02.01.2011 | St. Johannes 1,43-51 | 2. Sonntag nach Weihnachten

Am Jahresanfang bin ich nun wieder damit beschäftigt, die Statistik für unsere Gemeinde für das Jahr 2010 zu erstellen. Um 30 Gemeindeglieder ist unsere Gemeinde im letzten Jahr auf nunmehr 857 Gemeindeglieder gewachsen. Das klingt natürlich sehr erfreulich, und so ist die Versuchung groß, dass wir anfangen, uns dafür gleichsam selbst auf die Schulter zu klopfen und festzustellen, was für eine tolle Gemeinde wir doch auch im letzten Jahr wieder gewesen sind. Ja, es geschieht sogar hin und wieder, dass wir auch von außerhalb unserer Gemeinde gefragt werden, wie wir das anstellen, dass unsere Gemeinde so sehr wächst und immer weiter wächst. Und dann ist die Versuchung erst recht groß, dass wir allen Ernstes auf diese Frage antworten, dass wir uns auf die darin enthaltene Unterstellung einlassen, wir hätten das irgendwie angestellt, dass wir gewachsen sind, dass Menschen den Weg in unsere Mitte gefunden haben.

Entsprechend schräg fallen dann die Antworten notwendigerweise aus, bis dahin, dass manch einer allen Ernstes auf die Idee kommen mag, den Pastor für das alles verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich zu machen.

Wie befreiend ist es dagegen, die Worte unserer heutigen Predigtlesung zu vernehmen, die uns dazu anleiten, das Phänomen des Gemeindewachstums noch einmal ganz anders, ja, viel tiefer wahrzunehmen. Ein Gemeindewachstum von mehr als 60% wird uns hier vom Evangelisten St. Johannes in dieser Predigtlesung geschildert: Waren es vorher drei Gemeindeglieder der ersten christusgläubigen Gemeinde, so sind es am Ende unserer heutigen Predigtlesung gleich fünf. Ja, wie haben die drei das angestellt, ihre Gemeinde so sehr zu vergrößern? Schauen wir genauer hin, so tauchen zwei der drei schon vorhandenen Gemeindeglieder nur ganz am Rande in unserer Predigtlesung aus: Sie stammen aus demselben Ort wie Philippus, von dessen Berufung uns hier berichtet wird. Weiter tätig werden sie hier in dieser Erzählung jedoch nicht; sondern da steht nur einer ganz im Mittelpunkt, da handelt letztlich nur einer: Christus, der Herr, selber. Und das gilt eben nicht nur für die ersten Jünger damals, das gilt genauso auch für uns. Nicht auf uns sollen wir schauen, nicht auf das, was wir können oder angeblich gar geschafft haben, sondern allein auf ihn, Christus, unseren Herrn. Dreierlei stellt uns St. Johannes hier vor Augen:
Christus findet.
Christus sieht.
Christus verbindet.

I.
Ganz kurz und knapp ist hier zu Beginn unserer Predigtlesung von dem Philippus die Rede. Bemerkenswert ist, wie der in der Gemeinde Jesu Christi landet: Er selber trägt dazu nämlich überhaupt nicht das Geringste bei. Nur zweierlei schildert St. Johannes hier: Jesus findet ihn, und Jesus spricht ihn an und sagt zu ihm: Folge mir nach! Nichts berichtet er hingegen von irgendwelchen inneren Seelenkämpfen des Philippus, wie er denn nun mit diesem ungewöhnlichen Ruf Jesu umgehen soll, nichts berichtet St. Johannes davon, dass Philippus sich etwa aufgrund dieser Worte Jesu bekehrt habe. Das Geschilderte reicht: Jesus findet ihn, und Jesus ruft ihn. Mehr ist nicht nötig; genau so landet der Philippus in der Gemeinde.

