02.12.2012 | St. Lukas 1,67-79 | 1. Sonntag im Advent

Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg stand vor der ausgebrannten Behindertenwerkstatt in Titisee-Neustadt und rang nach Worten. Ja, was kann und soll man da eigentlich noch sagen, wenn man vor einem Gebäude steht, in dem kurz zuvor dreizehn behinderte Menschen und eine Betreuerin durch ein Feuer ums Leben gekommen waren? Da kann man doch eigentlich nur noch verstummen, weil man weiß, wie wenig all das, was man da von sich gibt, solch einem Ereignis eigentlich gerecht wird.

Ja, was soll man da eigentlich noch sagen? Solche Gedanken mögen uns in diesen Wochen immer wieder einmal durch den Kopf gegangen sein: als uns beispielsweise das Leid der Menschen im Heiligen Land, in Israel und im Gaza-Streifen, täglich vor Augen gestellt wurde, die von Raketen und Bomben getroffen worden waren. Ja, wie soll dort jemals wirklicher Frieden einkehren, mögen wir uns gefragt haben, ohne auf diese Frage eine Antwort zu haben. Und sprachlos mögt ihr mitunter auch sein, wenn ihr ganz direkt im eigenen Leben von furchtbarem Leid, von Schicksalsschlägen getroffen werdet oder davon in eurer unmittelbaren Umgebung hört. Da kann man doch eigentlich nur noch verstummen, gar nichts mehr sagen.

Der Mensch, dessen Worte wir eben in der Predigtlesung des heutigen Tages gehört haben, der konnte auch nicht mehr reden, der musste auch stumm bleiben – nicht weniger als neun Monate lang. Gewiss, er war nicht verstummt, weil er so Furchtbares erfahren hätte – im Gegenteil: Er war verstummt, nachdem der Engel des Herrn ihm die freudige Nachricht übermittelt hatte, dass er nun doch noch in hohem Alter Vater werden sollte. Doch nachdem er nun nach der Geburt seines Sohnes wieder singen und sprechen kann, spricht er in seinem Lied genau die Erfahrungen an, die Menschen verstummen lassen, spricht von Feindschaft, von Schuld, von Finsternis und dem Schatten des Todes. Vor allem aber spricht und singt er von Gott, von dem, was er getan hat und tut, spricht und singt davon, weshalb wir auch im Angesicht von so viel Dunklem in unserem Leben nicht zu verstummen brauchen, sondern allen Ernstes singen dürfen. Nein, Zacharias, der Priester, verbreitet hier keine Durchhalteparolen, kein positives Denken, keine hohlen Sprüche: Kopf hoch, wird schon wieder. Was Zacharias hier singt, entstammt auch nicht seinen eigenen Vorstellungen, die er sich über Gott und die Welt gemacht haben mag, sondern, so betont es St. Lukas hier, Zacharias singt, weil er vom Heiligen Geist erfüllt wurde, weil Gott ihn durch den Heiligen Geist die Welt und sein Leben noch einmal mit ganz anderen Augen sehen lässt.

Und eben darum sind die Worte des Zacharias auch für uns heute so aktuell, sprechen auch sehr direkt in unser Leben hinein, auch und gerade dann, wenn uns in dem, was wir erfahren haben und erfahren, manchmal einfach die Sprache wegbleiben mag. Ja, auch wir haben trotzdem allen Grund zum Singen, auch und gerade an diesem Ersten Sonntag im Advent, so macht es uns Zacharias hier deutlich, denn
- Gott besucht uns.
- Gott leuchtet in die Finsternis unseres Lebens hinein.

I.
„Die da oben haben ja keine Ahnung, wie es uns wirklich geht!“ Schwestern und Brüder, diesen Vorwurf kann man häufig hören, wenn Menschen, die kaum Geld zum Leben haben, die sich nicht wehren können gegen das Unrecht, das ihnen zugefügt wird, von ihrem Leben, von ihrer Situation sprechen. Und dieser Vorwurf, der richtet sich dann auch nicht selten noch an eine weitere Etage nach oben, an Gott selber: Der hat ja keine Ahnung, wie es mir geht, der versteht mich überhaupt nicht, der scheint ja unendlich weit weg zu sein.

