31.12.2012 | St. Johannes 8,31-36 | Altjahrsabend

Es gibt Menschen, die sind dazu bereit, für die Wahrheit und für die Freiheit ihr Leben zu riskieren. Wer einmal im Mauermuseum am Checkpoint Charlie gewesen ist, der konnte dort einen Eindruck davon gewinnen, wozu die Sehnsucht nach Wahrheit und nach Freiheit Menschen zu treiben vermag.

In unserer Gemeinde haben wir in diesem vergangenen Jahr auch viele zumeist junge Menschen kennenlernen dürfen, die für die Wahrheit und die Freiheit sehr viel riskiert und aufgegeben haben, die sich für ihre Sehnsucht nach Wahrheit und Freiheit haben zusammenschlagen und foltern lassen, die für ihre Sehnsucht nach Wahrheit und Freiheit mitunter Monate, ja Jahre auf der Flucht waren, weil sie das einfach nicht ertragen konnten, in einem System der Unwahrheit und Unfreiheit zu leben, in dem sie belogen und betrogen wurden und in denen ihnen kein Raum zum freien Atmen mehr blieb.

Wahrheit und Freiheit – verbinden wir mit diesen Begriffen auch noch solche Sehnsüchte und Hoffnungen wie jene Mauerflüchtlinge damals oder wie diese jungen Menschen, die nun den Weg hierher in unsere Gemeinde gefunden haben? Oder macht uns im Gegenteil zu viel Wahrheit, zu viel Freiheit möglicherweise sogar Angst? Ahnen wir etwas davon, dass uns auch in unserem Land von den gesellschaftlich Verantwortlichen und auch in den Medien oft genug alles Andere als die Wahrheit aufgetischt wird? Ahnen wir etwas davon, wie sehr auch wir oft genug manipuliert und hinters Licht geführt werden, wie stark interessengelenkt oft genug das ist, was uns als angebliche Wahrheit präsentiert wird? Und möchten wir vielleicht die Wahrheit auch gar nicht so genau wissen – die Wahrheit über unser persönliches Leben, die Wahrheit über das, was uns in unserer Zukunft erwartet? Lebt es sich nicht komfortabler und beruhigter in einem Netz von persönlichen und öffentlichen Lebenslügen, die uns zumindest ermöglichen, unseren ganz normalen Alltag zu bewältigen?

Und ähnlich verhält es sich ja auch mit der Freiheit: Möchten wir vielleicht gar nicht so genau wissen, wie weit unsere persönliche Freiheit mittlerweile schon längst eingeschränkt ist, ohne dass uns das schon so ganz bewusst geworden ist? Und möchten wir vielleicht auch gar nicht allzu sehr frei sein, ist es nicht viel schöner, anderen die Verantwortung für größere Teile unseres Lebens zu überlassen, ist es nicht viel schöner, einfach das zu sagen und zu machen, was alle anderen auch machen? 

Gewiss, wo Wahrheit und Freiheit allzu offensichtlich eingeschränkt werden, da ruft dies Widerstände hervor. Aber wo diese Einschränkungen nicht vorhanden oder zumindest nicht so deutlich erkennbar sind, da werden Wahrheit und Freiheit oft genug kaum noch geschätzt. Wie oft denken wir beispielsweise daran, was für ein Privileg es ist, dass wir uns in unserem Lande ohne Einschränkungen zum Gottesdienst versammeln können, dass wir es in diesem nun zu Ende gehenden Jahr tun konnten und es, Gott geb’s, auch im neuen Jahr können werden? Und wer denkt bei der großen Silvesterfeier heute Abend am Brandenburger Tor eigentlich noch daran, dass diese Feier an diesem Ort einmal begonnen hatte als Feier der Freiheit, als Feier des Falls der Berliner Mauer? Ist uns das eigentlich noch klar, wie kurze Zeit es erst her ist, dass wir mit der Unterdrückung der Freiheit hier in unserer Stadt ganz direkt konfrontiert waren – und sind wir noch dankbar dafür, wie wir nun hier in unserer Stadt und in unserem Land leben dürfen, gerade einmal 23 Jahre später?

Um Wahrheit und Freiheit geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Altjahrsabends. Wenn jedoch Christus von Wahrheit und Freiheit spricht, dann gebraucht er diese Worte noch einmal in einem ganz besonderen Sinn, lässt uns von daher das, was wir normalerweise unter Wahrheit und Freiheit verstehen, noch einmal ganz neu wahrnehmen:

I.
Fangen wir mit der Wahrheit an. Es gibt ja gute Gründe dafür, dass heutzutage viele Menschen davon ausgehen, dass es „die“ Wahrheit eigentlich gar nicht gibt, dass jeder Mensch nur seine eigene, ganz persönliche Wahrheit hat, weil Wahrheit immer stark interessengeleitet ist.

Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Da gibt es nicht wenige Gemeindeglieder, die am Ende dieses Jahres mir mit dem Brustton der Überzeugung erzählen, dass sie das ganze Jahr über so beschäftigt waren, dass sie an keinem einzigen Sonn- und Feiertag, dass sie auch an keinem einzigen Werktag dazu in der Lage waren, zur Kirche, zum Gottesdienst zu kommen. Nein, diese Menschen lügen mich nicht an; sie glauben das selber ganz offensichtlich, haben sich ihre eigene Lebenswahrheit zusammengebastelt, in der für Gott, für Christus nun mal kein Platz ist. Natürlich könnte man versuchen, nun mit diesen Menschen zu diskutieren und ihren Terminkalender des vergangenen Jahres durchzugehen. Aber das dürfte trotzdem wenig daran ändern, was sie als Wahrheit ihres Lebens erkannt zu haben meinen.

Gibt es also gar nicht „die Wahrheit“? Jesus jedenfalls wagt es hier, von „der Wahrheit“ zu reden. Das macht er nicht, weil er nun mal vor der Aufklärung gelebt hat und nicht weiß, dass man so von der Wahrheit nicht sprechen kann. Sondern das macht er ganz bewusst, weil er weiß, was „die Wahrheit“ ist: eben keine mathematische Formel, keine menschliche Theorie, sondern eine Person, er selber, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. „Wahrheit“ meint dabei nicht eine Art von Richtigkeit, sondern beschreibt die Art und Weise, in der Gott sein Verhältnis zu uns bestimmt; im Hebräischen sind „Wahrheit“ und „Treue“ dasselbe Wort.

Die Wahrheit erkenne ich also, wenn ich Christus erkenne, wenn er mit seinem Wort in mein Leben hineinleuchtet. Und wenn er das tut, dann erkenne ich allerdings auch eine Wahrheit, auf die ich eigentlich auch gerne ganz gut verzichten könnte: Wenn Christus in mein Leben hineinleuchtet, dann erkenne ich, dass es da so vieles in meinem Leben gibt, das mich von Gott trennt, oder, wie Jesus es hier formuliert: erkenne ich, dass mein Leben von der Sünde gezeichnet ist. Das ist die Wahrheit eines jeden menschlichen Lebens – und weil dies nicht nur ein persönlicher Eindruck von uns selber ist, sondern im Lichtschein des Wortes Christi erkennbar wird, darum gilt dies in der Tat, hilft uns auch, unsere Welt besser zu verstehen: Weil die Wahrheit unseres menschlichen Lebens so aussieht, dass wir Menschen immer wieder zunächst und vor allem um uns selber kreisen, dass wir blind sind für Gott und sein Wort, sollen und dürfen wir nicht allen Ernstes damit rechnen, dass sich diese Welt allmählich zum Besseren verändert, dass sich Wahrheit und Freiheit in dieser Welt immer mehr durchsetzen, bis diese Welt einem paradiesischen Zustand zumindest schon ziemlich nahekommt.

Ich nenne auch hier wieder nur ein Beispiel: Da können wir es in der Politik und in den Medien immer wieder gleichermaßen erleben, wie in dem Bürgerkrieg in Syrien fein säuberlich zwischen Guten und Bösen unterschieden wird – zwischen dem bösen Assad-Regime und der guten Opposition. Dass das Assad-Regime böse ist, darüber brauchen wir wohl nicht lange zu diskutieren. Dass es aber die Opposition ist, die zurzeit in großem Stil Christen massakriert, sie als menschliche Schutzschilde gebraucht, ihre Kirchen und Kultur zerstört, darüber hört man zumeist nur herzlich wenig. Wie auch immer der Bürgerkrieg in Syrien ausgehen wird: Eines ist gewiss: Dass sich auch hier als wahr erweisen wird, dass der Mensch eben nicht gut ist, dass sich mit dem Sturz eines Diktators eben nicht einfach die Freiheit durchsetzt. Dies bekommen Christen in anderen arabischen Ländern ja zurzeit auch nur allzu deutlich zu spüren.

