16.03.2011 | Römer 8,15 | Mittwoch nach Invokavit

ERSTE FASTENPREDIGT ZUM THEMA „WARUM WIR ES ALS CHRISTEN GUT HABEN“:
"WIR GLAUBEN AN EINEN PERSÖNLICHEN GOTT"
 
Man kann von dem künstlerischen Wirken des Regisseurs Christoph Schlingensief ja halten, was man will. Bewegend war es allemal, mitzuerleben, wie der Regisseur, von Kind auf römisch-katholisch geprägt, in den letzten Jahren seines jungen Lebens in aller Öffentlichkeit mit der Frage nach Gott rang, damit, wie er seine schwere Krebserkrankung mit dem Glauben an Gott zusammenbringen sollte. Eine seiner bewegendsten Äußerungen dazu ist ein Tagebucheintrag vom 21. März 2008, zwei Jahre vor seinem Tod. Darin schreibt er: „Heute ist Karfreitag … Diese Sache mit Gott ist echt noch offen. Würde mich sehr interessieren, warum Gott solche Radikalmaßnahmen von den Menschen fordert. Es passiert so viel Leid, dass ich mit Gott wirklich meine allergrößten Probleme habe und ihn oder Jesus bitten muss, mir das mal zu erklären. … Das ist doch eine Beschmerzung, die da stattfindet. Gott ist ein Schmerzsystem. Gott hat nichts mit Freude zu tun. Wenn sich jemand freut – ja gut, das soll dann auch Gott sein. Aber wenn jemand leidet, heißt es gleich: Da hat sich also Gott für ihn eine Prüfung ausgedacht. Oder: Aha, der hat wohl Schuld auf sich geladen und muss sich mehr mit Gott auseinandersetzen. Das ist doch bescheuert. Das ist doch ein Riesenfehler dieser Religionen – nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam – dass sie permanent diese Drohungen aussprechen: Achtung, Achtung, wehe, du machst einen Fehler! Wehe, du handelst falsch! Das ist doch alles furchtbar. Das müsste man doch ganz anders formulieren … Warum ist das Gottesprinzip kein Freudenprinzip? Warum denkt man nicht an Gott und preist ihn, wenn man sich freut, auf der Welt zu sein, wenn man sich freut, dass tolle Sachen passieren? Warum kommt er erst dann ins Spiel, wenn man feststellt: Na klasse, Familie weg und Krebs und wieder kein Sechser im Lotto. Man müsste das Gottesprinzip viel stärker als frohe Botschaft etablieren, als frohen Gedanken, als Freiheitsgedanken, als Friedensgedanken. In jedem Kopf, in jeder Religion, in jedem Wesen, überall. Das war also mein Karfreitag. Jesus, ich denke an dich, danke allen Schutzengeln und allen, die mithelfen. Amen.“

Was für ein Ringen mit Gott, was für erschütternde Erfahrungen mit Kirche und Verkündigung dazu auch, die in diesen Worten zum Ausdruck kommen!

Von einem „Gottesprinzip“ spricht Schlingensief in seinen Worten hier wiederholt. Ja, das ist ein Versuch einer menschlichen Annäherung an Gott, der sich gerade heute immer wieder beobachten lässt: Menschen scheuen sich davor, von einem konkreten, persönlichen Gott zu sprechen. Aber sie ahnen etwas davon, dass das, was sie umgibt, auch nicht alles irgendwie nur blinder Zufall sein kann, und so sprechen sie von Prinzipien oder Gesetzen, die diese Welt bestimmen und gestalten, ja sie, wie etwa der britische Astrophysiker Stephen Hawking behauptet, sogar selber ins Leben gerufen haben. Gewiss, man mag mit Fug und Recht behaupten, dass wir mit unseren menschlichen Gedanken vielleicht nicht sehr viel weiter kommen, wenn wir über Ursprung und Existenz unserer Welt nachdenken. Doch dass diese Prinzipien und Gesetze von selber, aus dem Nichts entstanden oder vielleicht gar ewig und von daher göttlich sind, ist auch wieder nur schwer nachzuvollziehen.

