26.06.2011 | St. Johannes 5,39-47 | 1. Sonntag nach Trinitatis

Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ – So hat Dietrich Bonhoeffer vor knapp 70 Jahren in seiner Gefängniszelle in Tegel geschrieben. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ – Diese Aussage mag uns zunächst einmal zu hoch, zu philosophisch, irgendwie jedenfalls widersprüchlich erscheinen; doch in Wirklichkeit ist sie hochaktuell, spricht sehr direkt hinein in das religiöse Klima unserer heutigen Zeit.

Schwestern und Brüder, die bloße Frage, ob es Gott gibt, ist für uns und unser Leben etwa von derselben Bedeutung wie die Frage, ob in China irgendwo ein Sack Reis umfällt. Wenn man über Gott nicht mehr sagen könnte als eben dies, dass es ihn gibt, dass er möglicherweise oder wahrscheinlich oder einigermaßen sicher existiert, dann bräuchte uns ein solcher Gott nicht zu kratzen, dann wäre ein solcher Gott, den es einfach nur gibt, letztlich kein Gott. Doch genau so gehen ja viele Menschen mit dem Thema „Gott“ auch heutzutage um: „Irgendwie muss es ja doch wohl so etwas Höheres geben“, so sagen sie, oder eben auch mit etwas größerer Gewissheit: „Ja, ich glaube ganz fest, dass es Gott gibt.“ Doch die Frage ist, was diese Aussage dann eigentlich für sie und ihr Leben bedeutet. Und da geht es dann eben immer wieder los, dass dieser Gott, den es angeblich gibt, zu einer Art von Projektionsfläche unserer Wünsche und Vorstellungen wird: „Der Gott, an den ich glaube, ist derselbe Gott, an den auch die Menschen in anderen Religionen glauben“, sagen dann die einen. Und die anderen ergänzen: „Der Gott, an den ich glaube, den finde ich in der Natur oder in mir selber.“ Und wieder andere wissen genau, wie sich dieser Gott einmal künftig verhalten wird: „Gott hat doch mit Sicherheit für alles Verständnis; nein, der Gott, an den ich glaube, der wird mit Sicherheit niemand verurteilen!“ Schöne, nette Gedanken sind das, die Menschen sich über einen Gott machen, den es eben einfach so gibt, der im Wesentlichen nichts Besseres zu tun hat, als auf diese Welt herunterzublicken oder sich möglicherweise auch hier und da als Schutzengel zu betätigen.

Doch solch einen harmlosen Gott im Jenseits, der sich in seiner Existenz nach unseren Vorstellungen richtet, der sich einfach damit begnügt, dass er nun mal da ist und dass es ihn gibt, solch einen harmlosen Gott gibt es eben in Wirklichkeit nicht. Wer so über Gott denkt, der hat sich letztlich noch überhaupt nicht klargemacht, was „Gott“ eigentlich heißt, dass Gott eben nicht bloß eine etwas fortgeschrittene Entwicklungsstufe von uns Menschen ist, sondern dass er als Gott die schlechthin entscheidende Realität dieser Welt und unseres Lebens überhaupt ist, dass wir mit ihm und damit auch auf seinen Anspruch an uns, an unser Leben pausenlos konfrontiert werden, ganz gleich, ob wir nun die Augen davor verschließen mögen oder nicht.

Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung dieses heutigen Sonntags. Da geht es nämlich letztlich genau um dieses eine Thema, dass Gott wirklich Gott ist und nicht weniger – und das heißt ganz konkret: Dass er, wenn er denn Gott ist, auch die Verbindung zu uns Menschen sucht. Die Frage ist nur: Wie können wir Gott und seinen Willen erkennen, auf welche Weise nimmt Gott die Verbindung zu uns Menschen auf?

Da schildert uns der Evangelist St. Johannes hier in unserer Predigtlesung ein Streitgespräch zwischen dem Juden Jesus und anderen Mitgliedern seines Volkes. Und das ist schon ein erster ganz wichtiger Hinweis, den wir beachten müssen, wenn wir die Frage beantworten wollen, wie wir Gott und seinen Willen erkennen können: Gott gibt sich uns nicht so zu erkennen, dass seine Weise der Verbindungsaufnahme sofort allen Menschen einleuchtet. Im Gegenteil: Wir Menschen haben unsere eigenen selbstgebastelten Gottesbilder so fest in unserem Kopf drin, dass wir ihn, den wahren, lebendigen Gott nur allzu leicht übersehen oder überhören, dass uns seine Weise der Kontaktaufnahme überhaupt nicht einleuchtet und wir sie für Quatsch halten. Ja, wir Menschen haben unsere eigenen selbstgebastelten Gottesbilder so fest in unserem Kopf drin, dass wir nicht dazu bereit sind, sie uns von anderen in Frage stellen zu lassen. Und so löst die Verbindungsaufnahme Gottes zu uns Menschen bei uns Menschen eben nicht unbedingt Begeisterung aus, sondern Abwehr und Kritik, sorgt immer wieder neu für Streit, der sich nicht dadurch lösen lässt, dass jeder auf dem beharrt, was er selber denkt und empfindet.