Doch nun hören wir hier Zacharias in seinem Lied singen und jubeln: Das stimmt nicht, dass Gott ganz weit weg von uns ist, dass er keine Ahnung hat, wie es uns geht. Im Gegenteil: Gott hat uns besucht, so stellt Zacharias hier staunend fest. Gott hat uns besucht. Wir müssen uns mal klarmachen, was das eigentlich heißt:
Es gibt ja heutzutage auch so etwas wie inszenierte Besuche: Wenn Politiker, vor allem in Diktaturen, so tun, als wollten sie sich unters Volk mischen, dann kündigen sie ihren Besuch schon lange vorher an. Und dann tun die Verantwortlichen alles, was sie können, um dem Politiker bei seinem Besuch eine heile Welt zu vermitteln, lassen alles nur in bestem, rosarotem Licht erscheinen. Kein Wunder, dass dann beispielsweise ein Erich Honecker möglicherweise bis zum Schluss ganz ernsthaft geglaubt hat, er habe in der DDR in der Tat in einem Paradies der Werktätigen gelebt, in dem die Bewohner aus dem Jubeln eigentlich kaum noch herauskommen.

Gott hat seinen Besuch bei uns Menschen auch schon lange vorher angekündigt, das ist richtig. Eindrücklich beschreibt Zacharias hier in seinem Lied, wie Gott schon seit den Zeiten von Abraham auf seinen großen Besuch bei uns hingearbeitet hat – bis schließlich hin zu Johannes dem Täufer, dem letzten und größten der Propheten. Doch die, denen er seinen Besuch angekündigt hatte, ließen sich durch diese Ankündigung nicht sonderlich beeindrucken, fingen nicht an, eine große Show für ihn vorzubereiten. Im Gegenteil: Als Gott dann schließlich bei ihnen eintraf, bekamen das die meisten erst mal gar nicht mit, lebten genauso, wie sie sonst auch immer gelebt hatten. Und eben darum war dieser Besuch für Gott auch ganz schön heftig.

Vor einigen Monaten wurde in der ARD eine Dokumentation mit dem Titel „Vier Wochen Asyl“ gezeigt: Zwei Reporter des RBB-Magazins „Kontraste“ zogen für vier Wochen in ein Asylbewerberheim, um einmal mitzuerleben, wie das so ist, in solch einem Heim zu leben. Sie verzichteten auf alle Privilegien, lebten dort genauso wie alle anderen Bewohner des völlig überfüllten Heims – nur mit dem Unterschied, dass sie wussten, dass sie nach vier Wochen dort wieder rausdurften. Doch die vier Wochen reichten, um sie wenigstens ein Stück weit verstehen zu lassen, was es bedeutet, in solch einer Einrichtung untergebracht zu sein, und das brachten sie in dem Film dann auch sehr eindrücklich rüber. unter was für menschenunwürdigen Verhältnissen die Bewohner dort nicht selten über Jahre hinweg hausen müssen.

Was diese beiden Reporter da gemacht haben, kommt der Art von Besuch schon näher, den Gott bei uns Menschen unternommen hat: Der ist wirklich hier bei uns eingezogen in unserer Welt, hat auf alle Privilegien verzichtet, ja ist sogar ein entscheidendes Stück weitergegangen: Er ist nicht nach vier Wochen wieder verschwunden, als ihm alles zu viel und zu ekelhaft wurde, sondern ist bei uns geblieben bis zum Tod. Nein, das kann man Gott wirklich nicht unterstellen, dass er keine Ahnung hätte, wie es uns geht: Der kennt das alles ganz genau aus eigener Erfahrung: unsere Sprachlosigkeit, unsere Traurigkeit, unser Entsetzen angesichts von Leid und Tod. Ja, der kennt es selber, was es heißt, leiden und sterben zu müssen. Gott versteht uns, denn er hat uns selber besucht. Genau darum geht es jetzt wieder in der Adventszeit, dass wir über dieses Wunder der Ankunft Gottes in unserer Welt in einem Kind in einer Futterkrippe staunen. Und eben darum brauchen wir nicht stumm zu bleiben, dürfen singen auch angesichts all dessen, was uns erst einmal die Sprache zu verschlagen droht.

