankheit.
Doch als der Hauptmann bei Jesus ankommt, muss er gleich noch eine weitere Ohnmachtserfahrung machen, eine Ohnmachtserfahrung, die noch viel weiter reicht als die, die er zuvor am Bett seines Jungen machen musste: Er ist ja Heide, kein Jude; ihm gelten nicht die Zusagen, die Gott seinem auserwählten Volk Israel im Alten Testament gegeben hatte, ja mehr noch: Ihm galt auch erst einmal nicht der Dienst, zu dem Jesus von seinem Vater ausgesandt worden war. Jesus sollte sich erst einmal um sein Volk, sein jüdisches Volk kümmern; das war der Auftrag, den er von Gott, seinem Vater, bekommen hatte. Genau diesen Auftrag nahm Jesus ganz ernst. Und von daher beantwortet Jesus die Bitte des Hauptmanns hier in unserer Geschichte vermutlich wohl doch eher mit einer abweisenden Gegenfrage und nicht mit einer Zusage, wie Martin Luther diese Worte übersetzt hat. „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ – So übersetzt Luther. „Ich soll allen Ernstes kommen und ihn gesund machen?“ – So ist dieser Satz wohl in Wirklichkeit gemeint. Ja, was erwartest du eigentlich von mir? Ich, der Jude, soll in das Haus eines Heiden gehen? Ich soll mich um ein Heidenkind kümmern, wo ich doch mit dem Volk Israel allemal genug zu tun habe?! Nein, dem kann der Hauptmann nichts entgegensetzen: Jesus hat alles Recht der Welt, ihn abzuweisen, die Grenze deutlich zu markieren, die ihn von dem Hauptmann trennt. Nur eines kann der Hauptmann machen, und er macht es auch tatsächlich: Er bringt seinen Glauben an ihn, den Herrn, zum Ausdruck, seinen Glauben, der auch das Vertrauen beinhaltet, dass Jesus mit seinem Wort auch über Entfernungen hin zu heilen vermag, dass er das heidnische Haus, in dem er, der Hauptmann, wohnte, gar nicht zu betreten braucht: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.“
Und Jesus – der staunt über diesen Hauptmann, staunt über den Glauben, den dieser Heide ihm gegenüber zum Ausdruck bringt. Ja, Jesus staunt und erkennt in dieser Reaktion des Hauptmanns, wie sich die Verheißungen des Alten Testaments nunmehr zu erfüllen beginnen: Menschen aus allen Völkern finden den Weg zum Gott Israels, finden den Weg in die Gemeinschaft des Volkes Gottes. Ja, wo dieses Neue anbricht, da kann er sich dem auch schon vor Ostern nicht verschließen. Und so spricht Christus sein machtvolles, Leben schaffendes Wort – und dieses Wort wirkt bis in das Haus des Hauptmanns hinein und macht dessen Jungen wieder gesund. 