Gewiss, es gibt den Gedanken eines ewigen Urprinzips, in dem ein persönlicher Gott eigentlich keinen Platz hat, sogar in religiöser Form, im Buddhismus: Da gibt es nur das ewige Gesetz des Karma, dass sich alles, was ich hier und jetzt in meinem Leben tue, bei mir in einem künftigen Leben auswirken wird. Kein Gott ist da, der dieses Gesetz durchbrechen könnte; eisern vollzieht sich dieses Gesetz immer weiter; da mündet ein Kreislauf letztlich in den nächsten. Doch die Folgen eines solchen Denkens sind genau diejenigen, die Schlingensief hier dem Christentum unterstellt: Leid wird dann erklärt als Folge früherer Schuld, die man auf sich geladen hat; Fehler müssen darum unbedingt vermieden werden, weil sie sich unerbittlich in der Zukunft auswirken werden. Ja, wehe, du machst einen Fehler, wehe, du handelst falsch! Ja, ein solches Gottesprinzip, wie Schlingensief es aufgrund seiner Prägung im Christentum zu entdecken meint und das doch in Wirklichkeit gut buddhistisch ist, ist in der Tat furchtbar, wie Schlingensief es hier mit Recht formuliert.

Eine Philosophie, eine letztlich atheistische Philosophie ist der Buddhismus – jedenfalls das Ergebnis menschlicher Gedanken über Gott und die Welt. Schlingensief denkt in dieser Richtung hier in seinen Worten noch einen Schritt weiter, beschreibt letztlich das Gottesprinzip, also Gott selber als Ergebnis menschlicher religiöser Gedanken: „Man müsste das Gottesprinzip viel stärker als frohe Botschaft etablieren, als frohen Gedanken, als Freiheitsgedanken.“ Gott als Gedanke, als Produkt meines religiösen Nachsinnens, meiner religiösen Bedürfnisse. Genau so stellen sich viele Menschen heute Religion vor: Wenn es einem Menschen hilft, an Gott zu glauben, wenn er sich dadurch besser fühlt, dann soll er. Wenn er es auch ohne schafft – umso besser! Und selbstverständlich kann sich entsprechend auch keine Religion anmaßen, ihre Botschaft als „die Wahrheit“ zu verbreiten; denn jede Religion ist ja nur eine von vielen menschlichen Formulierungen des Gottesgedankens. Doch auf einen Gott, zu dem ich nur dadurch in Verbindung kommen kann, dass ich mir über ihn meine Gedanken mache, ja dessen Existenz letztlich sogar von meinen Gedanken abhängt, kann ich getrost verzichten. Einen Gott, den ich als Prinzip etablieren muss, kann man in der Tat vergessen. Ja, mit all unseren religiösen Bemühungen müssen wir letztlich scheitern, weil wir von uns aus niemals erkennen können, ob sich diese Bemühungen denn auf ein wirkliches Gegenüber beziehen und dort auch ankommen oder nicht.
 
Doch dann vollzieht sich am Schluss der Ausführungen von Christoph Schlingensief hier etwas ganz Bewegendes: Derselbe Schlingensief, der vorher immer von einem Gottesprinzip sprach, fängt schließlich doch an zu beten, richtet dieses Gebet nicht an ein Prinzip, führt hier kein Selbstgespräch, sondern richtet dieses Gebet, das er entsprechend auch mit einem „Amen“ beschließt, ganz konkret an Jesus.

Da kommt seine römisch-katholische Erziehung durch, könnte man nüchtern analysieren. Doch als Christen wissen wir: Hier vollzieht sich mehr: Hier spricht ein Getaufter, in dem der Geist Gottes wirkt und der darum dazu in der Lage ist, auszusprechen, was er aufgrund seiner eigenen Fähigkeiten und Gedanken und Überlegungen gar nicht könnte.
 
Jesus – nein, wir müssen uns nicht damit begnügen, uns unsere Gedanken über Gott zu machen, wir müssen uns nicht damit begnügen, ein Prinzip in dieser Welt oder über dieser Welt zu erahnen oder anzuerkennen. Sondern wir leben als Christen davon, dass dieser Gott, an den wir mit unseren Gedanken nur ganz von ferne herankommen, dass dieser Gott sich uns selber zu erkennen gegeben hat, selber zu uns gesprochen hat und damit selbst ansprechbar geworden ist. Wir können dies schon im Alten Testament nachlesen, wenn sich dort im Jesajabuch der Prophet über die stummen, selbstgebastelten Götzen der Babylonier lustig macht und seinem Volk stattdessen den lebendigen, redenden Gott Israels gegenüberstellt. Und was er, der lebendige Gott, bereits im Alten Testament von sich zu erkennen gab, das hat er endgültig offenbart in seinem Sohn Jesus Christus, dem ewigen, Fleisch gewordenen Wort des Vaters. In ihm wird Gott als Gegenüber sichtbar, denn, so sagt es Jesus selber: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“

