08.07.2012 | 1. Mose 12,1-4a | 5. Sonntag nach Trinitatis

Der Abraham hatte damals noch kein Handy, mit dem er seine Familie aus dem Nachbarland hätte anrufen können. Er konnte mit seiner Familie auch nicht skypen. Selbst briefliche Mitteilungen waren kaum möglich, da die Postbriefkästen in der Wüste nur sehr selten zu finden waren. Abraham hatte auch kein Google Earth oder Bing Maps, womit er sich vorher schon einmal das Ziel seiner Reise hätte anschauen können, und er besaß auch keinen funktionierenden Navi. Wenn Gott ihn aufforderte, sein Vaterland, seine Verwandtschaft, sein Vaterhaus zu verlassen, dann bedeutete dies in der Tat nicht weniger als die Preisgabe aller sozialen Bezüge, die Abraham bisher besaß, bedeutete dies in der Tat einen endgültigen Abschied von all dem, was ihn und seine Frau bisher getragen hatte, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte. Ja, bei den beiden ging es in der Tat um nicht weniger als um ihre Existenz: Alt geworden waren die beiden, hatten keine Kinder, die sich um sie nun im Alter hätten kümmern können, die gleichsam ihre Altersvorsorge, ihre Rentenversicherung hätten sein können. Umso wichtiger war sie doch für die beiden, die Verwandtschaft, die vertraute Umgebung. Absoluter Wahnsinn war es, diese Umgebung ausgerechnet jetzt, wo sie alt geworden waren, zu verlassen, ohne jede Absicherung, ohne irgendeine erkennbare neue Perspektive. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause“ – Nein, was Gott da von Abraham erwartete, das hatte nichts mit Abenteuerlust zu tun, auch nichts mit Hermann Hesses berühmtem Diktum, wonach jedem Anfang ein Zauber innewohnt, der uns beschützt und der uns hilft zu leben, erst recht nichts mit einem Tapetenwechsel, der von Zeit zu Zeit einfach mal ansteht. Das war menschlich gesprochen einfach nur irrsinnig.

Wie schwer es ist, das Vaterland, das vertraute Zuhause endgültig zurücklassen, davon konnten und können auch viele Glieder unserer Gemeinde so einiges berichten und erzählen. Ich denke an die Gemeindeglieder, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, beispielsweise etwa an die Urgroßmutter unseres heutigen Täuflings, die ihre geliebte Heimat Schlesien, ihr geliebtes Breslau zurücklassen musste. Solches Zurücklassen tut richtig weh, schmerzt viele noch Jahrzehnte später, ja ein ganzes Leben lang. Ich denke an die vielen Übersiedler aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion in unserer Gemeinde, deren Herz bis heute an dem Land ihrer Geburt hängt. Und da gibt es so viele in unserer Gemeinde, die genau diese Erfahrung des Abraham gerade jetzt in den letzten Monaten und Jahren hinter sich haben: mit einem Mal die Heimat, das Vaterland verlassen zu müssen, oftmals kaum noch Zeit zu haben, Abschied nehmen zu können von der Verwandtschaft, zu wissen, dass man das Vaterhaus, die Eltern, die Geschwister auf unbestimmte Zeit oder überhaupt nicht mehr wird wiedersehen können, loszuziehen in eine unbekannte Zukunft, in der es das vertraute Leben mit all den Absicherungen, die man bisher hatte, nicht mehr geben würde. Solche Erfahrungen schüttelt man nicht einfach ab, die prägen, die schmerzen, die kann man auch nach Jahren nicht einfach hinter sich lassen, die bleiben für viele eine offene, nicht heilende Wunde in ihrem Leben.

Doch es gibt natürlich einen wichtigen Unterschied zwischen der Erfahrung Abrahams und den Erfahrungen von Vertriebenen und Flüchtlingen heutzutage: Abraham wurde nicht durch äußere Umstände dazu veranlasst, seine Heimat, seine Verwandtschaft, sein Vaterhaus zurückzulassen. Er hörte den Ruf Gottes und folgte ihm, weil er fest darauf vertraute, dass dies gut für ihn war. Wenn Menschen heute infolge eines Krieges oder wegen eines verbrecherischen Regimes ihre Heimat, ihre Verwandtschaft verlassen, dann kann man diese Flucht nicht so einfach als Gehorsam gegenüber Gottes Ruf verstehen, dann folgen diese Menschen nicht einfach einem Versprechen Gottes, das ihnen Besseres verspricht, als was sie bisher erfahren hatten, dann trägt diese Flucht nicht automatisch eine Segensverheißung in sich, dann ist solch eine Flucht oft genug, menschlich gesprochen, einfach nur eine Tragödie.

