30.05.2010 | Römer 11, 33-36 (Trinitatis)

TRINITATIS – 30. MAI 2010 – PREDIGT ÜBER RÖMER 11,33-36

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

In dieser Predigt will ich mich im Wesentlichen mit einem einzigen Wort aus der Epistel des heutigen Festtags befassen, und zwar gleich mit dem allerersten. Und dieses allererste Wort unserer Predigtlesung lautet: „O!“
Um „O!“ soll es also heute in dieser Predigt gehen, nein, nicht um ein kurzes „O“, das so ähnlich klingt wie „Huch!“ und das wir ausstoßen, wenn wir von etwas überrascht werden, was wir nicht erwartet hatten. Und es soll auch nicht um ein gestöhntes „Oh!“ gehen, das uns entfährt, wenn uns etwas schmerzt, wenn uns etwas nervt oder langweilt, das uns vielleicht auch zumindest in Gedanken entfährt, wenn der Pastor wieder mal zu lange predigt.
Sondern predigen will ich heute über ein Omega, über ein langes griechisches „O“, das auch im Deutschen ein langes „O!“ ist, ein „O!“, mit dem wir unser Staunen über etwas zum Ausdruck bringen. Über etwas zu staunen, ist etwas Anderes, als bloß von etwas überrascht zu sein. Wenn ich von etwas überrascht bin, dann verliere ich vielleicht im ersten Augenblick die Fassung; aber sobald ich das dann zur Kenntnis genommen habe, was mich da überrascht hat, staune ich in der Regel nicht mehr darüber, sondern kann das dann ganz gut bei mir einordnen und abhaken. Wenn beispielsweise jemand heimlich von hinten an mich herantritt und seine Hände vor meine Augen hält, dann bin ich im ersten Augenblick überrascht. Aber wenn die betreffende Person dann ihre Hände wieder von meinen Augen runternimmt und ich mich zu ihr umdrehe, gibt es für mich zumeist nicht mehr sehr viel Grund zum Staunen – es sei denn, ich habe die betreffende Person vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und nicht im Traum damit gerechnet, sie noch einmal in meinem Leben wiederzusehen. Und Staunen ist auch etwas Anderes als Stöhnen: Nein, im Staunen denke ich gerade nicht darüber nach, was das, was ich gerade erfahre, denn nun bei mir an zumeist auch noch negativen Empfindungen auslöst, sondern ich gehe im Staunen gleichsam ganz aus mir selber heraus, nehme gar nicht mehr mich selber wahr, sondern nur noch dieses Andere, worüber ich staune und was mich dann auch dazu veranlasst, ein langes, staunendes „O!“ von mir zu geben, wie es auch der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung tut.
Staunen ist der Beginn allen Philosophierens, meinte der alte Aristoteles. Wer staunt, nimmt Dinge, die er erfährt, nicht als selbstverständlich hin, sondern erkennt, dass das, womit er da konfrontiert wird, seinen bisherigen Horizont überschreitet. Das kann dann zum neugierigen Nachfragen, zum Philosophieren veranlassen, aber ebenso zur Bewunderung und zur Anbetung, wobei sich beides durchaus nicht ausschließen muss.
Wann hast du eigentlich das letzte Mal „O!“ gesagt? Wann hast du das letzte Mal so richtig gestaunt? Könnte es sein, dass wir Menschen uns heutzutage das Staunen allmählich abgewöhnt haben oder immer noch abgewöhnen? Staunen ist eigentlich in besonderer Weise ein Privileg für Kinder. Mit so viel Neuem werden sie konfrontiert, mit so viel unbekannter Wirklichkeit, dass sie häufig Anlass zum Staunen haben – wenn man ihnen diese Anlässe überhaupt noch bietet oder ermöglicht. Was passiert dagegen, wenn Kinder immer häufiger fast nur noch mit künstlich geschaffenen Wirklichkeiten per Computer oder Fernsehen konfrontiert werden, in denen eigentlich gar kein Staunen mehr vorgesehen ist? Gewöhnen wir damit nicht schon unseren Kindern mehr und mehr das Staunen ab, weil die künstlichen Realitäten, mit denen sie umgehen, ihnen Blick und Empfinden rauben für die staunenswerte Realität, die sie tagtäglich umgibt? Und staunen wir Erwachsenen deshalb heutzutage vielleicht auch so wenig, weil sich in uns die Überzeugung festgesetzt hat, letztlich ließe sich alles, was wir erfahren und erleben, erklären? Zur Not muss man mal eine Weile lang googeln, bis man die Lösung findet, aber irgendwo finden wir dann schon den Hinweis, weshalb wir eigentlich über nichts, was es auf dieser Welt, was es in unserem Leben gibt, wirklich noch staunen müssen!
