27.11.2011 | Offenbarung 5,1-14 | 1. Sonntag im Advent

„Alles wird gut!“ – Mit diesen Worten pflegte die Moderatorin Nina Ruge ihre Sendung „Leute heute“, in denen sie den neusten Tratsch aus der Promi-Szene verbreitet hatte, jeweils zu beschließen. „Alles wird gut!“ – Was für eine wunderbare Botschaft! Die kam so gut an, dass Nina Ruge daraufhin gleich neun verschiedene Bücher mit diesem Titel auf den Markt brachte: „Alles wird gut: Beflügelnde Worte“, „Alles wird gut! 52 Streicheleinheiten für die Seele“, „Alles wird gut im Herzen“, „Alles wird gut in der Liebe“, „Alles wird gut im Job“ – und schließlich als Krönung: „Alles wird besser: Dreimal ‚Alles wird gut’ in einem Band“. Nein, ich glaube Nina Ruge nicht mit ihrer so netten und doch so flachen Botschaft, ich glaube auch Bushido nicht, der genau dasselbe rappt, was Nina Ruge säuselt: „Alles wird gut!“ Ich habe tagtäglich mit Menschen zu tun, bei denen in ihrem Leben nicht einfach alles gut wird, mit Menschen, deren Hoffnungen sich nicht erfüllen, dass sie vom Krebs geheilt werden, deren Hoffnungen sich nicht erfüllen, dass sich ihre Ehe doch noch retten lässt, deren Hoffnungen sich nicht erfüllen, dass ihre Kinder den Weg gehen, den sie für sie erhofft hätten. Und wenn wir in die Welt hinausblicken, dann haben wir erst recht nicht unbedingt den Eindruck, dass alles gut wird, nicht in Syrien, nicht im Iran, nicht in Somalia, wo eigentlich überhaupt? „Alles wird gut!“ – Man frage mal bei ein paar Griechen nach, ob die das auch so sehen!

Nein, es wird nicht alles einfach gut; Probleme lassen sich nicht einfach mit ein bisschen positivem Denken in den Griff bekommen. Im Gegenteil: Diejenigen scheinen die Dinge doch viel realistischer zu sehen, die in Bezug auf die Probleme dieser Welt behaupten, das könne alles gar nicht mehr gut gehen, die Schieflage, in der sich unsere Welt befindet, die ließe sich gar nicht mehr korrigieren.

Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung dieses Ersten Sonntags im Advent. Wie ein Buch mit sieben Siegeln mögen uns die Worte vorkommen, die wir da eben vernommen haben – fremd, unverständlich, rätselhaft. Von einem Buch mit sieben Siegeln ist da tatsächlich die Rede; die sprichwörtliche Redewendung hat hier in der Heiligen Schrift ihren Ursprung. Doch in Wirklichkeit ist mit diesem Buch mit den sieben Siegeln genau das angesprochen und gemeint, was ich gerade beschrieben habe: Dieses Buch ist eigentlich eine Rolle, eine Schriftrolle, ja, nicht weniger als eine Vollmacht, die Weltgeschichte doch noch zu einem guten Ende zu führen, allem Irrsinn und Widersinn dieses Weltgeschehens doch noch einen Sinn zu verleihen und damit auch unserem eigenen Leben noch einmal eine ganz neue Perspektive zu geben. Dieses Buch hält Gott selber in der Hand, so darf es der Seher Johannes hier schauen, darf schon einmal gleichsam einen Blick durch den Vorhang werfen in Gottes Welt, darf die verborgene Realität schauen, die für unser Leben von entscheidender Bedeutung ist und von der wir doch von uns aus erst einmal gar keine Ahnung haben. Und nun beschreibt Johannes hier in unserer Predigtlesung so etwas wie eine öffentliche Ausschreibung: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Wer sieht sich dazu in der Lage, mit dieser Vollmacht dafür zu sorgen, dass das Ende der Geschichte schließlich doch noch gut wird, dass nicht doch schon alles zu spät ist? Größeres kann man gar nicht erhoffen; Größeres kann man sich gar nicht wünschen als eben dies, dass mit dem Ende schließlich doch noch alles gut wird!

Wer ist würdig? Wer ist dazu in der Lage? – So ruft der Engel mit lauter Stimme. Doch seine öffentliche Ausschreibung, sie bleibt ohne jede Resonanz. Niemand auf der Welt ist dazu in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen, diese Welt doch noch zu retten und zu einem guten Ende zu führen: Nina Ruge schafft es nicht, Bushido auch nicht, Barack Obama auch nicht. Angela Merkel schafft es auch nicht, ja, noch nicht einmal Vladimir Putin. All die Menschen, auf die Menschen geradezu messianische Hoffnungen richten, und erst recht alle selbsternannten Erlöser – sie müssen verstummen, wenn es wirklich ernst wird, wenn es tatsächlich darum geht, sich als Herr über die Geschichte zu erweisen. Nein, da bleibt keiner übrig, der noch rufen könnte: Alles wird gut! Und angesichts dessen bleibt auch uns, so macht es uns der Seher Johannes hier deutlich, nur dreierlei:
- zu weinen
- zu staunen
- zu jubeln

I.
Als Johannes mitbekommt, dass es niemanden, wirklich niemanden auf dieser Welt gibt, der die Geschicke dieser Welt doch noch zu einem guten Ende zu lenken vermag, da weint er sehr, so beschreibt er es hier. Nein, das lässt ihn nicht kalt, das nimmt ihn mit, erkennen zu müssen, dass wir es nicht schaffen, diese Welt doch noch zu retten.

