27.03.2011 | St. Markus 12,41-44 | Okuli

OKULI – 27. MÄRZ 2011 – PREDIGT ÜBER ST. MARKUS 12,41-44

„Was guckst du?!“ – So lautete der Titel einer bekannten Fernseh-Comedysendung mit dem deutsch-türkischen Comedian Kaya Yanar. „Was guckst du?!“ – Damit nimmt der Comedian das Imponiergehabe türkischer Jugendlicher auf den Arm und aufs Korn, die es in bestimmten Situationen nicht abkönnen, von anderen beäugt zu werden. Ja, was wir gucken und wohin wir gucken, ist heutzutage in unserem Leben in vielfacher Weise ganz wichtig geworden. Längst ist überall ein Kampf um unsere Augen entbrannt; alle möglichen Anbieter möchten, dass wir auf sie blicken, auf das, was sie zu bieten haben. Immer größer werden die Werbeflächen, denen wir in unserer Stadt begegnen. Immer aggressiver werden die optischen Reize, mit denen man das Augenmerk der Menschen einzufangen versucht. Wer da nicht mithält, wer meint, für seine Werbung auf eine ansprechende optische Darstellung verzichten zu können, der wird glatt übersehen. Und übersehen werden wollen wir doch nicht. Das gilt auch für uns ganz persönlich: Gewiss, wir mögen vielleicht nicht unbedingt zu denen gehören, die sich modisch so stylen, dass die Menschen auf der Straße oder hier in der Kirche sich gleich nach uns umdrehen, wenn wir auftauchen. Solch ein Blickfänger wollen wir vielleicht nicht unbedingt sein. Aber übersehen werden wollen wir doch auch nicht, vor allen Dingen nicht von Personen, die uns etwas bedeuten. Ich erlebe das immer wieder mal hier in der Gemeinde, dass ich mitunter sogar auch nur hinten herum erfahre, dass Menschen meinen, ich würde sie wohl nicht mögen, weil ich sie angeblich in irgendeinem Kreis, bei einer Begrüßung oder Verabschiedung nicht richtig angeschaut, angeblich an ihnen vorbeigeschaut habe. Mir selber war das zwar dann in aller Regel überhaupt nicht bewusst, geschweige denn, dass ich da absichtlich an jemand vorbeigeschaut hätte; aber ich merke an diesen Empfindlichkeiten, wie wichtig es für Menschen ist, angeschaut, angeblickt zu werden. Ja, wir können sogar noch einen Schritt weitergehen: Wir Menschen stehen oft genug in der Gefahr, überhaupt unseren Selbstwert danach zu bestimmen, wie andere Menschen uns angucken, wie sie uns beäugen und beurteilen. In den Augen anderer bestehen zu können, dort so zu erscheinen, wie wir uns auch selber gerne sehen, das ist uns wichtig, ja, dafür tun wir dann mitunter auch einiges, richten danach unser Verhalten aus, dass andere das von uns denken, was sie nach unserem Wunsch auch von uns denken sollen.
 
„Was guckst du?“ – So werden wir auch an diesem Sonntag Okuli gefragt. „Oculi mei“ – meine Augen, so beginnt der Introitus dieses Sonntags, in dem es genau um diese Frage geht: Was guckst du? Wohin guckst du, von wem erwartest du was, wenn du irgendwo hinguckst? Und wessen Blick ist dir umgekehrt wichtig, von wem möchtest du wie angeguckt werden?
 
Und genau damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung des heutigen Sonntags: Da macht Jesus hier etwas ganz schön Unanständiges: Der setzt sich nämlich im Tempel an die Kollektenkästen und schaut zu, wie die Leute da ihre Kollekte einlegen. So was macht man doch eigentlich nicht, möchte man einwenden. Stellt euch vor, ich würde mich nach dem Gottesdienst im Vorraum hinstellen und genau beobachten, wer von euch wie viel in die Kollekte steckt und wer gar nichts gibt. Da könnte es dann sein, dass ihr zumindest innerlich auch ähnlich reagieren würdet wie Kaya Yanar: „Was guckst du?!“ Glotz da nicht so hin, das geht dich gar nichts an! Was mich betrifft, hättet ihr da auch ganz recht. Doch Jesus, der hat das Recht dazu, sich die Menschen, die da ihre Kollekte geben, genauer anzuschauen, ja, auch, was sie jeweils einwerfen. Er ist schließlich der Hausherr im Tempel, auch wenn ihm das erst einmal keiner ansieht; was Menschen dort einwerfen, das ist für seinen Vater bestimmt.
 