Doch was uns hier in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags geschildert wird, ist eben gerade keine traurige Geschichte, keine Geschichte, die uns nur voller Mitleid für die Beteiligten zurücklässt. Im Gegenteil: Es ist eine Mutmachgeschichte, die auch uns zu stärken, ja geradezu mitzureißen vermag.

Wie gesagt, der Abraham musste nicht aus seiner Heimatstadt fliehen, in der er sich gemeinsam mit seiner Frau Sara schon aufs Altenteil begeben hatte. Was ihn dennoch dazu veranlasste, loszuziehen in eine ihm unbekannte Zukunft, in ein ihm unbekanntes Land, war einzig und allein das große Versprechen, das Gott ihm vor Augen hielt. Nicht preußisches Pflichtbewusstsein war es, das Abraham dazu bewog, sich auf Gottes Ruf hin auf den Weg zu begeben, kein Kadavergehorsam und erst recht keine masochistische Neigung. Sondern Abraham staunt, staunt über die großartige Zukunft, die Gott ihm da verspricht und vor Augen stellt: Er, der kinderlose Greis, soll der Vater eines großen Volkes werden, soll also tatsächlich noch ein Kind bekommen, aus dem dieses große Volk einmal erwachsen wird. Gesegnet werden soll Abraham, wenn er sich auf Gottes Ruf hin auf den Weg begibt, soll ausgestattet werden mit göttlicher Lebensfülle. An ihn, dessen Name ohne Nachkommen doch bald schon aus der Erinnerung der Menschen zu verschwinden droht, sollen selbst in ferner Zukunft noch unzählig viele Menschen denken, sollen seinen Namen immer wieder nennen, ja, er selber, Abraham, soll zu einem Segen für viele andere werden: Wer mit Berufung auf seinen Namen Gott lobt, der wird von Gott selber gesegnet werden. Ja, mehr noch: In ihm, Abraham, sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Von ihm, dem alten, kinderlosen Mann, soll ein Segen ausgehen, der alle Menschen erreichen wird, der von Haran nicht allein bis Israel, sondern bis nach Deutschland, nach Sibirien, in die Mongolei, nach Afghanistan und in den Iran, nach China, Südafrika und nach Amerika reichen wird. Was für ein Versprechen, was für eine Zukunftsperspektive! Da erscheint dann auch das vertraute Zuhause noch einmal in einem ganz anderen Licht, wird mit einem Mal so klein und unwichtig im Vergleich zu dem, was Abraham in dem Land, das Gott ihm zeigt, erwartet.

Gewiss, für das, was Gott Abraham hier verspricht, liefert er ihm keinen Beweis. Sein Wort, sein Versprechen, seine Zusage, sie mussten Abraham damals genügen. Doch Abraham wusste: Auf Gottes Wort kann ich mich verlassen; wenn der etwas für die Zukunft verspricht, dann gilt das ebenso gewiss wie das, was ich jetzt schon in der Gegenwart wahrnehme und erfahre.

Und so zog er los, angezogen und fasziniert von Gottes großartigem Versprechen. Ja, wie gut, dass er dies getan hat, dass Gott ihn mit seinen Verheißungen so überwältigt hat, denn sonst würden wir heute Morgen nicht hier in der Kirche sitzen, sonst würden wir heute nicht auch von dem profitieren, was Gott damals dem Abraham in Haran versprochen hatte! Wir wissen heute: Gott hat die Versprechen gehalten, mit denen er einst Abraham in das ihm unbekannte Land gelockt hatte: Abraham wurde auf seine alten Tage doch noch ein Sohn geschenkt, aus dem schließlich das Volk Israel erwachsen ist. Noch fast 4000 Jahre später ist Abrahams Name in aller Munde, wird seiner von Juden und Christen und darüber hinaus auch von vielen anderen gedacht. Was für ein Segen ist von Abraham und dem Volk, das aus ihm entstanden ist, in alle Welt ausgegangen! Ja, Gott hat auch sein größtes Versprechen wahrgemacht, dass in ihm, Abraham, schließlich alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Ja, wahrgemacht hat Gott dieses Versprechen in dem einen Nachkommen Abrahams, Jesus Christus, durch den in der Tat Menschen aus allen Völkern Heil, Rettung, ewiges Leben empfangen. Dass auch hier in unserer Gemeinde Juden und Nichtjuden, Menschen aus Deutschland und Russland, aus Kasachstan und dem Iran, aus Afghanistan und China, aus Südafrika und Polen, aus den USA und Lettland im Namen des einen Nachkommens Abrahams, Jesus Christus, zusammenkommen und seinen Segen empfangen, ist eine geradezu handgreifliche Illustration dessen, was Gott dem Abraham damals zugesagt hat und was er bis auf den heutigen Tag erfüllt.