Wie können wir Gott und seinen Willen erkennen? Jesus verweist hier in diesem Streitgespräch auf die Heilige Schrift, auf die Bibel – und das hieß zu seiner Zeit natürlich: auf das Alte Testament, das damals noch nicht Altes Testament hieß, weil es ja noch kein Neues gab. Jesus sagt: Wenn ihr wissen wollt, wer Gott ist, wie er zu euch steht, wie er mit euch Verbindung aufnimmt, ja wie ihr für immer mit ihm zusammen sein könnt, dann lest in der Heiligen Schrift. Denn er, der wahre, lebendige Gott, der ist kein stummer Gott, sondern der hat geredet, nicht irgendwo im fernen Weltall, sondern hier auf Erden, der hat Boten bevollmächtigt und losgeschickt, die in seinem Namen geredet haben, Menschen dafür die Augen geöffnet haben, wo und wie Gott in der Geschichte dieser Welt am Werk war und ist. Die Heilige Schrift, sie ist nicht eine Sammlung von menschlichen Vorstellungen über Gott, sondern in ihr stellt Gott sich selber vor, gibt uns Maßstäbe an die Hand, an denen wir unsere eigenen Vorstellungen von Gott messen und immer wieder auch korrigieren können. Eines macht der Blick in die Heilige Schrift jedenfalls sehr schnell deutlich: Der Gott, an den wir glauben, den gibt es nicht einfach bloß, sondern der ist hinter uns Menschen her, der will, dass wir Menschen ihn erkennen und in seiner Gemeinschaft leben.

Doch selbst die Heilige Schrift kann man noch völlig missverstehen und falsch gebrauchen, so fährt Jesus hier fort: Ich verstehe die Heilige Schrift falsch, wenn ich sie nur als eine Art von Munitionsdepot für Poesiealben ansehe, als eine Sammlung von schönen Allerweltswahrheiten, die bestätigen, was ich immer schon gedacht habe. Ich verstehe die Heilige Schrift falsch, wenn ich sie als eine Anleitung zum anständigen Leben ansehe, als eine Sammlung von Vorschriften, die wir einhalten sollen, damit der liebe Gott mit uns auch ganz zufrieden ist. Ich verstehe die Heilige Schrift falsch, wenn ich sie als eine Art von Orakelbuch ansehe, als eine Art von frommem Horoskop, das mir jeden Tag voraussagt, was mich wohl an diesem Tag in meinem Leben erwartet. Und ich verstehe die Heilige Schrift eben auch völlig falsch, wenn ich sie nur als eine Sammlung interessanter antiker historischer Dokumente ansehe, über die ich mir als moderner, aufgeklärter Mensch mein eigenes Urteil bilde. Sondern wir verstehen die Heilige Schrift nur dann richtig, so macht es uns Jesus hier deutlich, wenn wir in ihr ihn, Jesus, den Christus, den Sohn Gottes, suchen und finden, wenn wir uns von der Heiligen Schrift auf ihn weisen lassen und erkennen, dass und wie wir durch ihn das ewige Leben geschenkt bekommen. Er, Jesus Christus, ist der Schlüssel zur Heiligen Schrift und damit auch der Schlüssel, um Gott und seinen Willen erkennen zu können. Denn in ihm, Jesus Christus, können wir erkennen, dass es Gott eben nicht einfach bloß gibt, sondern dass Gott die Verbindung zu uns sucht, ja, dass er diese Verbindung durch ihn, Christus, mit uns schon hergestellt hat.

Wenn wir nur allgemein von Gott reden, wenn wir nur allgemein davon reden, dass es Gott gibt oder dass wir an Gott glauben, dann sind wir, so zeigt es uns Jesus hier, noch auf dem völlig falschen Dampfer. Sondern erst dann fangen wir an, Gott selber zu erkennen, wenn wir Christus erkennen, wenn wir erkennen, dass Gott in Jesus Christus zu uns Menschen gekommen ist, um uns an seinem Leben, an seiner Liebe Anteil zu geben. Alles andere Reden von Gott und über Gott führt letztlich an ihm, dem lebendigen Gott, an dem Gott, den es eben nicht bloß gibt, vorbei.

Das ist natürlich eine Behauptung, die Widerspruch hervorruft, ganz klar, erst recht in unserer heutigen sogenannten postmodernen Zeit, in der so gerne behauptet wird, dass jeder Mensch eben seine persönliche Wahrheit hat und es die eine Wahrheit, die rechte Erkenntnis Gottes gar nicht gebe. Das ist eine Behauptung, die Widerspruch hervorruft bei all denen, die meinen, die Person Christi bei einer Verständigung zwischen den Religionen einfach ausblenden und sich auf einen allgemeinen Gottesglauben beschränken und verständigen zu können.