Schwestern und Brüder: Ahnen wir es wenigstens, wie gut wir es als Christen haben, dass wir an einen persönlichen Gott glauben dürfen, dass wir uns nicht mit Spekulationen über Prinzipien oder über ein höheres Wesen zufrieden geben müssen? Ahnen wir es wenigstens, wie gut wir es als Christen haben, dass wir an einen persönlichen Gott glauben dürfen, der zu uns gesprochen hat und spricht, dessen Wort wir hören dürfen, sein Wort, das eben etwas ganz, ganz Anderes ist als unsere menschlichen Gedanken über Gott? Ahnen wir es wenigstens, wie gut wir es als Christen haben, dass wir zu Gott „Du“ sagen dürfen, zu ihm, dem lebendigen Gott, dem die ganze Welt ihre Existenz verdankt und dem auch wir unser Leben verdanken? Nein, das ist keine Selbstverständlichkeit, das ist ein Privileg, das uns geschenkt worden ist in unserer Taufe, als uns an die Stelle eines knechtischen Geistes, der Angst hat vor dem ehernen Gesetz von Verfehlung und Strafe, ein kindlicher Geist geschenkt worden ist, der den allmächtigen Gott als „Abba“, als „Papa“ anreden lässt und der uns erkennen lässt, dass Jesus unendlich mehr ist als bloß ein Bote Gottes, dass in ihm Gott selber zu erkennen ist und wir uns darum auch an ihn selber im Gebet wenden können, ihn anrufen können, wie es auch Christoph Schlingensief hier auf seine Weise tut!

Wie armselig, um nicht das Wort „bescheuert“ zu gebrauchen, das Schlingensief hier verwendet, wie armselig sind all unsere menschlichen Versuche, uns eigene religiöse Erklärungssysteme zu bauen! Da ist er, der eine, der uns das „Du“ Gottes anbietet, den wir nicht gnädig stimmen müssen, an den wir nicht mit irgendwelchen Tricks, mit Opfern und guten Werken herankommen, sondern der uns schon längst angesprochen hat, bevor wir ihm antworten konnten. Alles, wirklich alles dürfen wir ihm sagen, auch unsere Fragen, unsere Zweifel, selbst unsere Trauer und Wut.

Ja, wie wichtig es ist, um diesen persönlichen Gott wissen zu dürfen, ja sich an ihn wenden zu dürfen, macht gerade auch Christoph Schlingensief in seiner eigenen Weise hier deutlich. „Es passiert so viel Leid“, schreibt er, „dass ich mit Gott wirklich meine allergrößten Probleme habe und ihn oder Jesus bitten muss, mir das mal zu erklären“. Da gibt es in der Tat so vieles in unserer Welt, in unserem Leben, was wir uns nicht erklären können, ganz gleich ob mit oder ohne Gottesprinzip. Da brauchen wir in diesen Tagen nur einmal nach Japan zu schauen. Und wenn wir uns denn selber Erklärungen zusammenbasteln, dann klingen sie oft nicht weniger zynisch als diejenigen, die Christoph Schlingensief als so bescheuert und abstoßend beschreibt. Dass wir angesichts dessen, was wir erleben, mit unserem Glauben an Gott Probleme bekommen können, wie Schlingensief dies hier nennt, ist richtig und verständlich und gut biblisch. Aber gut biblisch ist eben auch, dass wir diese Probleme nicht mit uns selber auszumachen brauchen, dass wir ein Gegenüber, ein „Du“ haben, dem gegenüber wir dies aussprechen dürfen und das wir um Erklärung bitten dürfen.
 
Christoph Schlingensief hat diese Erklärung nun schon erhalten, jetzt, wo er schon heimgegangen ist zu dem, nach dem er hier auf gewiss sehr ungewöhnliche Weise gefragt hat und dessen Namen er doch in seiner Not angerufen hat. Wir müssen auf viele Erklärungen immer noch warten. Aber wir können das aushalten, eben weil wir jetzt schon mit ihm, Gott, sprechen dürfen, weil wir wissen: unser Rufen zu Gott verhallt nicht in den Tiefen des Weltalls, sondern wird gehört, von ihm, unserem persönlichen Gegenüber, von ihm, der kein „Es“, sondern ein „Du“ ist und der es uns in unserer Taufe auf den Kopf zugesagt hat: „Du bist mein!“ Mensch, was haben wir Christen es gut! Amen.