07.12.2011 | Hebräer 6,9-12 | Mittwoch nach dem 2. Sonntag im Advent

„Ich habe keine Zeit!“ – Schwestern und Brüder, wir kennen dieses Argument nur allzu gut. „Ich habe keine Zeit“, sagt der Jugendliche bald nach seiner Konfirmation, „ich muss so viel für die Schule tun, da bleibt für Kirche und Gottesdienst leider einfach keine Zeit mehr übrig. Später, ja, später werde ich mich darum wieder kümmern!“ „Ich habe keine Zeit“, sagt der junge Erwachsene, „ich muss so viel für meine Ausbildung, für mein Studium tun, da bleibt für Kirche und Gottesdienst leider einfach keine Zeit mehr übrig. Später, ja später werde ich mich darum wieder kümmern!“ „Ich habe keine Zeit“, sagt er einige Zeit später, „jetzt bin ich zwar mit der Ausbildung fertig, aber jetzt habe ich eine Familie, um die ich mich kümmern muss, da bleibt für Kirche und Gottesdienst leider einfach keine Zeit mehr übrig. Später, ja später werde ich mich darum wieder kümmern!“ „Ich habe keine Zeit“, stellt er zehn Jahre später fest, „mein Beruf fordert mich so sehr, dass ich die verbliebene freie Zeit dringendst zur Erholung brauche, da bleibt für Kirche und Gottesdienst leider einfach keine Zeit mehr übrig. Später, ja später werde ich mich darum wieder kümmern!“ „Ich habe keine Zeit“, erklärt er, als er endlich das Rentenalter erreicht hat. „Jetzt muss ich so viel machen, wozu ich früher nicht gekommen bin, und um die Enkelkinder muss ich mich auch noch kümmern, da bleibt für Kirche und Gottesdienst leider einfach keine Zeit mehr übrig. Später, ja später werde ich mich darum wieder kümmern!“ „Ach, meine Kräfte lassen so sehr nach; ich schaffe es einfach nicht, zur Kirche und zum Gottesdienst zu kommen“, so stellt er einige Zeit später fest. „Und wenn ich schon mein ganzes Leben eigentlich ganz gut ohne die Kirche ausgekommen bin, schaffe ich das sicher auch weiter noch.“

Brüder und Schwestern, was ich eben beschrieben habe, ist leider nicht bloß eine reichlich überzogene Karikatur, sondern das ist die Realität, wie sie mir in Gesprächen mit Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde immer wieder begegnet. Nie ist scheinbar der richtige Zeitpunkt, Zeit zu haben für Gott, immer wieder ist anderes scheinbar erst einmal viel dringender und wichtiger. Doch irgendwann einmal ist es dann zu spät, ist der Zug abgefahren, bleibt keine Zeit mehr zur Umkehr, bleibt das Wichtigste im Leben endgültig verpasst.

Genau davor warnt auch der Verfasser des Hebräerbriefes seine Leser ganz eindringlich: Ja, die Gefahr besteht, sein Leben endgültig zu verfehlen, die Gefahr besteht, dass es irgendwann im Leben einmal zu spät sein kann, noch den Weg zu Christus zurück zu finden. Die Gefahr besteht, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns zur Umkehr noch bleibt, weil keiner seine Zukunft so planen kann, dass er weiß, dass er irgendwann später noch einmal genug Zeit hat, sich wieder mit Christus und dem Glauben an ihn zu beschäftigen.

Eindringlich warnt der Hebräerbrief davor, so eindringlich, dass die ersten Leser seines Briefes genauso wie wir heute erschrecken mögen, uns fragen mögen: Stehen wir etwa auch in dieser Gefahr, müssen wir auch in der beständigen Angst leben, dass wir am Ende unseres Lebens doch verloren gehen, dass wir nicht ins ewige Leben gerettet werden? Und genau darauf antwortet der Verfasser des Hebräerbriefes nun zu Beginn unserer heutigen Predigtlesung: „Obwohl wir aber so reden, ihr Lieben, sind wir doch überzeugt, dass es besser mit euch steht und ihr gerettet werdet.“ Es darf in unserem Leben als Christen nicht darum gehen, dass wir ständig in der Sorge leben, wir könnten mit irgendeinem unbedachten Wort oder Gedanken, mit irgendeiner Verfehlung am Ende unseres Lebens vielleicht doch noch unser Heil verspielen.