Doch die Tatsache, dass wir etwas erklären können, heißt eben gerade nicht, dass wir darüber nicht mehr staunen könnten. Natürlich kann ich erklären, wie es geschieht, dass eine Frau schwanger wird und ein Kind zur Welt bringt. Aber das ändert nichts daran, dass ich darüber staunen kann, wenn ich so ein kleines neugeborenes Kind auf meinen Armen halte und feststelle, dass an diesem winzigen Kind tatsächlich schon alles dran ist und alles so funktioniert, wie es nötig ist. Was für ein Wunder, was für ein Grund, ganz lang „O!“ zu sagen! Natürlich kann ich erklären, dass Leben auf diesem Planeten Erde möglich ist, weil er haargenau den richtigen Abstand zur Sonne hat, haargenau die richtige Umlaufbahn, haargenau die richtige Neigung. Aber das ändert nichts daran, dass ich darüber staunen kann, dass es Leben auf dieser Erde gibt, dass es entsprechend auch mich überhaupt gibt, dass ich darüber staunen kann, wenn ich nachts irgendwo in einer Wüste nach oben blicke und über mir einen gigantischen Sternenhimmel sehe.
Doch was hat das alles, Schwestern und Brüder, was ich nun gerade beschrieben habe, mit Gott zu tun? Wir könnten an dieser Stelle nun einen schweren Fehler machen und Gott gleichsam überall dort zu finden versuchen, wo wir mit unseren Fragen, mit unseren Erklärungsversuchen nicht mehr weiterkommen: Seht ihr, ohne den lieben Gott lässt sich diese Welt eben doch nicht erklären. Er ist die Antwort auf all die ungelösten Fragen, die uns in unserem Leben noch bleiben. Ein schwerer Fehler wäre das, so sagte ich, Gott überall an den Stellen anzusetzen, wo unser Wissen an Grenzen stößt. Die Folge wäre nämlich, dass wir mit jeder neuen Entdeckung, mit jeder neuen Erklärung von bisher nicht erklärbaren Phänomenen den Raum für Gott immer weiter einengen würden, ihm letztlich ein ähnliches Schicksal bereiten würden wie einer bedrohten Tierart, deren Lebensraum durch das Abholzen der Wälder immer kleiner wird, bis ihr schließlich gar kein Platz mehr bleibt und sie am Ende ausstirbt. Nein, wenn uns der Apostel Paulus hier mit seinem langen „O!“ zum Staunen anleiten will, dann will er, dass wir Gott gerade in all dem und hinter all dem wahrnehmen, was wir in unserem Leben, was wir in unserer Welt erfahren, selbst wenn wir das alles scheinbar doch ganz genau erklären können, warum es so und nicht anders ist.
Ja, gewiss können und dürfen wir auch von Gott reden, wenn sich die Frage stellt, von wem denn nun alle Dinge sind, wie St. Paulus es hier formuliert. Gewiss können und dürfen wir von Gott reden, wenn es darum geht, warum wir nicht einfach Nichts sind, sondern warum es diese Welt gibt, warum es darum auch uns gibt. Aber Gott finden wir eben nicht bloß in den ersten Millisekunden der Weltentstehung, sondern mit dem sollen und dürfen wir rechnen in allem, was wir in unserem Leben erfahren, in all den scheinbaren Zufälligkeiten und Notwendigkeiten unseres alltäglichen Lebens, in all dem, was in dieser Welt geschieht. Keine Meldung im heute-journal gibt es, die nicht ganz direkt mit Gott zu tun hätte, keinen Bereich gibt es in unserem Leben, gibt es in unserer Welt, aus dem man Gott irgendwie ausklammern könnte, der seiner Gegenwart, seinem Wirkungsbereich entzogen wäre. Ja, genau zu diesem Staunen leitet uns St. Paulus hier als erstes an, zum Staunen darüber, dass nichts, aber auch gar nichts in dieser Welt einfach Zufall ist, dass wir in allen Zusammenhängen unseres Lebens und unserer Welt, und mögen sie noch so erklärbar sein, immer wieder Gottes Wirken erahnen dürfen. Kein Haar fällt dir von deiner Halbglatze ohne den Willen Gottes, keine Krankheit trifft dich ohne den Willen Gottes, auch kein scheinbarer Schicksalsschlag. Ja, mit Gottes Gegenwart darfst du da ebenso rechnen wie bei einem Spaziergang durch die wunderbare Natur, wie bei einem Sonnenuntergang in den Bergen.
