04.11.2012 | Römer 7,14-25a | 22. Sonntag nach Trinitatis

Es war der 10. Mai 1933. Um einen großen Scheiterhaufen auf dem Opernplatz in Berlin, dem heutigen Bebelplatz, standen nationalsozialistisch gesinnte Studenten und warfen nach einer zuvor festgelegten feierlichen Liturgie die Schriften missliebiger Autoren in die Flammen. Nach Heinrich Mann und Ernst Kästner war schließlich auch Sigmund Freud dran: Ein Rufer deklamierte: „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud.“

Nein, das konnten und wollten sie nicht ertragen, diese Kleingeister am Scheiterhaufen, dass Sigmund Freud es gewagt hatte, davon zu reden, dass der Mensch nicht einfach von dem gesteuert wird, was er für seine Entscheidungen, für seinen Willen hält, sondern dass sich da unter der Oberfläche dessen, was wir zunächst einmal von einem Menschen, ja auch von uns selber wahrnehmen mögen, Abgründe auftun, die es einem in der Tat schwer machen, noch von einem Adel der menschlichen Seele zu sprechen.

Nun muss man nicht unbedingt alle Theorien von Sigmund Freud gutheißen und für richtig halten. Doch ihm gebührt allemal das Verdienst, uns dafür sensibel gemacht zu haben, dass der Mensch in der Tat nicht einfach von seinem Verstand oder seiner edlen deutschen Seele geleitet wird, sondern dass es da völlig andere Kräfte gibt, die ihn bestimmen und leiten, ihn ganz anders handeln lassen, als es seine Vernunft zunächst einmal empfehlen würde. Wie schnell Menschen der Verstand in den Unterleib zu rutschen vermag, ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Selbst wenn an dieser Stelle nicht unbedingt unsere Probleme liegen sollten, kennen wir das doch möglicherweise auch von uns selber, dass wir in bestimmten Situationen völlig anders reagieren, als unser Verstand dies zunächst einmal nahelegen würde, mögen wir uns selber überhaupt nicht verstehen, warum wir uns so verhalten, wie wir uns tatsächlich in der betreffenden Situation verhalten haben. Wieso sind wir mit einem Mal so ausgetickt? Warum waren wir so blind und haben einfach nicht wahrgenommen, was wir doch eigentlich sofort hätten wahrnehmen müssen?

Dass wir in unserem Handeln nicht frei sind, sondern bestimmt und beherrscht werden psychodynamischen Prozessen, können wir ein Stück weit mit etwas Nachdenken bei uns selber erkennen, können uns die eine oder andere Reaktion dann auch selber erklären. Doch davor, noch tiefer in uns hineinzublicken, um wahrzunehmen, was sich da sonst noch so alles in uns verbirgt, mögen wir dann doch verständlicherweise zurückschrecken. Denn wenn wir immer tiefer in unser Inneres, in unsere angeblich so adlige Seele eindringen, werden wir eben gerade nicht auf einen göttlichen Seelenfunken stoßen, sondern vielmehr finstere Bereiche entdecken, die wir wahrscheinlich so genau gar nicht kennenlernen möchten. Gewiss ist dies bei manchen Menschen notwendig, dass sie diesen schmerzlichen Weg in ihr Inneres, in finstere Bereiche antreten, um auf diesem Weg sich selber verstehen und damit wieder lebensfähig werden zu können. Doch heutzutage geht man auch in der Psychiatrie davon aus, dass es in der Mehrzahl der Fälle nicht nötig oder gar schädlich wäre, diese Abgründe der Seele mit den Patienten aufzusuchen. Das führt nämlich in vielen Fällen gar nicht zur Heilung, sondern lähmt nicht selten die Betreffenden erst recht.

Wir merken schon: Mit einem Wurf von Büchern ins Feuer können wir uns der Einsichten nicht entledigen, dass wir Menschen gerade nicht freie Wesen sind, die nur den Adel ihrer Seele zum Zuge kommen lassen müssen, sondern dass wir oft genug Spielbälle von wenig gemeinschaftsdienlichen Trieben, Traumata und Ängsten sind, die uns viel mehr bestimmen, als uns dies zunächst einmal bewusst ist.

So ganz neu sind diese Einsichten im Übrigen auch nicht. Wenn jene nationalsozialistischen Studenten noch konsequenter gewesen wären, dann hätten sie bei dieser Bücherverbrennung auf dem Opernplatz auch gleich alle Bibeln mitverbrennen müssen, wie es heute ihre geistigen Nachkommen im Iran ja auch tatsächlich zu tun pflegen. Ja, eine solche Bücherverbrennung wäre eigentlich nur konsequent gewesen, denn die Bibel ist in der Tat ein durch und durch jüdisches Buch, verfasst von lauter jüdischen Schriftstellern, geprägt von jüdischem Denken. Und was der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung von sich gibt, hat mit dem Adel der menschlichen Seele in der Tat auch nicht viel zu tun. Ja, auch Paulus wagt es, mal unter die Oberfläche unserer bürgerlichen Wohlanständigkeit zu schauen – und blickt dabei ebenfalls in Abgründe, die uns auf der einen Seite gewiss nicht unbekannt sind und uns zugleich doch, je länger wir darüber nachdenken, immer mehr erschrecken lassen mögen.