Ja, Jesus guckt hin – das tat er damals, und das macht er heute auch. Er guckt auch nachher hin, wenn wir am Schluss des Gottesdienstes rausgehen und unser Dankopfer geben. Nein, das will ich jetzt gar nicht weiter ausführen und betonen; aber natürlich sieht Jesus das, was du da gibst. Doch sein Blick ist dabei zugleich doch ein ganz anderer als der eines Kassierers, der nur schnell zusammenrechnet, ob die Summe denn auch stimmt, die dabei zusammenkommt. Genau darum geht es dann auch im Weiteren in dieser Geschichte.
 
Nun ging es allerdings damals im Tempel doch noch ein bisschen anders zu als bei uns heute im Kirchenvorraum. Da standen keine Kollektendosen, wie wir sie heute kennen, sondern da standen an der Wand des Vorhofs der Frauen, also in dem Bereich, zu dem jüdische Männer und Frauen gemeinsam Zutritt hatten, gegenüber der Tempelschatzkammer dreizehn hölzerne Opferkästen in Form von Posaunen. Zwölf der Opferkästen waren für einen ganz spezifischen Zweck bestimmt; damit wurden etwa verschiedene Arten von Opfern im Tempel finanziert. Und dann gab es noch den dreizehnten Opferkasten, der sozusagen für „Sonstiges“ bestimmt war. Das Geld dieses Opferkastens wurde meistens dafür verwendet, Brandopfer im Tempel darzubringen, also Opfer, die in besonderer Weise die Hingabe zu Gott zum Ausdruck brachten. Allerdings steckte man das Geld damals im Tempel nicht einfach nur still und heimlich in diese Opferkästen hinein, sondern da stand ein Priester vor diesen Opferkästen, dem gab man das Geld; der schaute es sich an, ob es auch hier im Tempel verwendet werden durfte, ob da nicht etwa das Bild eines römischen Kaisers darauf zu sehen war, fragte dann nach der Bestimmung des Geldes, in welchen Opferkasten es geworfen werden sollte und erklärte dann für alle hörbar mit lauter Stimme: Fünf Euro für ein Rauchopfer! Nun hat der Priester damals sicher nicht „Euro“ gesagt; doch schon der heilige Markus hat für seine Zuhörer, so erfahren wir es im Weiteren, die Währungsbezeichnung so umgerechnet, dass sie auch für Leute, die nur die römische Währung kannten, verständlich war. Wie auch immer: Jedenfalls wurde der Spendenbetrag also für alle hörbar bekanntgegeben, und es gibt Berichte, wonach bei besonders großzügigen Spenden sogar der Posaunenchor im Tempel in Aktion trat und das Einlegen der großen Spende in den Opferkasten mit einem angemessenen Tusch begleitete.
 
Nun sollte dies nicht unbedingt ein Anregung sein, die zur Nachahmung in unserer Gemeinde bestimmt ist, dass wir den Posaunenchor künftig nach dem Gottesdienst hier im Vorraum postieren und ihn die Kollektensammlung entsprechend musikalisch untermalen lassen. Doch auch ohne Tusch mögen wir auch in unserer Gemeinde darauf hoffen, dass bei uns genau dasselbe geschieht, was St. Markus hier in unserer Predigtlesung schildert: „Und viele Reiche legten viel ein.“ Ja, das brauchen wir, das haben wir dringend nötig; wir haben es ja gerade am letzten Sonntag in der Gemeindeversammlung gehört, dass wir im letzten Jahr wieder ein Minus von 7000 Euro gemacht haben, haben davon gesprochen, dass wir uns darüber Gedanken gemacht haben, wie man die Leute dazu motivieren kann, ihren Kirchenbeitrag zu erhöhen. Nun ja, der Tusch muss es nicht unbedingt sein; aber wenn wir andere Wege finden, Spender dazu zu bewegen, mehr zu geben, dann mögen wir nicht abgeneigt sein, sie zu gehen. Das wird hier auch von St. Markus gar nicht kritisiert; er weiß, das war damals nötig, und das war gut, wenn die Leute, die viel hatten, auch viel abgaben. Keinem dieser Reichen, die viel geben, wird hier Heuchelei unterstellt, und St. Markus vertritt hier auch nicht die These, dass Reichtum nun grundsätzlich Diebstahl sei. Und doch stellt er mit dem, was er hier berichtet, auch an dieser Stelle schon die Frage: Worauf guckst du? Worauf guckst du, lieber Reicher im Tempel? Guckst du vielleicht doch darauf, dass andere das mitbekommen, was für ein großzügiger Spender du bist? Guckst du vielleicht auch darauf, dass der liebe Gott dich doch wirklich für einen guten Menschen halten muss, wenn du so viel von dem, was du besitzt, abgibst? Ja, worauf guckst du, wenn du dir Gedanken über deinen Kirchenbeitrag machst? Du kannst nicht unbedingt erwarten, dass das andere mitbekommen, was du gibst. Aber vielleicht guckst du doch zuerst einmal darauf, ob dir auch nach der Zahlung deines Kirchenbeitrags immer noch genügend übrig bleibt, dass dich das in deinem Leben nicht einschränkt? Und worauf gucken wir umgekehrt in der Gemeinde? Gucken wir vielleicht auch erst einmal auf die, die etwas herzumachen scheinen, von denen wir vielleicht auch finanziell etwas erwarten können? Gibt es das etwa gar bei uns, dass wir an Menschen vorbeigucken, sie übersehen, weil man ihnen vielleicht sogar ansieht, dass sie nicht so viel haben wie manche andere, weil sie eben nichts von sich hermachen? 
 