Es mag sein, dass du dich selber in dem Philippus gut wiedererkennen kannst. Wenn dich jemand fragt, wie du eigentlich Christ geworden bist, kannst du vielleicht keine rührende Bekehrungsgeschichte vorweisen, kannst du das vielleicht selber nicht recht erklären, warum du hier bei Christus eigentlich gelandet bist. Ja, von deiner Taufe kannst du gewiss sprechen – und genau die entspricht ja dem, was uns St. Johannes hier schildert: Da, in deiner Taufe, da hat Christus auch dich gefunden, ohne dass du auch nur einen Schritt auf ihn zugegangen wärst. Gefunden hat Christus dich dort nicht einfach zufällig, sondern weil er hinter dir her war, längst bevor du das auch nur ahnen konntest: „Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden“, so haben wir es nun wieder zu Weihnachten gesungen. Und dann hat Christus dich in der Taufe in seine Gemeinschaft gerufen, und sein Wort hat, wie bei Philippus auch, bewirkt, was es sagt, hat dich so aufgenommen, dass du nur rückblickend staunend feststellen kannst, was Christus da schon längst an dir getan hat. Ja, wie entlastend, wie befreiend ist das, dass dein Christsein tatsächlich nur an Christus und nicht an dir, nicht an deinem Willen, nicht an deiner Entscheidung hängt!

Doch dann höre dir an, wie der Philippus selber anschließend schildert, was ihm da gerade zuvor widerfahren ist: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben! Da nimmt der Philippus das ganze Geschehen nun mit einem Mal so wahr, als ob er Jesus gefunden habe! Auch das gibt es in der Tat, dass Menschen allen Ernstes glauben, sie hätten in ihrem Leben Jesus gefunden, sie hätten sich bekehrt, sie hätten sich für Jesus entschieden. Ja, es mag sein, dass sie dies von sich aus so empfinden. Doch Johannes lässt uns eben hinter die Kulissen blicken: Auch da, wo Menschen glauben, sie hätten eine Entscheidung für Jesus gefällt, sie hätten ihn gefunden, steht dahinter doch, dass Jesus in Wirklichkeit sie gefunden, sie bekehrt hat. Ja, auch wenn du aus deinem Leben eine ganz konkrete Geschichte erzählen kannst, wie es dazu gekommen ist, dass du nun hier in der Gemeinde zu Hause bist, dann denke stets daran: Alles, was du erzählen kannst, steht unter diesem Vorzeichen: Christus hat dich gefunden, bevor du ihn auch nur finden konntest.

Doch nun geht die Geschichte weiter: Kaum hat Jesus bei dem Philippus durch sein Wort den Glauben gewirkt, fängt der auch schon an, dem nächsten weiterzuerzählen, was da in seinem Leben geschehen ist, lädt ihn dazu ein, auch selber diesen Weg zu Christus zu gehen. Und siehe da, diese Einladung führt schließlich dazu, dass auch dieser nächste, der Nathanael, schließlich bei ihm, Christus, in seiner Gemeinde, landet.

Ähnliches können wir auch immer wieder in unserer Gemeinde beschreiben: Menschen kommen in unsere Gemeinde, und dann können sie das einfach nicht für sich behalten, was sie hier in der Begegnung mit Christus erfahren, fangen an, die nächsten einzuladen, die dann ihrerseits wieder hier auftauchen. Ja, ganz menschlich gesprochen funktioniert unser Gemeindewachstum wesentlich durch solche Einladungen, weil ihr einfach nicht den Mund halten könnt, einfach nicht verschweigen könnt, was euch hier widerfährt.

Davon, dass Philippus den Nathanael findet, spricht St. Johannes hier. Doch im weiteren Verlauf der Geschichte wird deutlich: Längst bevor Philippus den Nathanael gefunden hatte, hatte Jesus ihn schon gesehen, hatte er ihn schon auf dem Schirm, wie es heute so schön heißt. Ach, wie ermutigend und tröstlich ist auch das wieder für uns: Manchmal mögen wir ja auf diese verrückte Idee kommen und glauben, wir könnten es irgendwie schaffen, einen Menschen „rumzubekommen“, ihn zum Glauben zu bewegen. Doch in Wirklichkeit ist es immer schon Christus selber, der uns gleichsam Menschen vor die Füße legt und uns zu seinen Werkzeugen macht, um sie dann zu ihm zu führen. Vergessen wir es darum nie: Wenn wir glauben, einen Menschen „gefunden“ zu haben, den wir zu Christus bringen können, dann war Christus auch bei ihm schon längst vorher am Werk, auch wenn weder wir noch er davon etwas bemerkt hatten. Christus findet – und eben so wächst seine Gemeinde, damals und heute.

