01.01.2012 | 2. Korinther 12,9 | Tag der Beschneidung und Namengebung Jesu

Zu den Worten, die viele kleine Kinder schon relativ früh in ihrem Wortschatz führen, gehört, so werden es viele Eltern bestätigen können, zweifelsohne das Wort „selber“. „Selber“ sagt das kleine Kind, wenn es sieht, dass andere etwas machen, was es auch gerne machen würde. „Selber“ sagt es und bringt damit zum Ausdruck: Ich will bestimmen, wo es in meinem Leben langgeht, ich will stark sein, will alles aus eigener Kraft schaffen.

„Selber“ – nicht nur dieses Wort, sondern dieses Denken, diese Lebenshaltung steckt ganz tief in uns Menschen drin, nicht nur in kleinen Kindern, sondern genauso auch dann, wenn die kleinen Kinder größer und älter werden und schließlich längst erwachsen sind.

Selber wollen Jugendliche bestimmen, was sie machen und dürfen und was nicht, wollen sich ihren Freiraum, um Erfahrungen zu sammeln, nicht von anderen eingrenzen lassen. Selber wollen Jugendliche vieles machen, weil sie um ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte wissen oder diese zumindest austesten wollen. Selber wollen wir erst recht als Erwachsene alles machen, wollen uns nicht bevormunden lassen, und genau auf solch einen mündigen Bürger, der möglichst alles selber in die Hand nimmt und nicht andere erledigen lässt, was er selber hätte tun können, setzt auch die Politik. Und selber wollen Menschen gerade auch, wenn sie älter werden, so lange, wie irgend möglich, alles machen, tun sich schwer mit dem Gedanken, von anderen abhängig zu sein, anderen zur Last zu fallen, irgendwann einmal betreut und gepflegt werden zu müssen. Ja, wenn es nach uns ginge, dann würde dieses Wort „selber“ möglichst bis zu unserem letzten Atemzug unser Leben bestimmen.

„Selber“ – Diese Lebenseinstellung prägt ganz selbstverständlich auch uns Christen. Sie ist an sich ja auch nicht falsch oder gar sündhaft; Gott hat uns allen miteinander Gaben gegeben, die wir selber einsetzen sollen und können, hat uns dazu befähigt, Dinge selber zu erledigen, ja, erwartet von uns sogar, dies dann auch selber zu tun. „Selber“ sagte etwa der barmherzige Samariter, schaute nicht weg, rief nicht nach dem Einsatz von wohltätigen Organisationen oder dem Staat, sondern kümmerte sich selber um den, der unter die Räuber gefallen war. Und doch sollen wir als Christen zugleich in unserem Leben einüben, immer wieder auch die Grenzen dieses „Selber“ wahrzunehmen und anzunehmen, zu erkennen, dass wir das wirklich Entscheidende in unserem Leben nicht selber tun können oder sollen. Wir können und sollen nicht selber uns den Himmel verdienen, und wir sollen auch unseren Wert als Menschen eben nicht davon abhängig machen, was wir selber können und tun, ganz gleich ob es um uns selber oder um andere geht. Das wissen wir alle als lutherische Christen eigentlich ganz genau – und doch erfahren wir es in unserem Leben immer wieder, wie sich unser Wunsch nach dem „Selber“ und das, was Inhalt und Kern unseres Glaubens ist, immer wieder aneinander reiben.

Und damit sind wir nun schon ganz dicht dran an der Jahreslosung dieses neuen Jahres 2012. Der Apostel Paulus, der kannte dieses „Selber“ auch nur allzu gut: Selber, so glaubte er in seinem Leben lange Zeit, konnte er sich den Weg in den Himmel mit seinen guten Werken, mit seinem Einsatz für Gott verdienen. Selber, so glaubte er, musste er Gottes Ehre gegenüber denen verteidigen, die behaupteten, Gott habe einen Gotteslästerer, der sich als Gottes Sohn bezeichnete, von den Toten auferweckt und ihm damit Recht gegeben. Selber, selber: Das war sein Motto – bis ihm der auferstandene Christus vor den Stadttoren von Damaskus erschien und ihm sehr eindrücklich klarmachte, dass er, Paulus, selber in die völlig falsche Richtung gelaufen war, dass er sich den Weg zum Himmel nicht selber bahnen konnte, ja, dass er selber von sich aus noch nicht einmal dazu in der Lage war zu sehen oder zu laufen.