Jesus guckt jedenfalls anders: Er guckt sich besonders eine Frau an, die nun wirklich gar nichts von sich hermachte: Eine Witwe ist sie, und Witwe zu sein, das war damals nicht bloß ein persönlicher Schicksalsschlag, sondern das war oft genug auch eine finanzielle Katastrophe: Keine Chance hatten Witwen, selber Geld zu verdienen; sie waren oftmals angewiesen auf die Armenfürsorge, erhielten dort Minimalbeträge an Geld, die so gerade vor dem Verhungern bewahrten. Ansonsten waren sie einfach darauf angewiesen, dass andere Menschen sich ihrer erbarmten und ihnen etwas zum Leben zukommen ließen. Und solch eine Witwe kommt da nun zu dem Priester. In ihrer Hand hat sie, Jesus sieht es genau, umgerechnet zwei Ein-Cent-Stücke, die kleinste Münze überhaupt. Und da steht sie nun, drückt dem Priester nicht nur eines der Geldstücke, sondern gleich beide in die Hand. Man kann sich das Gesicht des Priesters vorstellen: Solch ein Kleinkram bringt ja doch nichts; das hätte sie sich doch schenken können; was sind denn schon zwei Cent, wenn ich gleich als nächstes wieder eine Hundert-Euro-Spende entgegennehmen kann? Ob er die Summe in diesem Fall auch laut bekanntgegeben hat? Wir wissen es nicht. Der Witwe wird es wohl egal gewesen sein; denn ihre Augen sind nicht gerichtet auf den Priester, nicht auf die Leute, die sie umgeben; ihre Augen schauen allein auf Gott, ihren Schöpfer und ihren alleinigen Versorger. Ihm gelten die beiden Münzen, die der Priester da in dem dreizehnten Opferkasten, unter „Sonstiges“, versenkte.
 
Jesus sieht das genau, er schaut hin, staunt und freut sich: Nein, er rechnet nicht aus, wie viel oder wie wenig ihre Spende im Vergleich zu anderen Spenden ausmacht, sondern er schaut viel tiefer. Er schaut auf das Herz dieser Frau, das sie zu etwas eigentlich Unglaublichem befähigt hat: Sie hat da eben nicht bloß etwas von ihrem Besitz abgegeben, sie hat auch nicht den Zehnten gegeben, sondern sie hat nicht weniger als alles, ja tatsächlich alles, was sie zum Leben hatte, eingelegt – und damals hätte sie mit diesen beiden Münzen tatsächlich ihren Lebensunterhalt für den nächsten Tag bestreiten können! Jesus sieht es: Sie macht das nicht aus Verzweiflung, dass ja doch eh alles egal ist; sie macht das auch nicht, weil sie vielleicht nicht mit Geld umgehen kann oder schon ein wenig dement ist. Sondern ihre Gabe ist Ausdruck ihrer Liebe zu Gott, ihres Vertrauens zu ihm, dass er, der sie bisher versorgt hat, auch weiter für sie sorgen wird.
 