Johannes weint, Johannes trauert – und genau das steht auch uns als Christen immer wieder gut an. Die Botschaft des christlichen Glaubens ist eine andere als die von Nina Ruge; sie besteht nicht darin, dass wir vor dem Leid und dem Elend dieser Welt unsere Augen verschließen und uns stattdessen aufs positive Denken verlegen. An Gott zu glauben bedeutet gerade nicht zu sagen: Es ist alles nicht so schlimm; Kopf hoch, wird schon wieder. Sondern an Gott zu glauben bedeutet für uns Christen gerade auch, immer wieder unter seiner Abwesenheit zu leiden, darunter zu leiden, dass von ihm, von seinem Eingreifen in diese Welt scheinbar so wenig zu sehen ist. An Gott zu glauben bedeutet, immer wieder nach ihm zu rufen, ja auch ihm gegenüber unsere Klagen auszusprechen: Warum lässt du das alles in meinem Leben geschehen? Warum lässt du meinen Lebensweg so ganz anders verlaufen, als ich dies mir gewünscht und erhofft hatte? Ja, wo bist du überhaupt, Gott? „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?“ – Genau so singen wir es jetzt wieder in der Adventszeit.

Ja, gerade darum geht es in der Adventszeit, dass wir diese Erfahrungen der scheinbaren Abwesenheit Gottes, dass wir diese Erfahrungen des scheinbar vergeblichen Wartens auf seine Hilfe, auf sein Eingreifen nicht verdrängen, sie nicht dadurch beiseite schieben, dass wir schon die ganze Adventszeit über Weihnachten feiern, so tun, als müssten wir als Christen eigentlich immer fröhlich und vergnügt sein. Nein, wir sollen und dürfen mit Johannes weinen – weinen darüber, dass wir in unserem eigenen Leben nicht erkennen können, dass einfach alles gut wird, weinen mit anderen, bei denen nicht alles gut in ihrem Leben ist und wird, weinen über die Nöte dieser Welt, die uns tagtäglich vor Augen geführt werden. Schwestern und Brüder: Ich kann es auch nicht erkennen, was für einen Sinn das haben soll, was die hungernden Menschen an der Grenze zu Somalia jetzt durchmachen müssen, was für einen Sinn das haben soll, was trauernde Menschen durchmachen müssen, die geliebte Menschen durch einen Terroranschlag verloren haben, was für einen Sinn Erdbeben und Tsunamis haben sollen. Da steht man nur völlig hilflos da, bekommt man sicher seinen Finger nicht hoch, wenn derjenige aufgerufen wird, der all dieses Leid der Welt doch noch zu einem guten Ende bringt.

II.
Doch damit ist die Geschichte, die uns St. Johannes hier erzählt, nun eben nicht zu Ende. Sondern während er noch weint, wird er mit einem Mal wunderbar getröstet: Da kommt einer zu ihm und sagt zu ihm: Weine nicht. Es gibt ihn doch, diesen einen, der alles neu zu machen vermag. „Der Löwe aus dem Stamm Judas“, so nennt er ihn. Löwe – das klingt gut, das klingt nach einem, der Kraft hat, der dazu in der Lage ist, alle zu zermalmen, die sich ihm in den Weg stellen, das klingt nach Rambo, ja nach dem Terminator.