Doch die Wahrheit ist eben nicht nur, dass der Mensch von Gott getrennt ist, nicht gut ist, sondern sich immer wieder von dem Bösen in seinem Herzen leiten lässt. Sondern die Wahrheit ist eben auch, dass Gott seinen Sohn Jesus Christus zu uns Menschen geschickt hat, damit wir nicht Sklaven der Sünde bleiben, nicht dem Bösen, nicht dem Tod für immer unterworfen bleiben. Die Wahrheit ist, dass Jesus Christus gekommen ist, um uns zu befreien von der Macht der Sünde, des Todes und des Teufels. Die Wahrheit deines Lebens ist, dass du getauft bist, dass du Kind Gottes bist, dass Christus der Herr deines Lebens ist und darum die Sünde nicht das letzte Wort in deinem Leben hat. Die Wahrheit ist, dass dein Leben einen festen Grund hat, auf dem du stehst, im Jahr 2013 genauso wie im Jahr 2012. Nein, das ist nicht bloß ein Gefühl, das du haben magst; sondern diese Wahrheit wird dich tragen, auch durch alles Schwere hindurch, das dich vielleicht im neuen Jahr erwarten mag. Diese Wahrheit wird dich schließlich auch einmal hindurchtragen durch den Tod.

II.
Und damit sind wir nun schon bei dem anderen zentralen Thema, das Jesus hier anspricht, bei der Freiheit.
Nein, es ist nicht selbstverständlich, gleichsam von der Natur oder von unserer Abstammung her vorgegeben, dass wir freie Menschen sind. Unfrei werden wir geboren, versklavt unter unser eigenes Ich, versklavt von der Macht der Sünde und des Todes. Solange uns das nicht klar ist, wird alles Gerede von menschlicher Freiheit sich immer wieder schnell als weltfremde Schwärmerei herausstellen.
Das hören wir Menschen nicht gerne, darüber haben sich damals schon die Hörer Jesu aufgeregt – und darüber regen sie sich bis heute auf. Doch im Licht des Wortes Christi wird uns dies schnell ganz klar: Wir können uns nicht selber zu freien, autonomen Menschen machen; wir sind und bleiben immer beherrscht, gesteuert von anderem – von unseren Trieben, von der Meinung anderer Menschen, von denen, die uns unter dem Deckmantel der Freiheit genau dorthin steuern, wo sie uns haben wollen.

Doch wir brauchen eben nicht unfrei zu bleiben. „Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“, so verkündigt es Christus hier. Wer Christus als den Herrn seines Lebens hat, wer sich von ihm beherrschen lässt, wechselt damit nicht von einer Unterdrückung in die nächste, sondern wird ein wirklich freier Mensch – ein Mensch, der nicht mehr vom eigenen Ich beherrscht wird, ein Mensch, der nicht einfach hinter allem herläuft, was alle anderen auch machen, ein Mensch, der sich auch nicht mehr treiben lässt von der Angst, etwas zu verpassen, weil er doch weiß, dass Christus die Macht des Todes gebrochen hat.

Ja, wer an Jesus Christus glaubt, dem schenkt Christus den klaren Durchblick auf die letzte Wahrheit seines Lebens, auf sein Verhältnis zu Gott, und dem schenkt Christus die Freiheit, die wir mit unserem Willen eben gerade nicht erreichen können.

Ja, wir tun gut daran, diese Wahrheit und diese Freiheit nicht gering zu achten, sie erst recht nicht als selbstverständlich anzusehen. Wir tun gut daran, Christus täglich neu für dieses Geschenk der Wahrheit und der Freiheit zu danken. Und wir tun vor allem gut daran, der Mahnung unseres Herrn zu folgen, diese Wahrheit und diese Freiheit nicht zu verspielen. „Wenn ihr bleiben werdet in meinem Wort, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger“, sagt Christus hier.

Darum geht es für uns nun auch in dem neuen Jahr 2013, das vor uns liegt, dass wir in seinem Wort zu Hause bleiben, dass wir es immer und immer wieder hören – hier im Gottesdienst, dass wir uns auch zu Hause täglich durch dieses Wort den Blick schärfen lassen auf uns selber und auf die Welt. Dass wir im Wort Christi zu Hause bleiben, dass es uns immer vertrauter wird – das sollte unter all den guten Vorsätzen für das neue Jahr, die wir heute Abend fassen mögen, an erster Stelle stehen: als ein Vorsatz, den wir dann hoffentlich auch nicht schon wieder am 6. Januar aufgegeben haben. Wenn wir im Wort Christi bleiben, dann wird uns das helfen, auch im neuen Jahr vieles kritisch zu hinterfragen, was uns als Wahrheit verkauft wird. Und wenn wir im Wort Christi bleiben, dann wird uns das die Kraft schenken, als freie Menschen auch gegen den Strom zu schwimmen, dann werden wir vor der Freiheit, die Christus uns schenkt, keine Angst haben, sondern sie immer wieder dankbar empfangen. Ja, das wünsche ich euch für das neue Jahr, dass Wahrheit und Freiheit euer Leben bestimmen. Ja, das wünsche ich euch vor allem Anderen, dass ihr bei Christus und seinem Wort bleibt – was auch immer sich sonst im neuen Jahr verändern mag. Amen.