Und wie ist das nun bei uns? Was bedeutet diese Geschichte für die Ohnmachtserfahrungen, die wir in unserem Leben machen? Um diese Geschichte in ihrer Bedeutung für uns richtig verstehen zu können, müssen wir im Matthäusevangelium noch einmal zwanzig Kapitel weiterblättern bis zum letzten Kapitel: Da greift der auferstandene Christus nämlich noch einmal die Geschichte vom Hauptmann vom Kapernaum auf und gibt sich nun ganz offen als der zu erkennen, als der er bereits damals von dem Hauptmann anerkannt worden war: als der Oberkommandierende der ganzen Welt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Und als Oberkommandierender sagt Christus zu seinen Jüngern nun auch: Geht hin! Ja, geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker. Nein, es soll keine Grenze mehr geben, die irgendeinem Menschen den Zugang zu mir, dem auferstandenen Herrn, verwehren könnte. Alle sollen zu mir kommen, in meiner Gemeinschaft leben können. Und diese Worte Jesu, die ermutigen darum auch uns, uns gerade auch in unseren Ohnmachtserfahrungen an ihn, unseren Herrn, zu wenden. Nein, wir werden von ihm, Christus, nicht zu hören bekommen: Ich bin für dich nicht zuständig, du gehörst gar nicht zu mir, zu meinem Volk! Im Gegenteil: Bei ihm, Christus, bist du allemal gleich an der richtigen Adresse mit deinen Nöten, deiner Angst, deiner Verzweiflung. Vor ihm brauchst du dich deiner Ohnmacht nicht zu schämen, vor ihm, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Nein, das heißt nicht, dass du deinerseits Christus herumkommandieren könntest, wie es dir gefällt. Er bleibt der Oberkommandierende, nein, das bist nicht du. Und es kann dir sehr wohl geschehen, dass Christus auch auf deine Bitten nicht gleich so reagiert, wie du dir dies wünscht, dass er auch dich erst einmal hängen lässt, um gerade so den Glauben in dir hervorzurufen, den Glauben, der sich ganz und gar an ihn, Christus, hängt. Christus löst nicht alle unsere Probleme so, wie wir dies möchten. Er macht nicht alle Finanzkrisen und alle persönlichen Krisen einfach rückgängig. Aber eines macht er auf jeden Fall: Er kommt, er kommt persönlich zu uns, um unter unser Dach einzugehen. Ja, das kostet ihn gewiss Überwindung, denn was er bei uns, in uns vorfindet, ist gerade nicht unbedingt das, was er sich so wünscht. Da findet er in unserem Leben, in unserem Herzen so viel Dreck, so viel Unrat, so viel, was ihn einfach nur abstößt. Aber er kommt trotzdem, kommt gerade deshalb, weil er weiß, wie sehr wir seinen Besuch brauchen, wie sehr wir es brauchen, dass er in uns Wohnung nimmt. Ja, es ist gut, wenn wir das niemals als selbstverständlich ansehen, wenn wir über diesen Besuch immer wieder von Neuem staunen und erkennen, dass wir ihn nicht verdient haben: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach eingehst, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“ – So beten wir, bevor wir den Leib des Herrn im Heiligen Mahl empfangen. Und dann kommt Christus, macht noch viel mehr, als bloß ein Wort zu sprechen, macht unsere Seele gesund, indem er uns mit unserem Mund seinen Leib und sein Blut empfangen lässt. Und das wirkt sich dann auch aus in den Nöten und Problemen unseres Alltags, das hilft uns dann auch in unseren Krankheiten, unseren Sorgen und Ängsten, ja, das hält uns fest bis in die Stunde unseres Todes.
Am Wort Christi hängt alles, an der Zusage, die er uns schon in unserer Taufe gegeben hat, an dem Wort, das Brot und Wein zu seinem Leib und Blut werden lässt. Ja, am Wort Christi hängt alles und nicht an der Stärke unseres Glaubens. Vom Glauben dieses Jungen, der da geheilt wird, ist in der ganzen Geschichte interessanterweise überhaupt nicht die Rede. Es reicht, dass da ein anderer für ihn eintritt, für ihn bittet, für ihn glaubt. Ja, genau darum geht es auch bei uns immer wieder: Es mag Situationen, ja Zeiten in unserem Leben geben, in denen wir selber von unserem Glauben gar nichts spüren, in denen wir selber gar nicht mehr weiter wissen, in denen wir den Eindruck haben mögen, dass Gott uns gar nicht mehr hört. Aber das eine dürfen wir dann wissen: Ich habe da in der Gemeinde, in der Kirche andere an meiner Seite, die treten vor Gott für mich ein, die bitten für mich, ja, die glauben für mich. Und Christus, der hört auf diese Bitten, der schaut auf diesen Glauben, lässt das gelten, spricht auch daraufhin sein rettendes, Leben spendendes Wort. Gott geb’s, dass wir uns gerade auch dessen immer wieder trösten können, wenn wir wieder einmal die Ohnmacht erfahren, gar nicht mehr selber handeln zu können. Christus spricht, und Christus kommt, und zu wem er spricht und zu wem er kommt, den lässt er nicht fallen. Amen.