II.
Der Nathanael ist der zweite, der zur Christusgemeinde hier in unserer Erzählung hinzustößt. Zutiefst sympathisch erscheint er uns, ein typisch moderner Mensch: Auf die Einladung des Philippus reagiert er nicht mit großer Begeisterung, sondern lässt die Einladung mit einer skeptischen Bemerkung an sich abperlen: Ein Messias aus Nazareth – so ein Quatsch; das widerspricht meinen Vorstellungen von einem Messias ganz und gar!

Ganz ähnliche Erfahrungen mögen wir auch immer wieder machen, wenn wir andere Menschen zu Christus, zum Glauben einladen – und vielleicht haben wir selber sogar ganz ähnlich wie der Nathanael gedacht, bevor wir schließlich hier bei Christus gelandet sind. Wenn wir andere Menschen zur Kirche, zum Glauben einladen, dann erleben wir es häufig, dass unsere Einladung auch mit einer kurzen Bemerkung beiseite gewischt wird, die letztlich keine weitere Argumentation oder Diskussion zulässt: Ich bin nun mal religiös unmusikalisch, oder: Ich habe nun mal meinen eigenen Glauben. Ja, was will man da eigentlich noch sagen? Der Philippus gibt hier genau die richtige Antwort: Er fängt nicht an, mit dem Nathanael darüber zu diskutieren, wie es eben doch möglich sein kann, dass der Messias, auf den sein Volk schon so lange gewartet hatte, in einem völlig unbedeutenden Provinzkaff in Galiläa zu Hause ist. Sondern er lädt den Nathanael einfach ein: Komm und sieh!

Auch wir tun gut daran, genau wie der Philippus zu reagieren, wenn uns auch solch ein Nathanael-Argument um die Ohren gehauen wird: Es hat mitunter keinen Zweck, dann lange zu diskutieren und ein Argument gegen das andere zu stellen. Oftmals ist es besser, genau wie der Philippus einfach einzuladen: Komm und sieh! Ich kann dir das jetzt hier nicht alles theoretisch aufdröseln. Komm mit, was du dann erfährst, spricht mehr als tausend Worte.

Nun mag man einwenden: Ja, der Philippus hatte es damals viel einfacher als wir heute: Der konnte den Nathanael ja zu einem sichtbaren Jesus einladen, dazu, ihn sich selber direkt anzuschauen. In diesem Sinne können wir doch gar nicht die Leute einladen und sagen: Komm und sieh! Doch was sah der Nathanael denn dann: Er sah ja Christus nicht im Glanz seiner Herrlichkeit dort vor sich, sondern er sah einen unscheinbaren Menschen, der ihn ansprach in seinem Wort. Nathanael sieht, indem er hört. Und genauso ist es eben auch bei uns: Das Sehen, zu dem wir andere Menschen hier in unserer Mitte einladen, vollzieht sich auch bei uns wesentlich im Hören: Wir hören, wie Christus zu uns spricht – und genau das öffnet uns, im Bilde gesprochen, die Augen.

Was erfährt denn der Nathanael in der Begegnung mit Jesus? Er erfährt, dass Jesus ihn längst schon kannte, bevor er, Nathanael, ihn, Jesus, kannte, dass Jesus ihn schon längst gesehen hatte, bevor er, Nathanael, ihn, Jesus, gesehen hatte. „Woher kennst du mich?“ – So fragt Nathanael ganz verblüfft und erfährt darauf, dass Jesus noch viel mehr von ihm weiß, als er auch nur ahnt.