Ja, zum Staunen leitet uns St. Paulus hier an – und doch würde dieses Staunen in unserem Leben wohl immer wieder sehr schnell in Erschrecken und Entsetzen umschlagen, wenn wir versuchen müssten, aus all dem, was wir in unserem Leben erfahren und erkennen, darauf zu schließen, wer denn wohl dieser Gott ist, der da geheimnisvoll seine Fäden in unserem Leben und im Geschick dieser Welt zieht. Dann könnten wir wohl sehr schnell auf die Idee kommen, dass Gott vielleicht doch nur ein furchtbarer Sadist ist, der uns Menschen immer wieder sinnlos leiden lässt. Oder wir könnten auf die Idee kommen, dass Gott sich nach seinem missglückten Versuch, unsere Erde und die Menschen zu schaffen, peinlich berührt aus dieser Welt zurückgezogen hat, wie es Philosophen vergangener Jahrhunderte tatsächlich vermutet haben. Nein, dagegen kommen dann eben auch noch so viele schöne Sonnenuntergänge in den Alpen, noch so viele schöne und beglückende Erfahrungen nicht an. Wenn wir uns einen Gott nach unseren Vorstellungen zusammenbasteln müssten, dann käme dabei am Ende doch immer wieder nur ein ziemlich primitiver Götze heraus.
Doch wenn Paulus hier nun in unserer Epistel „O!“ sagt, dann bezieht sich sein Staunen nicht bloß auf die Wunder der Natur, sondern dann bezieht sich dieses Staunen ganz wesentlich darauf, dass Gott für ihn eben nicht bloß ein unbekanntes Wesen, nicht das Ergebnis menschlicher Spekulation ist, sondern dass dieser Gott, von dem alle Dinge sind und der so geheimnisvoll alles durchwirkt, was wir erfahren, sich allen Ernstes uns zu erkennen gegeben hat, gezeigt hat, wer er wirklich ist. Und da kann man tatsächlich nur noch ganz lang „O!“ sagen. Denn, so staunt Paulus, Gott hat sich uns ganz anders zu erkennen gegeben, als wir es vermuten würden, wenn wir etwa auf das Geschick unseres Lebens, wenn wir etwa auf den Verlauf der Geschichte dieser Welt schauen. Er hat sich zu erkennen gegeben als ein Gott, der in seinem tiefsten Wesen Erbarmen und Liebe ist, als ein Gott, dem alles daran liegt, dass wir Menschen für immer in seiner Gemeinschaft leben, dass das Leben von uns Menschen endgültig heil wird. Nein, auf die Idee komme ich nicht, wenn ich mir vielleicht meinen Arztbericht oder die Meldungen in der Tagesschau oder auch die statistischen Zahlen unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche aus dem letzten Jahr anschaue. Das kann ich nur erkennen, wenn ich auf den gekreuzigten Christus schaue, wenn ich in ihm den lebendigen Gott selber erkenne, wenn ich erkenne, dass sich in ihm der Gott, von dem und durch den und zu dem alle Dinge sind, endgültig zu unseren Gunsten festgelegt hat, sich im wahrsten Sinne des Wortes für uns hat festnageln lassen. Gott ist für mich, er will mein Heil – so hat er sich uns selber gezeigt, und wenn mir das aufgeht, dann beginne ich zu ahnen, dass auch all das, was ich in meinem Leben an scheinbar völlig Widersinnigem erfahre, letztlich doch Gottes Plan dienen muss, Gottes Plan, wonach mir alle Dinge zum Besten dienen müssen, auch wenn meine Erfahrung dem ganz und gar zu widersprechen scheint.