Ja, Paulus weiß sehr wohl, dass es in uns Menschen so etwas wie einen guten Trieb gibt. Männer sind nicht immer nur Schweine, Frauen auch nicht. Es gibt so etwas wie menschlichen Anstand, die Bereitschaft, etwas Gutes zu wollen für sich und für andere, ja, auch die Einsicht, was nach Gottes Willen gut für uns selber und für andere wäre. Nur weil ein Mensch nicht an Christus glaubt, braucht er nicht ein schlechter Mensch zu sein, vielleicht gar ein moralisches Ungeheuer. Auch wenn wir Menschen längst nicht mehr die sind, die wir nach Gottes Willen ursprünglich einmal sein sollten, ist auch nach unserer Abwendung von Gott so viel an uns und in uns immer noch übriggeblieben, dass wir Menschen in einer Gesellschaft zusammenleben zu können, ohne dass nun gleich dauernd einer den anderen totschlägt. Wie dünn allerdings das Eis ist, auf dem wir uns da bewegen, haben gerade in der vorletzten Woche die entsetzlichen Ereignisse auf dem Berliner Alexanderplatz deutlich gemacht.

Ja, wir haben eine Ahnung in uns, was gut ist – und wir ahnen von daher auch, dass das, was Gott uns beispielsweise in den Zehn Geboten sagt, gut ist. Um zu wissen, dass es nicht gut ist, zu töten, muss ich nicht erst in den Konfirmandenunterricht gehen. Das ist auch einem Nichtchristen erst einmal klar – und es ist umso erschütternder, wenn Menschen diese Grenzziehungen, um die sie doch eigentlich wissen müssten, dennoch immer wieder so leichtfertig überschreiten.

Doch Paulus fährt fort: Dass wir ein ganzes Stück weit darum wissen, was gut und richtig ist, ja, dass wir dieses Gute vielleicht sogar wollen, nützt uns am Ende doch herzlich wenig. Denn in uns steckt eben auch dieser andere Trieb, der uns gerade nicht tun lässt, was gut ist, sondern uns genau anders handeln lässt, als wir es von unserer Vernunft her eigentlich wollen. Es ist gerade nicht so, dass in uns zwei gleich starke Triebe stecken würden – ein guter und ein böser Trieb – und dass es jetzt nur darauf ankäme, den guten Trieb so weit zu stärken, dass er den bösen in Schach hält. Sondern dieser Trieb, der mich gerade nicht tun lässt, was nach meinem eigenen Wissen eigentlich gut wäre, der ist so viel stärker, dass mein guter Wille gegen ihn keine Chance hat. Vom „Fleisch“ redet der Apostel Paulus hier – und damit meint er jetzt nicht bloß unseren Körper, als ob es nur darum ginge, mit unserem Geist unsere körperlichen Triebe halbwegs zu kontrollieren. Sondern mit dem Wort „Fleisch“ beschreibt der Apostel Paulus den Gesamtzustand von uns Menschen, seit wir uns von Gott abgewandt haben, und dieser Gesamtzustand, der betrifft unseren Körper, unsere Seele, ja auch unseren Geist in gleicher Weise. Wir stehen nicht bloß in der Versuchung, uns von Gottes gutem Willen abzuwenden, sondern dieses Verlangen, ohne Gott auskommen zu wollen, besser zu wissen, was für uns gut ist, als was Gottes Wort sagt, das steckt so tief in uns drin, dass wir dagegen von uns aus noch nicht einmal ansatzweise ankommen.

Und was das bedeutet, das beschreibt der Apostel hier mit einer Klarheit und Tiefe, die so modern klingt, dass wir staunen, dass diese Worte schon vor fast 2000 Jahren aufgeschrieben worden sind: „Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.“ Man könnte das jetzt sehr schön plakativ beispielsweise an dem Verhalten von Süchtigen erläutern, die genau wissen, wie sie sich damit schaden, dass sie sich ihrer Sucht hingeben, und es doch tun. Aber letztlich ist das, was Paulus hier beschreibt, ja genau das, was wir Sonntag für Sonntag Gott in der Beichte bekennen müssen und tatsächlich auch bekennen: Herr, ich wusste es eigentlich genau, dass ich es nicht wieder machen sollte. Ich hatte es dir das letzte Mal doch auch so fest versprochen. Aber kaum war ich aus der Kirche draußen, ging es dann doch wieder los, habe ich wieder getan, was ich nicht wollte, ja, was ich eigentlich doch hasse. Ja, da steckt so viel in mir drin, was ich nicht in den Griff bekomme. Nein, das soll und darf keine Ausrede sein, ich bin dafür verantwortlich – und doch merke ich dieses Gesetz in mir, wie Paulus es hier nennt, das stärker ist als mein guter Wille. Dagegen komme ich einfach nicht an: Da müssen nur ein paar Freunde von mir zusammen sein, und schon beteilige ich mich wieder am Tratsch. Da muss nur die Aussicht da sein, dass ich an Geld herankomme, und schon setzt bei mir da oben etwas aus, was mich davon abhalten könnte, das mit der Ehrlichkeit nicht so genau zu nehmen. Da muss mir ein anderer nur etwas blöde kommen, und schon ist es mit meiner christlichen Nächstenliebe wieder vorbei!