Genau so gewinnt Christus auch heute noch die Herzen von Menschen, so hat er auch unser Herz gewonnen, dass wir erfahren haben: Mensch, der kennt mich ja, sein Wort, das ich hier höre, das gilt ja auch mir, das spricht auch in mein Leben hinein, das meint auch mich! Ja, genau so gewinnt Christus unsere Herzen, dass wir es nicht als erschreckend, sondern als beglückend empfinden, dass Jesus uns kennt, dass wir ihn gerade nicht als stets präsenten Big Brother wahrnehmen, sondern als jemand, der uns noch besser versteht als wir selber. Ihm können wir nichts vormachen, und ihm brauchen wir auch nichts vorzumachen. Wie er damals gesehen hat, wie der Nathanael unter dem Feigenbaum saß, so hat er auch uns in diesen vergangenen Tagen und Wochen gesehen, hat gesehen, wo wir traurig und verzweifelt waren, hat auch all das gesehen, was wir vor anderen so schön hinter einer Maske verstecken konnten. Und das ist gerade kein schrecklicher Gedanke, sondern soll uns im Gegenteil genau in die Arme dieses Christus treiben, weil der uns doch versteht, ja weil der doch nur dies eine will: Dass wir ihm glauben, dass wir erkennen, dass wir durch ihn und nur durch ihn in die Gemeinschaft mit Gott gelangen.

III.
Und damit sind wir schon beim Dritten, was uns St. Johannes, nein: was uns Christus selber über sich zu erkennen gibt: Er, Christus, verbindet – und zwar nicht bloß Menschen miteinander, sondern er verbindet nicht weniger als Himmel und Erde, als uns Menschen und Gott.

Schwestern und Brüder, wenn wir auf irgendwelche Statistiken schauen und irgendwelche Wachstumszahlen uns anschauen, dann besagen die erst einmal gar nicht fürchterlich viel. Ob ein Mensch irgendwo in einer Gemeindekartei verzeichnet ist oder nicht, ist für ihn und sein Leben gar nicht unbedingt entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob dieser Mensch auch wirklich bei Christus, in seiner Gemeinschaft angekommen ist und da lebt, dass er dort angekommen ist, wo der Weg in den Himmel führt. Nähmen Menschen hier in unserer Gemeinde nicht mehr wahr als dies, dass es hier eine Menge netter Leute gibt, gute Unterhaltung, leckere Pizzen, schöne Fahrten, dann hätten sie das wirklich Wichtige, auf das es ankommt, noch überhaupt nicht begriffen. Und wenn wir gegenüber anderen den Eindruck erwecken würden, als sei das der Grund, in die Gemeinde zu kommen oder in der Gemeinde zu bleiben, dann würden wir sie letztlich irreführen, dann wäre auch ein Gemeindewachstum, das sich darauf gründete, in Wirklichkeit gar keins.

Mit der Himmelsleiter, die von dem Stein, auf dem einst der Erzvater Jakob schlief, bis in den Himmel reichte, vergleicht sich Christus hier. Genau darum und um nicht weniger geht es immer wieder neu, wenn wir hier das Heilige Mahl feiern. Da sehen wir zunächst auch nur diesen Stein, den Altar. Doch in Wirklichkeit ist dieser Stein gleichsam der Basispunkt der Himmelsleiter, steht auch uns der Himmel offen, wenn Christus selber hier bei uns Einzug hält mit seinem Leib und Blut. Da kommen wir jetzt schon an den Himmel heran, damit wir einmal für immer im Himmel leben werden. Genau hier begegnen wir ihm, Christus, genau hierher haben alle unsere Einladungen zu zielen, und genau hierher bringt Christus immer wieder Menschen, indem er sie findet, indem er sie sieht und sie mit sich und seinem Vater verbindet. Und da spielen Zahlen dann keine Rolle mehr, da ist die Freude im Himmel groß über jeden einzelnen, der sich hier anfindet, der in dem kleinen Stück Brot und dem Schluck Wein doch den Sohn Gottes, den Messias Israels und Retter der Welt, erkennt. Ja, ein Wunder ist es allemal, wenn dies im Leben eines Menschen geschieht. Komm und sieh! Amen.