II.
Als damals die beiden Reporter in jenes Asylbewerberheim gezogen waren, kehrten sie am Ende von dort ziemlich ratlos, ja einfach nur erschüttert wieder in ihre Wohnung zurück: Was sollten sie gegen das, was sie dort erfahren hatten, unternehmen? Sie konnten doch nichts daran ändern, konnten höchstens mit ihrem Film dazu beitragen, dass sich langfristig vielleicht ein Bewusstseinswandel in unserem Land vollzieht.

Mit Gottes Besuch bei uns, in unserer Welt, verhält es sich anders. Gott ist nicht am Ende einfach nur ratlos wieder aus dieser Welt ausgezogen und hat uns nach den Erfahrungen, die er bei uns gemacht hat, wieder selber unserem Schicksal überlassen. Sondern sein Besuch hat tatsächlich etwas ganz Grundlegendes in unserem Leben verändert, betrifft auch uns, zweitausend Jahre, nachdem er seinen Besuch damals im Heiligen Land durchgeführt hatte, immer noch ganz direkt.

Gott hat am Ende seines Besuchs bei uns nicht resigniert; sondern er hat es hell werden lassen bei uns, die wir sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, wie Zacharias es hier so eindrücklich formuliert. Er hat uns in der Auferstehung Jesu Christi einen Weg gebahnt, der nach vorne führt, ins Licht des ewigen Lebens. Auch wenn du angesichts dessen, was du in deinem Leben und in dieser Welt erfährst, am liebsten nur noch verstummen möchtest: Gott lässt dich nicht allein in der Finsternis sitzen. Nein, noch ist es nicht so weit, dass er die Finsternis aus deinem Leben ganz verschwinden lässt, dass du nur noch Licht und Freude und Glück erfährst. Aber er leuchtet dir mit seinem Licht voran in der Finsternis deines Lebens. Genau darum geht es in jedem Gottesdienst, dass du eben dies erfährst: Du bist nicht allein, Gott spricht dich an in seinem Wort, er lässt es hell werden in deinem Leben, wenn Christus selber mit seinem Leib und Blut in dir Wohnung nimmt. Und du darfst gewiss sein: Der Weg, den Gott dir hier weist, der führt dem Licht entgegen, dem ganz großen Sonnenaufgang, dem einmal kein Abend mehr folgen wird. Der, dessen Ankunft wir in diesen Wochen bedenken, ist und bleibt das Licht der Welt, ist in deiner Taufe auch das Licht deines Lebens geworden.

Schwestern und Brüder: In diesen Tagen sehen wir nun wieder überall Lichterketten leuchten, mögen wir uns erfreuen an der festlichen Illumination, die die langen dunklen Abende im Dezember zu erhellen vermag. Doch leider kennen die meisten Menschen gar nicht mehr den eigentlichen Sinn dieser adventlichen Beleuchtung: Sie sollte doch eigentlich an den erinnern, den Zacharias hier besingt, an Christus, das aufgehende Licht aus der Höhe, das denen erscheint, die in Finsternis und Schatten des Todes sitzen. Mögen wenigstens wir uns durch jede Lichterkette und jede Kerze, die wir in diesen Wochen sehen, immer wieder daran erinnern lassen: Wir wissen, wer der ist, der unser Leben hell macht, der uns nicht bloß stumm irgendwelchem vorweihnachtlichen Gedudel zuhören lässt, sondern uns selber singen lässt: ihn, Christus, das aufgehende Licht, das aus der Höhe zu uns herabgekommen ist, damit wir uns alle miteinander einmal noch viel mehr freuen werden als der Zacharias damals, damit wir einmal nur noch strahlen werden vor Freude.

Hören wir darum gerade jetzt in diesen Wochen der Adventszeit besonders aufmerksam auf Gottes Wort, lassen wir uns dadurch wie Zacharias erfüllen mit dem Heiligen Geist! Dann werden auch wir den Mund nicht halten können, sondern auch den bezeugen, der uns tatsächlich besucht hat, damit es bei uns nicht finster bleibt: ihn, Christus, den Herrn, den Allerhöchsten. Amen.