Doch Jesus macht deutlich: Weil Gott eben nicht bloß ein Gott ist, den es gibt, sondern weil er der lebendige Gott ist, darum ist er ein Gott, der sich dadurch festlegt, dass er Mensch wird, dass man ihm in der konkreten Gestalt eines Menschen begegnen kann. Und gegenüber diesem lebendigen Gott, den es eben nicht bloß gibt, können wir Menschen uns nun nicht neutral verhalten, so zeigt es Jesus hier: Entweder kommen wir zu ihm, so formuliert er selber es hier, und finden in ihm das Leben, das stärker ist als der Tod und uns für immer an Gott selber Anteil gibt, oder wir nehmen ihn nicht an und verschließen uns damit Gottes entscheidendem Liebesangebot.

Eines sieht Jesus hier allerdings auch ganz nüchtern und realistisch: Neutral bleiben wir Menschen auch und gerade dann nicht, wenn wir uns seinem Anspruch und seiner Einladung verweigern. Dann binden wir uns stattdessen an andere Menschen und Mächte, folgen anderen Propheten, die behaupten, von Gott gesandt zu sein, orientieren uns an Moden und Meinungsumfragen, an dem, was andere uns zu denken vorgeben und alle anderen doch auch sagen und tun. Mit den Worten Jesu formuliert: „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.“ Wer auch immer an Christus vorbei behauptet, im Namen Gottes reden zu können, dessen Behauptung ist in Wirklichkeit nicht gedeckt, der bindet Menschen letztlich nur an sich und seine Person statt an den lebendigen Gott. Jesus selber dagegen hat dadurch gezeigt, dass sein Anspruch gedeckt ist, dass er schließlich für uns sein Leben in den Tod gegeben hat, dass er auf jeden eigenen Vorteil verzichtet hat, alles aufgegeben hat, nur damit uns unsere Schuld nicht von der Gemeinschaft mit Gott trennen kann. Kein anderer ist für uns gestorben – kein Buddha, kein Mohammed, kein Baha’ullah und auch kein Lenin. Nur in Christus wird erkennbar, wer Gott in seinem tiefsten Wesen ist: Liebe, die nichts anderes will, als uns in ihre Gemeinschaft aufzunehmen.

Doch mit der Hingabe am Kreuz endet der Weg Jesu eben nicht; der, dessen Worte wir hier vernehmen, ist auferstanden, und so spricht er selber als der lebendige Herr hier und jetzt in dieser Stunde auch zu uns, lädt uns ein, öffnet uns die Augen, arbeitet an uns durch sein Wort, damit unsere eigenen Gottesvorstellungen nicht länger unsere Erkenntnis des lebendigen Gottes verdecken, den Blick auf das wahre Gottesbild: das Bildnis des gekreuzigten Christus. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet“, so sagte es Jesus damals zu seinen Gesprächspartnern. „Kommt zu mir, damit ihr das Leben habt!“ – So ruft Jesus es uns heute zu: Verschließt euch nicht der Bestimmung eures Lebens, erkennt doch, dass nur ich euch das wahre Leben geben kann!

Und diese Worte werden nicht ohne Wirkung bleiben, auch bei euch. In ihnen umfängt euch Gott mit seiner Liebe, lässt seine Liebe in euch wohnen, ja, nun auch gleich wieder ganz konkret, wenn Christus mit seinem Leib und Blut zu euch kommt und in euch Wohnung nimmt, wenn er euch auch leibhaftig erfahren lässt, dass es einen Gott, den es nur gibt, in Wirklichkeit gar nicht gibt, dass der lebendige Gott vielmehr die letzte und entscheidende Realität eures Lebens ist: Er lebt in euch und ihr in ihm – in der Kraft der Worte Christi.

Und wenn euch das klar ist, was Christus eigentlich für euer Leben bedeutet – ja, dann werdet ihr ihn natürlich immer besser kennenlernen wollen, immer mehr von ihm erfahren wollen. Und das könnt ihr auch. Folgt einfach nur dem Rat Jesu selber, den er euch hier gibt: „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt.“ Forscht in der Heiligen Schrift, lernt sie immer besser kennen, und denkt dabei zugleich daran: Dann versteht ihr die Schrift recht, wenn ihr alles, was ihr in ihr lest, auf Christus bezieht, wenn ihr danach fragt, was das, was ihr da lest, mit Christus zu tun hat. Das ist es, was ihr als Letztes und Entscheidendes aus der Heiligen Schrift erkennen sollt, dass der lebendige Gott Liebe ist, dass er sich für euch hingibt, um euch zu beschenken. Ja, wie gut, dass es diesen lebendigen Gott eben nicht bloß gibt! Amen.