Der Apostel Paulus macht das hier in unseren Versen am Beispiel des Geschicks des Volkes Israel deutlich: Paulus leidet darunter, dass sein Volk Israel Jesus als seinen Messias ablehnt, nicht erkennt, dass in seinem Kreuzestod auch das Heil für Israel begründet liegt. Aber er weiß doch zugleich: Diese Ablehnung ist nicht das Letzte, was das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk bestimmt. Am Ende wird eben doch ganz Israel gerettet werden – auch wenn ihm, Paulus, und uns das kaum vorstellbar erscheint, wie das eigentlich geschehen soll. Ja, selbst erbitterte Ablehnung des Evangeliums kann Teil des Heilsplans Gottes für sein Volk und auch sonst für einen Menschen sein, so zeigt es uns der Apostel hier. Kommen wir nur nicht auf die Idee, das irgendwie doch noch logisch erklären zu wollen, einsichtig machen zu wollen, warum Gott Menschen und Völker so und nicht anders führt! Nein, unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege – ganz klar. Und erst recht sollen wir nicht glauben, wir könnten mit Gott irgendwelche Kuhhändel abschließen, wir könnten ihn etwa mit unserem Wohlverhalten beeindrucken und ihn damit dazu veranlassen, so mit uns umzugehen, wie wir uns das wünschen. Nein, wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste? Und doch bleibt er nicht bloß der unerklärliche Gott, dürfen wir über Gott gerade da staunen, wo er sich uns zu erkennen gibt – hängend am Stamm eines Kreuzes!
Schwestern und Brüder: Sagen wir es ganz offen und ehrlich: Was ich nun gerade über die Selbstvorstellung Gottes in dem gekreuzigten Christus gesagt habe, das leuchtet keinem Nichtchristen ein. Der wird auch weiter darauf beharren, dass man über Gott letztlich nichts Genaues sagen kann und dass man vielleicht besser überhaupt nicht an Gott glaubt, als an einen Gott, der all das Schreckliche, was es in dieser Welt gibt, zulässt. Nein, ein Nichtchrist kommt nicht auf die Idee, in der gleichen Weise über den gekreuzigten Christus zu staunen, wie wir als Christen dies tun. Sondern wenn wir als Christen angesichts des Kreuzes Christi ganz lang und staunend „O!“ sagen, dann ist dieses „O!“ selber schon Wirkung Gottes, der uns die Augen für seine Realität geöffnet hat, der uns erkennen lässt, was wir mit all unserem sonstigen menschlichen Staunen niemals erfassen könnten. Ja, dass wir mit Paulus allen Ernstes Gott loben für seine Wege, die er mit uns und in der Geschichte dieser Welt geht, dass wir ihn loben für seine unerforschliche Größe und nicht bloß vor ihr erschaudern, das hat Gott selber in uns durch sein Wort, durch seinen Geist hervorgerufen.
Um das „O!“ am Anfang unserer Epistel ging es in dieser Predigt, Schwestern und Brüder, denn in diesem „O!“ lässt sich eigentlich auch der ganze Inhalt dieses Trinitatissonntags zusammenfassen. Denn genau darum geht es ja, wenn wir uns zu dem dreieinigen Gott bekennen und ihn anbeten. Dann bekennen wir, dass Gott die letzte verborgene Wirklichkeit dieser Welt ist, dass diese Welt ihm ihre Existenz verdankt und wir auch ganz persönlich ihm unsere Existenz verdanken. Ja, wir bekennen heute wieder neu, dass dieser Gott, von dem alle Dinge sind, sich uns in seinem Sohn Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, dass wir durch ihn erkennen können, dass er unser liebender Vater ist. Und wir bekennen heute wieder neu, dass wir eben dies nicht erkennen und nicht bekennen könnten, wenn Gott uns nicht durch seinen Heiligen Geist dafür die Augen geöffnet hätte. Ja, wir staunen über den einen Gott heute am Trinitatissonntag, über den einen Gott, der sich uns zu erkennen gibt und uns die Augen öffnet, wir staunen über den einen Gott, der sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart hat. Ja, wir staunen über diesen Gott und ahnen, wie sehr wir mit allen menschlichen Versuchen scheitern müssen, erklären zu wollen, wie dieser eine Gott doch zugleich Vater, Sohn und Heiliger Geist ist, in sich selbst ein lebendiges Gegenüber ist und doch zugleich der eine Gott bleibt. Da können wir wirklich immer wieder nur mit dem Apostel Paulus „O!“ sagen.
Und „O!“ sagt eben nun auch gleich ihr, liebe Konfirmanden, wenn ihr nachher miteinander das Taufgelübde und das Taufbekenntnis der Kirche sprecht. Nein, dann sagt ihr nicht: Das haben wir jetzt alles kapiert, das ist uns alles klar! Sondern ihr zeigt, dass ihr noch staunen könnt, staunen über diesen Gott, der so unbegreiflich ist und der doch auch euch zum Glauben an ihn, den dreieinigen Gott, geführt hat. Nein, erklären kann man das wirklich nicht, dass ihr heute Morgen allen Ernstes hier vor diesem Altar steht. Und doch ist es so. Und darum sage auch ich jetzt nur noch: „O!“ Amen.