Und jetzt gilt es für uns, genau hinzuschauen: Jesus sagt am Schluss unserer Geschichte nicht: Geht hin und tut desgleichen, ja, das erwarte ich jetzt von euch auch, dass ihr alles, was ihr habt, Gott abgebt, und wenn schon nicht alles, dann wenigstens erheblich mehr, als ihr bisher gegeben habt! Jesus richtet keinen Appell an seine Jünger, und er will weder ihnen noch uns mit dieser Geschichte ein schlechtes Gewissen machen, ja, er will auch unser heutiges Kollektenergebnis nicht mit dem, was er hier sagt, in die Höhe treiben. Sondern wir haben diese Geschichte erst richtig verstanden, wenn wir auf die beiden Kapitel schauen, die auf diese Erzählung folgen. Dann wird klar: Jesus sagt nicht: Geht hin und tut desgleichen, sondern er sagt: Ich gehe jetzt hin und tue desgleichen. Ich bin jetzt schon hier in Jerusalem, und in dem, was diese Frau tut, spiegelt sich schon wieder, was ich jetzt bald tun werde: Ja, ich werde auch hingehen und alles, wirklich alles hingeben, was ich hatte, mein ganzes Leben. Völlig unvernünftig erscheint dies – wem soll das schon nützen? Was soll solch eine Lebenshingabe denn schon bewirken? Doch in Wirklichkeit, so zeigt es Jesus bald darauf, als er mit seinen Jüngern zusammenkommt, um das Mahl zu feiern, das auch wir gleich feiern werden, in Wirklichkeit bedeutet meine Lebenshingabe mehr als alles, was Menschen sonst an Großartigem in ihrem Leben getan und geleistet haben mögen. Ja, die Lebenshingabe unseres Herrn, sie bedeutet nicht weniger als unsere Rettung vor der ewigen Trennung von Gott, bedeutet nicht weniger als Leben, ewiges Leben für uns, bedeutet nicht weniger als dies, dass wir uns unsere Zukunft nicht selber zu verdienen und zu erkaufen brauchen, erst recht nicht durch einen anständigen Kirchenbeitrag. Ja, erst dann haben wir die Geschichte, die St. Markus hier berichtet, richtig verstanden, wenn unser Blick gerade nicht am Tun der Witwe, sondern an ihm, Christus, hängen bleibt, an dem, was er am Kreuz für alle Menschen, ja auch für diese Witwe getan hat. Wenn wir auf ihn, Christus, blicken, dann dürfen wir aufatmen, dann braucht uns um unsere ewige Zukunft nicht mehr bange zu sein, dann dürfen wir uns nur von Herzen freuen an der Liebe, die in seiner Lebenshingabe zum Ausdruck kommt. Ja, „meine Augen sehen stets auf den Herrn!“ Genau das war damals auch die Blickrichtung der Witwe, nichts von sich selber, alles von ihrem Herrn zu erwarten. Genau das hat sie dazu veranlasst zu tun, was sie getan hat, vielleicht sogar ohne dass sie das bis ins Letzte bedacht hat, was sie da eigentlich tut. 
 
„Meine Augen sehen stets auf den Herren“, auf ihn, den Gekreuzigten. Wenn wir dahin gucken, wird das gewiss nicht ohne Folgen bleiben. Dann wird für uns nicht mehr der Blick auf die anderen entscheidend sein, was sie über uns denken, weil wir wissen, dass allein dies zählt, dass er, der Gekreuzigte, uns liebevoll anblickt. Dann wird für uns nicht mehr der Blick auf unser Konto das Entscheidende im Leben sein, was unser Selbstwertgefühl bestimmt. Dann werden wir in der Tat auch loslassen können, was unser Leben letztlich eben doch nicht zu sichern vermag. Dann brauchen wir uns auch nicht zu schämen, wenn wir im Vergleich zu anderen scheinbar weniger abgeben können als sie, weil wir wissen: Es kommt bei Gott nicht auf Zahlen an. Ein Cent kann ihm mehr bedeuten als tausend Euro. Dann werden auch wir Menschen nicht mehr danach beurteilen, was sie leisten, können und haben, sondern werden sie wahrnehmen als Menschen, für die Christus alles aufgegeben, sein Leben hingegeben hat. Dann wird uns auch als Gemeinde wieder neu klar werden, worin die Zukunft unserer Gemeinde und Kirche besteht: nicht darin, dass die nötigen Kirchenbeiträge einkommen, sondern in der Zusage unseres Herrn, alle Tage bei uns zu sein. Das geht doch alles nicht; das ist doch utopisch, magst du einwenden, zu schön, um wahr zu sein? Jesus guckt auf die Witwe und sagt: Das gibt es tatsächlich, ja schon hier und jetzt. Na, da guckst du! Amen.