Paulus lernte die Lektion, die ihm der auferstandene Christus hier erteilte, sehr schnell, ja, auf der Stelle, und fing daraufhin sofort an, den Menschen zu verkündigen, dass wir uns nicht selber das Heil schaffen können, sondern dass es uns geschenkt wird allein aus Gnade um Christi willen, dass nun nicht mehr das eigene Selber das Entscheidende im Leben ist, sondern allein er, Christus, der auferstandene Herr: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ Doch etwas zu verkündigen und daraus auch im eigenen Leben alle Konsequenzen zu ziehen, war und ist dann doch noch einmal zweierlei:
Auch wenn Paulus die Botschaft von der Gnade Gottes verkündigte, war er zugleich doch auch weiter außerordentlich aktiv, zog durch das halbe Mittelmeergebiet, um möglichst vielen Menschen das Evangelium von Jesus Christus zu predigen. Doch in seiner Aktivität wurde er zugleich immer wieder auf äußerst unschöne Weise gebremst: Von einem „Pfahl im Fleisch“ spricht er in den Versen, die den Worten unserer Jahreslosung vorangehen, von einem „Pfahl im Fleisch“, der ihn so sehr schmerzte und in seinem Einsatz hinderte, dass er ihn auch „des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll“ nennen kann. Was mit diesem „Pfahl im Fleisch“ gemeint ist, wissen wir nicht; Forscher haben sich darüber alle möglichen Gedanken gemacht, ohne zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis zu kommen. Klar ist jedenfalls: Paulus musste mit dieser Einschränkung, mit dieser Behinderung, mit dieser Belastung auf Dauer leben. Dreimal hatte er Christus inständig darum gebeten, diesen „Pfahl im Fleisch“ von ihm zu nehmen; doch Christus reagiert anders, als Paulus selbst sich dies erhofft und dies erbeten hatte: Er befreit ihn nicht von dem „Pfahl im Fleisch“, sondern spricht ihm stattdessen die Worte unserer Jahreslosung zu: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Und so muss Paulus also nun in seinem eigenen Leben, ja im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe durchbuchstabieren, was es heißt, dass nicht nur wir Menschen allgemein, sondern dass auch er ganz persönlich nur ganz aus der Gnade Gottes leben kann, dass er mit seinem „Selber“ nicht mehr weiterkommt.

Pfähle im Fleisch – Schwestern und Brüder, darüber könnten nun auch viele von euch eine ganze Menge erzählen, Pfähle im Fleisch, die uns behindern, einschränken, bedrücken, schmerzen. Das kann beispielsweise die Trauer um einen geliebten Menschen sein, über die wir einfach nicht hinwegkommen. Eigentlich wäre es doch vernünftig, nun allmählich wieder zur Normalität zurückzukehren, so signalisieren es uns auch die Menschen in unserer Umgebung. Doch wir können einfach nicht; die Trauer lähmt uns, nimmt uns gefangen, macht es uns so schwer, wieder ein normales Leben zu führen. Oder das kann eine schwere Schuld sein, die auf uns lastet, ein Versagen mit schlimmen Folgen. Und da können wir uns dann noch so oft unsere Schuld in der Beichte vergeben lassen – wir werden mit den Folgen unseres Versagens in unserem Leben immer wieder konfrontiert, und diese Folgen lähmen uns, drücken uns runter, hindern uns, unser Leben so zu führen, wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Ein Pfahl im Fleisch – das kann beispielsweise auch eine Sucht sein, von der wir in unserem Leben einfach nicht loskommen, das kann aber natürlich auch eine körperliche oder eine psychische Krankheit sein, die unsere Handlungsfähigkeit einschränkt, uns daran hindert, das tatsächlich in unserem Leben ausführen zu können, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten.

Und da mögen wir Christus auch schon so oft angefleht haben, dass er diese Pfähle im Fleisch von uns nehmen möge, mögen vielleicht gar mit ihm regelrecht verhandelt haben: Schau doch her, was ich alles tun könnte, ja, auch für dich tun könnte, wenn du nur diese Last, diesen Pfahl, diese Krankheit von mir nehmen würdest! Ja, Schwestern und Brüder, das kenne ich auch von mir selber nur allzu gut, dieses Gefühl, dass der Herr Christus mich gesund ja wohl doch viel besser brauchen könnte als in mehr oder weniger ramponiertem Zustand. Wieso lässt der mich nicht so loslegen, wie ich will?

