11.11.2012 | Hiob 14,1-6 | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Könnt ihr euch das vorstellen, wie das ist, wenn man mit einem Mal all das nicht mehr hat, was einem bisher so wichtig war? Könnt ihr euch das vorstellen, wie das ist, wenn man mit einem Mal ohne Familie dasteht, ohne Beruf, ohne Wohnung, wenn einem nicht mehr geblieben ist als das nackte Leben – und selbst das nur in eingeschränkter Form, weil der Körper kaputt, geschunden, verletzt ist?

Der Hiob, der in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags zu Wort kommt, der hat genau diese Erfahrung gemacht, und eben diese Erfahrung, die spiegelt sich wider in den Worten, die aus seinem Munde kommen, in Worten, in denen Hiob die Vergänglichkeit des Menschen beschreibt, ja mehr noch, wie unerträglich es ist, Gott hinter all dem zu ahnen und zu wissen, was man da hinter sich hat. Verständlich ist es, dass Hiob nur noch einen Wunsch, nur noch eine Bitte hat: dass Gott ihn endlich in Ruhe lassen möge, dass er ihn nicht noch weiter spüren lasse, wozu er, Gott, in der Lage ist, was er Menschen anzutun vermag.

Könnt ihr euch das vorstellen, wie das ist, wenn einem mit einem Mal all das genommen wird, was einem bisher wichtig war, was bisher das Leben ausgemacht hatte? Ja, das können sich in der Tat nicht wenige derer vorstellen, die heute Vormittag hier in der Kirche sitzen. Einen guten Beruf hatten sie, eine Wohnung hatten sie, vielleicht sogar ein eigenes Haus, Freunde, Familie, ein gutes Leben. Doch dann gerieten sie mit einem Mal in die Fänge der Staatsmacht, der Geheimpolizei, und die nahm ihnen dies alles, nahm ihnen oft genug auch die Gesundheit, ließ sie am Ende zurück mit tiefen Narben in der Seele und nicht selten auch am Körper. Ja, sie haben es im eigenen Leben, haben es bei Freunden und Bekannten in ihrer Umgebung sehr unmittelbar erfahren, was Hiob hier beschreibt: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“

Doch es bleibt eben nicht bei dieser bitteren Beschreibung dessen, wie vergänglich wir Menschen sind. Da tritt sie ganz von selbst auf den Plan, die Frage danach, was das denn für ein Gott ist, der Menschen so etwas erfahren lässt. Nein, Hiob klagt hier nicht darüber, wo Gott denn bloß in seinem Unglück geblieben sei, warum er denn so fern sei. Im Gegenteil: Hiob klagt hier über Gottes Nähe, klagt darüber, dass er es gerade nicht ertragen kann, dass Gott in dem, was er da in seinem Leben erfährt, so intensiv auf ihn eindringt. Ach, was wäre das schön, ein Leben ohne Gott führen zu können, von ihm endlich in Ruhe gelassen zu werden, bis man sich im Tod endgültig dem Zugriff Gottes entziehen kann!

Ja, was ist das für ein Gott, an den wir da eigentlich glauben sollen? Genau das ist eine Frage, die sich heutzutage im Iran so viele junge Menschen stellen. Der Gott, den sie kennengelernt haben, an den sie gezwungen werden sollen zu glauben, ist kein Gott, den man lieben kann, noch nicht einmal ein Gott, den man auch nur verstehen kann. Und so versuchen nicht wenige in der Tat genau das, was Hiob hier als letzten Gedanken äußert: Sie ziehen sich zumindest innerlich von diesem Gott zurück, ziehen sich zurück ins Private, versuchen irgendwie ihre paar Lebensjahre, die ihnen bleiben, so gut zu verbringen, wie ihnen das unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Diejenigen, die heute Morgen hier bei uns in der Kirche sitzen, sind einen anderen Weg gegangen. Gewiss, von einem Gott, der ihnen nur wie eine Fratze erscheint, wollten auch sie nichts mehr wissen. Doch sie haben sich eben nicht damit begnügt, sich zurückzuziehen, mit dem Glauben an Gott abzuschließen. Viele von ihnen haben schon im Iran diese wunderbare Botschaft vernommen, dass wir Gott nicht einfach bloß aus dem zu erschließen brauchen, was wir in unserem Leben erfahren, dass wir uns nicht damit zu begnügen brauchen, Gottes Nähe als Bedrohung unseres Lebens zu empfinden. Gehört haben sie die wunderbare Botschaft, dass Gott noch einmal auf eine ganz andere Weise uns Menschen nahegekommen ist, so, dass er selber Mensch geworden ist, von einer Frau geboren im Stall von Bethlehem. Gehört haben sie die wunderbare Botschaft, dass Gott nicht dazu uns nahegekommen ist, um uns zu richten und zu verurteilen, uns vielleicht gar in der Hölle braten zu lassen, sondern um uns ein neues Leben zu schenken, das nicht wie eine Blume aufgeht und bald danach wieder verblüht. Gehört haben sie die wunderbare Botschaft, dass Gott dazu Mensch geworden ist, um die Konsequenzen unserer Schuld, unserer Unreinheit selber auf sich zu nehmen, damit wir sie nicht länger zu ertragen brauchen. Ja, gehört haben sie die Botschaft von dem liebenden und leidenden Gott, der sie versteht in ihrem Leid, der sie anblickt voller Liebe, dass sie sich nicht länger wünschen müssen, er möge doch so schnell wie möglich von ihnen wegblicken.