Ja, um uns geht es in der Geschichte, die uns hier ganz vorne in der Bibel, im 12. Kapitel des Ersten Mosebuchs, erzählt wird. Um uns geht es hier, um den Segen, um das Leben in der Gemeinschaft mit Gott, das Gott auch für uns schon in der Berufung des Abraham vorgesehen und gestiftet hat. Aber es geht um uns auch noch in einer anderen Weise: Gott ruft auch uns aus dem, was uns so vertraut ist, woran wir uns so sehr gewöhnt haben, in eine neue, unbekannte Zukunft heraus, mutet uns zu, Wege zu beschreiten, die wir nicht kennen, weil er so auch durch uns viele Menschen mit seinem Segen, mit seinem Heil erreichen will.

Verrückt erschien das, was Gott damals dem Abraham zumutete, scheinbar eine völlige Überforderung, unvernünftig allemal: Vertrautes hinter sich zu lassen und einen Weg zu gehen, dessen Ende er noch nicht erkennen konnte. Verrückt erscheint auch das, was Gott uns in unserer Gemeinde zumutet: Sie war doch einmal so schön überschaubar, ein so schön kleiner, vertrauter Kreis. Doch dann ließ Gott auch uns losmarschieren in eine unbekannte Zukunft, ließ uns Wege gehen, deren Ende wir auch jetzt immer noch nicht absehen können. Zurücklassen mussten wir die Vorstellungen von dem kleinen, vertrauten, familiären Kreis, gehen nun einer Zukunft entgegen, in der wir die Erfüllung der Versprechen Gottes an Abraham so direkt in unserer Mitte erfahren. Ja, ich weiß, ich kenne sie, die Stimmen, wie unvernünftig das doch ist, dass wir doch gar nicht wissen, wo das alles noch hinführen soll. Ich kenne sie, die Stimmen, die darauf hinweisen, dass diese Weg ins Ungewisse uns und unsere Gemeinde doch überfordert, dass es doch viel vernünftiger wäre, dort zu bleiben, wo wir einmal waren. Der Abraham, der kannte diese Stimmen, diese Einwände auch genau, und doch marschierte er los, weil Gottes Verheißung für ihn wichtiger war als alle noch so vernünftigen menschlichen Einwände. Und so tun auch wir gut daran, mit unserer Gemeinde weiter fröhlich loszumarschieren, neue Wege zu gehen im Vertrauen auf Gottes Zusage, dass er auch uns gebrauchen kann und will, um andere Menschen mit seinem Segen zu erreichen.

Ja, Gott kann auch und gerade auf schwere Wege, die er uns führt, seinen Segen legen. Genau das bezeugen uns immer wieder auch unsere Schwestern und Brüder, die in den vergangenen Monaten neu in unsere Gemeinde gekommen sind: Vieles haben sie zurücklassen müssen auf ihrem Weg hierher, nicht selten tatsächlich Häuser, Verwandtschaft, Heimat. Und doch, so sagen sie, haben wir dadurch gewonnen, haben das Leben gefunden in Jesus Christus, unserem Herrn. Dass der sie einmal auf ihrem Weg aus der Heimat erwarten würde, dass er zu ihrer neuen Heimat werden würde, das konnten sie bei ihrer Flucht oftmals noch gar nicht absehen. Aber nun erkennen sie ihn, den Segen, den Gott ihnen gerade auf diesem Wege hat zukommen lassen.

Und so wollen auch wir ganz getrost weitermarschieren – dem Ziel entgegen, das wir noch nicht sehen können und das in Wirklichkeit doch noch viel großartiger sein wird als das Ziel, das Gott damals dem Abraham vor Augen gestellt hat: Ankommen sollen wir einmal in einem Land, aus dem wir nie mehr vertrieben werden können, aus dem wir niemals werden flüchten müssen, in einem Land, in dem einmal Menschen aus allen Völkern und Nationen und Sprachen vor dem Thron Gottes und dem Lamm stehen werden und ihn, Christus, preisen werden in alle Ewigkeit. Ja, Gott hat uns das versprochen in unserer Taufe. Und an Abraham können wir erkennen: Gott steht zu seinem Wort. Darum, Schwestern und Brüder: Klammern wir uns ja nicht an das, was gewesen ist; ziehen wir los – hin zum Land, das Gott uns zeigen wird, hin zu seiner neuen Welt! Amen.