Doch dann bekommt Johannes diesen Löwen zu sehen – und dieser Löwe sieht nun ganz anders aus, als Löwen normalerweise aussehen: Dieser Löwe ist, auch wenn sich dies zoologisch nur schwer nachvollziehen lässt, ein Lamm, ein Lamm mit einer tödlichen Schächtwunde am Hals: ein Lamm, Sinnbild der Schwachheit, Sinnbild eines Opfers. Aber nun geht es Johannes hier auch nicht um Zoologie, sondern es geht ihm um Theologie. Ganz Entscheidendes darf er hier wahrnehmen und erkennen, ganz Entscheidendes auch für uns:
Der, der nun das Buch mit den sieben Siegeln in seine Hand nimmt, die Vollmacht, die Geschicke dieser Welt zu einem guten Ende zu führen, ist eben gerade keiner, der über Leichen geht, der seine Macht und sein Recht auf Kosten anderer durchsetzt. Sein Weg, diese Welt zu retten, vollzieht sich nicht so, dass er alle totschlägt, die nicht auf seiner Seite stehen. Sondern er rettet die Welt, so absurd dies auch klingen mag, eben dadurch, dass er sich für die Welt opfern lässt, dass er für die Welt in den Tod geht. So überwindet er die Macht des Bösen, dass er dieses Böse sich an ihm austoben lässt, so überwindet er das Leid, dass er es selber in letzter Tiefe erfährt – und sich doch am Ende als Sieger über Tod und Teufel erweist, indem er am dritten Tag aus dem Tod aufersteht. Und genau so macht er sich nun auch daran, die Geschicke dieser Welt zu einem guten Ende zu führen: Er spielt nicht den Schwarzenegger, sondern er tritt scheinbar völlig ohnmächtig auf, gebraucht keine anderen Machtmittel als sein Wort, als seine Sakramente, in denen er sich uns als das Lamm Gottes zu erkennen gibt. So fängt er an, über die Herzen von Menschen zu herrschen, so macht er sie sich zueigen. Nein, Christus säuselt uns nichts davon vor, dass alles einfach gut wird. Sondern er lässt uns auf sich blicken, auf ihn, den Gekreuzigten, lässt uns erkennen, was er für uns getan hat, damit unser Leben nicht in einem verzweifelten Ruf nach dem verborgenen Gott endet, damit unser Leben nicht in der ewigen Gottesferne endet, sondern damit wir teilhaben dürfen an der großen Wende, die er, Christus, nicht allein in unserem eigenen Leben, sondern tatsächlich mit der ganzen Welt vollziehen wird. Christus bringt die Geschicke dieser Welt doch zu einem guten Ziel, ist auch heute Morgen hier in diesem Gottesdienst am Werk, will in diesem Sinne tatsächlich auch bei dir alles gut machen, wenn er dich gleich wieder teilhaben lässt an seinem Opfer, an seinem Leib und seinem Blut. „Weine nicht!“ – So ruft es dir Christus selber jetzt gleich wieder hier an seinem Altar zu. Du magst mich jetzt nur als Lamm wahrnehmen; aber ich bin es in Wirklichkeit doch: der Löwe, der König, der, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Ja, da können wir wirklich nur staunen.

III.
Das klingt zu schön, um wahr zu sein, magst du einwenden. Das klingt nach einem schönen Wunschtraum, nach mehr nicht?

Johannes darf hier noch etwas wahrnehmen: Er darf hören und sehen, wie der endgültige Sieg unseres Herrn Jesus Christus jetzt schon gefeiert wird, wie die Siegesfeierlichkeiten im Himmel schon längst begonnen haben. Nein, diese Siegesfeier ist nicht voreilig; sie wird nicht irgendwann einmal abrupt enden und wieder von großer Ernüchterung abgelöst werden. Sondern für die, die da vor dem Thron Gottes feiern, für die ist jetzt schon Gegenwart, was für uns noch Zukunft ist, ja was uns wie eine Utopie erscheinen mag: Alle Mächte des Verderbens, alles Leid, ja der Tod selber werden einmal ihr Ende finden in der großen, entscheidenden Wende am Ende der Zeiten, in der es Christus tatsächlich gelingen wird, alles doch noch gut werden zu lassen.

Im Himmel wird schon gefeiert – und wir, wir dürfen es wagen, bei dieser Feier jetzt schon mitzumachen. Um nicht weniger geht es auch heute wieder in diesem Gottesdienst. Dieser Gottesdienst ist nicht bloß eine Motivationsveranstaltung, damit ihr nachher rausgeht und selber versucht, diese Welt zu retten. Das könnte nur in großer Frustration enden. Sondern in jedem Gottesdienst dürfen wir all das Leid, all das Traurige und Unverständliche in dieser Welt und in unserem Leben schon einmal vom Ziel her wahrnehmen, dürfen jetzt schon mit all denen feiern und singen und jubeln, die bereits an diesem Ziel angekommen sind. Die Liturgie – sie ist nicht bloß eine feierliche Umrahmung der Predigt und der Abkündigungen, sondern in ihr haben wir hier und jetzt schon teil am Himmel, feiern wir mit allen Engeln und allen Heiligen vor dem Thron Gottes, dass Christus der Herr der Geschichte ist und bleibt, so wenig wir davon auch jetzt in unserem Alltag zu sehen vermögen.

Noch müssen wir am Ende des Gottesdienstes wieder hinaus in den Alltag, noch müssen wir es immer wieder erfahren, dass im Augenblick noch nicht alles gut ist und wird. Doch wer am Sonntag die Liturgie mitgesungen hat, der sieht dann auch den Alltag mit anderen Augen, der kann auch mit dem Leid, das er erfährt, noch einmal anders umgehen. Denn das eine dürfen wir jetzt schon wissen: Das Ende wird gut, weil am Ende Christus stehen wird. Und das wissen wir ja auch: Ende gut – alles gut. Amen.