Doch die Antwort, die Christus darauf gibt, ist immer dieselbe – es ist die Antwort, die er auch schon dem Paulus damals gegeben hat: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Ein Doppeltes steckt in dieser Antwort:

Zum einen macht uns Christus deutlich: Auch dir erspare ich es in deinem Leben nicht, dass du für dich ganz persönlich erfährst, was es heißt, dass du allein aus Gnaden selig wirst. Das heißt: Letztlich zählt vor Gott eben nicht, was du kannst und leistest, auch nicht, was du in deinem Leben alles geschafft hast. Vor Gott zählt einzig und allein, was er dir schenkt, wozu er dich, vielleicht gerade auch im Leiden, macht. Und wenn du vielleicht doch immer noch am liebsten „Selber, selber, selber!“ rufst – dann mögen dir, und mögen auch mir, vielleicht manche schmerzlichen Erfahrungen nicht erspart bleiben, bis wir soweit sind, dass wir tatsächlich „Christus, Christus, Christus“ und „Gnade, nichts als Gnade“ rufen. Spätestens auf dem Sterbebett werden wir merken, dass wir mit unserem „Selber“ nicht mehr weiterkommen, werden es dann, Gott geb’s, nur noch als Trost erfahren, dass die Gnade Christi wirklich genügt, dass wir nichts Anderes brauchen als ihn und seine Vergebung, sein Erbarmen.
Doch wenn Christus auch uns Pfähle im Fleisch sitzen lässt, dann macht er es gerade nicht, um uns zu quälen und uns kleinzubekommen. Sondern er will gerade da, wo wir am Ende unserer Kräfte sind, wo wir merken, dass wir nicht oder nicht mehr können, seine Kraft zur Geltung bringen. Solange wir selber glauben oder den Eindruck erwecken, wir könnten alles selber, wir hätten in unserem Leben alles im Griff, stehen wir Gott oft nur im Wege, verdecken, was er durch uns tun will. Solange ein Pastor dafür angehimmelt wird, was er angeblich alles kann und tut, ist die Gefahr groß, dass er eher einen Fanclub sammelt, als dass er Werkzeug ist für den Bau der Kirche Jesu Christi. Solange ein Christ vor scheinbarer Glaubensstärke und Zuversicht strotzt, wird er andere, die mit dem Glauben Probleme haben, vielleicht eher entmutigen. Solange ein Christ den Eindruck erweckt, es sei doch möglich, als wahrer Christ einigermaßen vollkommen und sündlos zu leben, mag er auf andere eher abstoßend als einladend wirken. Doch umgekehrt gilt: ein Christ, der seine Schuld und sein Versagen nicht schön redet und vorlebt, was es heißt, ganz auf Gottes Gnade und Vergebung angewiesen zu sein, kann ein ganz starker Zeuge für Christus sein, trotz und geradezu wegen seines Versagens, das immer wie ein Makel an ihm kleben wird. Ein Christ, dem man abspürt, dass er selber immer wieder mit Fragen, Anfechtungen und Zweifeln ringt, und der doch in diesem Fragen und Ringen an Christus festhält, wird für andere, die auf dem Weg zum christlichen Glauben sind und auch alle möglichen Fragen haben, möglicherweise eine große Ermutigung sein. Ein Christ, der selber in seinem Leben durch ganz dunkle Täler gegangen ist und auch weiter immer wieder durch solche Täler hindurch muss, kann anderen Menschen, die Ähnliches durchmachen, ganz anders helfen, kann sie ganz anders verstehen als jemand, der so etwas in seinem Leben nie erfahren hat. Und ein Pastor, dem man seine Pfähle im Fleisch nur allzu deutlich anmerkt, kann womöglich doch viel besser auf den gekreuzigten Christus verweisen als ein Strahlemann, der scheinbar keinerlei Probleme hat.

Auch wenn es mir selber immer wieder so schwerfällt, das Christuswort an Paulus für mich persönlich anzunehmen, erfahre ich doch die Wahrheit dieses Wortes immer wieder von Neuem im Umgang mit anderen Menschen in der Gemeinde, ja, gerade mit den Schwachen, den Behinderten, den Eingeschränkten. Wie viele Predigten haben sie mir schon gehalten, wie oft habe ich an ihnen und durch sie eben dies erfahren, dass Christus gerade in den Schwachen mit seiner Kraft mächtig ist. Ja, wie gut, dass er, Christus, mit dieser seiner Kraft seine Kirche baut – und wie gut, dass er mit dieser seiner Kraft uns alle miteinander in den Himmel bringt! Denn das alles schaffen wir in der Tat niemals – selber. Amen.