Das war eine so ganz andere Botschaft als die, die sie bisher kannten, eine ganz andere Botschaft als die, die sie aus ihrem eigenen Lebensgeschick erschließen konnten. Und diese Botschaft hat sie so angerührt, dass viele unserer heutigen Täuflinge in der Tat schon im Iran alles riskiert haben, was sie hatten: ihre berufliche und persönliche Existenz, ihre Gesundheit, ja, ihr Leben, nur um mehr von diesem liebenden Gott zu erfahren, nur um auch anderen diese froh machende Botschaft von dem Sohn Gottes, der für uns am Kreuz gestorben ist, nahezubringen.

Menschlich gesprochen haben sie fast alles verloren, mögen aus der Sicht derer, die nur ein paar nette Jahre und Jahrzehnte hier auf Erden verbringen möchten, geradezu verrückt erscheinen. Doch sie selber wissen es besser, bezeugen es mit ihrer Taufe, dass sie durch Jesus Christus unendlich mehr gewonnen als verloren haben. Ja, genau das hat Christus ihnen doch heute in ihrer Taufe geschenkt: ein neues, unvergängliches Leben, das bleibt, das Bestand hat, nicht einfach verschwindet wie ein Schatten. Genau das hat Christus ihnen doch heute in ihrer Taufe geschenkt: die Vergebung all ihrer Schuld, dass sie ganz rein dastehen vor Gott. Genau das hat Christus ihnen doch heute in ihrer Taufe geschenkt: dieses neue Verhältnis zu Gott, den sie nun als ihren Vater erkennen und anrufen dürfen. Ja, genau das hat Christus ihnen doch heute in ihrer Taufe geschenkt: seinen Heiligen Geist, der ihnen den Mut schenkt, für ihren Herrn auch öffentlich einzustehen, auch wenn sie dafür in ihrer Heimat mit dem heutigen Tag nunmehr die Todesstrafe riskieren.

Ja, genau das bezeugen uns unsere Täuflinge heute: Ruhe finden wir in unserem Leben gerade nicht dadurch, dass wir meinen, ohne Gott auszukommen, dass wir uns von ihm ablenken. Ruhe finden wir im Gegenteil gerade da, wo wir uns von ihm in die Arme schließen lassen, wo er uns begegnet in seinem Sohn Jesus Christus. Das hilft uns, auch all das Schwere zu ertragen, was wir in unserem Leben erfahren müssen, das hilft uns, auch das zu tragen, dass da in unserem Leben manches unwiderruflich kaputt gegangen ist. Unser irdisches Zuhause, das kann man uns rauben; doch unser Zuhause bei Gott, das bleibt, das verlieren wir auch und gerade dann nicht, wenn unsere Lebenszeit hier auf Erden zu Ende geht, vielleicht schon früher, als wir dies uns wünschen mögen.

Schwestern und Brüder: Es ist gut und wichtig, dass wir die Worte Hiobs in der Heiligen Schrift finden, dass er so radikal von unserem menschlichen Leid, unserer menschlichen Vergänglichkeit spricht und von den Fragen, die diese Erfahrung bei uns auslöst. Doch wie gut ist es erst zu wissen, dass da tatsächlich ein Reiner inmitten all der Unreinen geboren ist, Christus, unser Herr, dass wir die Botschaft von seinem Tod und seiner Auferstehung in der Heiligen Schrift finden! Diese Botschaft schenkt uns Mut, und wie! Ja, wie gut, dass uns eben dies unsere heutigen Täuflinge mit ihrem Lebensgeschick, ja, mit ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus so eindrücklich bezeugen! Amen.