Schwestern und Brüder: Nun rede ich hier ganz selbstverständlich davon, als ob die Situation, die der Apostel Paulus hier in unserer heutigen Predigtlesung beschreibt, tatsächlich auch die Situation, der Zustand des getauften Christen ist. Doch ob Paulus dies so meint, darüber streiten die Ausleger der Heiligen Schrift schon über viele hundert Jahre. Martin Luther hat unsere heutige Predigtlesung als einen besonders wichtigen Beleg dafür angesehen, dass es tatsächlich stimmt, dass der Mensch simul iustus et peccator, gerecht und Sünder zugleich, ist. Heute verweisen viele Ausleger darauf, dass Paulus die Situation eines Christen im nächsten Kapitel des Römerbriefs doch ganz anders schildert, sodass er mit dem, was wir hier in unserer Predigtlesung gehört haben, nur die Lage eines Menschen ohne Christus meinen kann.

Es lohnt sich also, noch einmal genau hinzuschauen. Dann stellen wir fest: Paulus redet hier zunächst einmal ganz gewiss nicht bloß von sich selber, als ob er vielleicht ein völlig verquerer Typ wäre im Unterschied zu den allermeisten normalen Menschen. Sondern wenn Paulus hier „ich“ sagt, dann redet er genauso von mir und von dir, von uns allen. Und er redet von uns in der Gegenwart. Er blickt nicht zurück und sagt: Ja, vor meiner Bekehrung, da war ich ein schlechter Mensch. Aber jetzt ist alles ganz anders, jetzt liegt die Sünde in meinem Leben endgültig hinter mir! Nein, die ist immer noch da; auch die ganzen Abgründe in mir, die mich immer wieder anders handeln lassen, als ich dies eigentlich möchte, sind noch da, sind nicht einfach verschwunden.

Und doch endet unsere heutige Predigtlesung mit einem ganz erleichterten Aufatmen: Gott sei Dank! – So schreibt es der Apostel. Gott sei Dank, dass es da in meinem Leben eine entscheidende Veränderung gegeben hat. Denn ich lebe nun „in Christus Jesus“, wie Paulus es im nächsten Vers formuliert. Mein ganzes verqueres Leben, mit dem ich keine Chance hätte, einmal vor Gott in seinem Gericht zu bestehen, das ist nun eingehüllt in Christus, sodass Gott, wenn er auf mich und mein Leben schaut, eben nicht mehr auf die Abgründe blickt, die mich immer wieder so ganz und gar gegen Gottes Willen handeln lassen, sondern auf seinen Sohn Jesus Christus, auf das, was er für mich getan hat. Gott sei Dank, dass ich in Gottes Augen nicht mehr bloß der bin, der dies oder jenes getan hat oder tut, sondern dass ich in Gottes Augen „in Christus“ bin, und damit richtig und gut, weil Christus alles richtig und gut gemacht hat, weil er meine Schuld und Versagen mit all den Folgen auf sich genommen hat! Und Gott sei Dank, dass sich das auch in meinem Leben auswirkt, dass ich in Christus bin, mit ihm verbunden bin! Ich selber komme gegen das, was Paulus hier „Fleisch“ nennt, nicht an. Aber Christus, der kämpft in mir dagegen an, hilft mir auch schon hier und jetzt in meinem Leben, anders leben zu können, als mir dies möglich wäre, wenn ich diesem Fleisch hilflos ausgeliefert wäre. Jetzt, wo ich getauft bin, jetzt, wo Christus mit seinem Leib und Blut in mir lebt, bin ich nicht mehr einfach unter die Sünde verkauft. Ich bin erlöst, freigekauft von Christus, habe ihn nun als Herrscher in meinem Leben. Solange ich hier auf Erden lebe, würde Siegmund Freud noch weiter so manche seiner Theorien an mir bestätigen können. Doch Christus, der vermag an mir zugleich unendlich mehr, als auch der beste Therapeut jemals an mir vollbringen könnte. Der hilft mir nicht bloß, gegen die Triebe anzugehen, die mich selbst und andere kaputtmachen, sondern der heilt mich viel grundlegender, vergibt mir und schenkt mir ein Leben, das nicht davon abhängig ist, was für eine Erfolgsquote ich in meinen Kämpfen mit dem Bösen, das in mir wohnt, habe. Um dieses Jesus Christus willen kann ich meiner Schuld und meinem Versagen, kann ich sogar den Abgründen in mir ins Auge blicken, weil ich eben nicht die Illusion eines Adels der menschlichen Seele aufrechterhalten muss. Geadelt hat mich ein anderer, Christus selber, hat mich zu einem Königskind gemacht in der Taufe, hat mich erlöst und gerettet. Und da bleibt auch mir nur, mit Paulus aufzuatmen und mit ihm auszurufen: Gott sei Dank – durch Jesus Christus, unsern Herrn! Amen.