Der Verfasser des Hebräerbriefs führt hierfür eine Begründung an, die man leicht missverstehen kann. Er schreibt: „Denn Gott ist nicht ungerecht, dass er vergäße euer Werk und die Liebe, die ihr seinem Namen erwiesen habt, indem ihr den Heiligen dientet und noch dient.“ Das könnte man so missverstehen, als könnten wir uns hier und jetzt in unserem Leben gleichsam ein gewisses Polster an guten Werken anlegen, von dem wir dann zehren könnten, wenn wir in unserem Leben einmal auf Abwege kommen sollten. Dann bliebe immer noch genügend Positives übrig, dass am Ende unser Leben doch noch im Plus endet. O nein, dem Verfasser des Hebräerbriefes geht es hier um etwas ganz Anderes: Er sagt: Wenn ihr euren Weg mit Christus geht, ihn über längere Zeit gegangen seid und geht, dann bleibt das nicht ohne Folgen. Dann prägt euch das, dann wird euch das auch in Zukunft helfen, bei ihm zu bleiben, dann wird euch das auch in Zukunft helfen, euch nicht aus der Gemeinschaft mit ihm auszuklinken. In diesem Sinne ist tatsächlich jede Teilnahme am Gottesdienst, jeder Empfang des Heiligen Abendmahls eine Vorsorgemaßnahme für die Zukunft; ja, das vergisst natürlich auch Gott selber nicht, dass euch Christus und der Glaube an ihn so wichtig im Leben geworden ist. Und dieses Leben in der Gemeinschaft mit Christus wirkt sich natürlich aus: Es wirkt sich aus in der Liebe, ja, ganz konkret im Dienst an den Heiligen, wie der Hebräerbrief es hier formuliert. Gemeint ist damit die Gastfreundschaft, die Christen anderen Christen erweisen, die zu ihnen zu Besuch kommen, gemeint ist, dass Christen in anderen Christen ihre Brüder und Schwestern erkennen und sie so bei sich aufnehmen, ihnen so dienen, wie sie es brauchen. Ja, das Leben in der Gemeinschaft mit Christus bleibt auch bei uns nicht ohne Folgen, wirkt sich auch bei uns im Dienst an den Heiligen aus, in der liebevollen Zuwendung zu Brüdern und Schwestern innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinde.

Ja, wir sind überzeugt, dass es besser mit euch steht und ihr gerettet werdet – genau das kann und darf ich euch heute Abend hier im Gottesdienst auch zusprechen, ganz zuversichtlich. Und doch entbindet uns das nicht von unserer Aufgabe, in der Gemeinde aufeinander Acht zu haben, einander zu helfen, dass wir miteinander die Hoffnung festhalten bis ans Ende, wie es der Hebräerbrief hier formuliert, oder, negativ formuliert: einander zu helfen, dass wir nicht träge werden. Die Gemeinde ist eben nicht bloß ein religiöser Supermarkt, in dem ich mich persönlich mal bediene, wenn ich da was brauche, sondern sie ist tatsächlich so etwas wie ein Netz, das mich hält, auch und gerade, wenn ich mal einen Durchhänger habe. Nicht egal sein soll es uns von daher, wenn Schwestern und Brüder in der Gemeinde mit einem Mal oder auch allmählich von der Bildfläche verschwinden, sollen ihnen im Gegenteil nachgehen, ihnen wieder neu Mut machen, dranzubleiben, mit Freude dranzubleiben an Christus, an seinem Wort, an seinem Heiligen Mahl. Und zu der Gemeinde gehören eben nicht bloß diejenigen, die wir jetzt um uns herum sehen. Zu der Gemeinde gehören eben auch all diejenigen dazu, die uns im Glauben schon vorangegangen sind, die jetzt schon am Ziel angekommen sind. Die können uns auch als Mutmacher dienen, uns nicht aus der Gemeinschaft mit Christus auszuklinken, Geduld zu beweisen im Glauben an Christus, auch wenn es im Leben einmal ganz anders laufen mag, als wir uns das gewünscht und vorgestellt haben. Ja, auch von daher lohnt es sich, teilzuhaben am Leben der Gemeinde, weil man dort solche Leute miterleben kann, die von ihrem Glauben an Christus geprägt sind und die diesen Glauben auch durch ganz schwere Zeiten in ihrem Leben durchgetragen haben. Wir haben es da zumeist so viel einfacher; und eben darum können und dürfen wir uns an diesen Brüdern und Schwestern ein Beispiel nehmen, dürfen ihre Nachfolger werden, wie es der Hebräerbrief hier formuliert. Ja, wie gut, dass wir mit unserem Glauben an Christus nicht die ersten sind, dass wir nicht daran zu zweifeln brauchen, ob der Glaube an Christus wirklich durchträgt bis ans Ende. Ja, das tut er, ja, es lohnt sich, so bezeugen es uns die, die bereits vor uns geglaubt haben.

Ja, es steht wirklich gut mit uns: Wir sind hier, wo Christus ist, wo er uns mit den Gaben seines Heils beschenkt. Wir sind hier, wo die Brüder und Schwestern sind, in deren Gemeinschaft wir aufgehoben und getragen sind. Wir sind hier, wo auch all diejenigen den Gottesdienst mitfeiern, die jetzt schon sehr viel besser erkennen, wie wichtig es ist, an Christus dranzubleiben, als wir dies vermögen. All das kann uns helfen, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende, all das kann uns helfen, dass wir unser Leben nicht verfehlen, sondern dort ankommen, wohin Christus uns doch schon in unserer Taufe gerufen hat: dort, wo wir nie mehr auf die Idee kommen werden, ohne Christus leben zu wollen, dort, wo wir für immer ganz ohne Zeit leben werden. Amen.