15.01.2014 | Josua 3,9-17 | Mittwoch nach dem Fest der Taufe Christi
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Wenn ich mir die Geschichten von so manchem Glied unserer Gemeinde anhöre, dann staune ich immer wieder darüber, wie lange Menschen auf der Flucht sein können: Vier Jahre, fünf Jahre, ja sogar sieben Jahre waren manche unterwegs, haben sich über viele Monate und Jahre irgendwo unterwegs durchgeschlagen, bis sie schließlich hier in Deutschland angekommen sind. Ja, auch wenn die Zeit der Flucht noch so lange war: Sie wussten immer, wo sie hin wollten, haben dieses Ziel niemals aufgegeben, niemals aus den Augen verloren.

Von Flüchtlingen ist auch in der Predigtlesung des heutigen Abends die Rede. Diese Flüchtlinge waren allerdings sogar noch sehr viel länger unterwegs als die Flüchtlinge in unserer Gemeinde: 40 Jahre war es nun schon her, seit sie aus der Sklaverei in Ägypten geflohen waren. Immer noch hatten sie keine feste Unterkunft, immer noch lebten sie in Zelten. Viele von ihnen waren erst in den Jahren der Flucht überhaupt geboren worden, kannten gar keine andere Lebensweise als die eines Flüchtlings in der Wüste. Aber niederlassen wollten sie sich nicht, nicht, solange sie das Ziel ihrer Flucht nicht erreicht hatten. Und nun lag das Ziel ihrer Flucht ja so greifbar vor Augen: Nur noch der Grenzfluss trennte sie von dem gelobten Land; dann waren sie endlich da. Aber was sage ich: „nur noch der Grenzfluss“. Eben davon wissen Flüchtlinge heute auch noch so manches Lied zu singen, was für ein unüberwindliches Hindernis ein Grenzfluss sein kann, ja, wie lebensgefährlich es sein kann, zu versuchen, ihn zu durchqueren. Nun erwarteten die Flüchtlinge damals am Jordan keine Frontex-Soldaten mit Wärmebildkameras auf der anderen Seite des Flusses. Doch das Wasser des Flusses allein, der gerade über die Ufer getreten war, war schon Hindernis genug, scheinbar Grund genug, diesen letzten Abschnitt nicht zu wagen, sondern sich auf der anderen Seite niederzulassen.

Doch für Josua kommt diese Lösung überhaupt nicht in Frage: Sie, die Israeliten, gehen ihren Weg doch nicht allein: Gott selber ist es, der sie aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt hat. Gott selber ist es, der ihnen all die Jahre ihrer Wüstenwanderung vorangezogen ist. Und Gott selber ist es, der nun sein Versprechen an die Israeliten auch endgültig wahrmachen will, sie nun auch schließlich ins Gelobte Land führen will. Ja, Gott selber ist es, der möglich macht, was ihnen, den Israeliten, zunächst unmöglich erscheinen mag. Und so fordert Josua die Israeliten zu einer scheinbar erst einmal völlig unsinnigen Aktion auf: Er lässt die Priester mit der Bundeslade vor dem Fluss antreten und fordert das Volk auf, den Priestern mit der Bundeslade zu folgen. Die Älteren unter den Flüchtlingen mögen es geahnt haben: Gott kann Wege auch durchs Wasser bahnen, durchs Schilfmeer ebenso wie jetzt durch den Jordan. Und in der Tat: Genau in dem Augenblick, in dem die Priester sich auf den Jordan zubewegen, ereignet sich einige Kilometer weiter nördlich ein Erdrutsch am Jordan: Das Wasser fließt ab, und die Israeliten können durch den Jordan hindurchziehen, ohne auch nur eine Schwimmbewegung machen zu müssen. Und so kommen sie schließlich auf der anderen Seite an: immer hinter der Bundeslade her, mitten durchs Wasser hindurch.

Flüchtlinge sind nicht nur die Israeliten, Flüchtlinge sind nicht nur die Brüder und Schwestern aus unserer Gemeinde, die einen weiten Weg aus dem Iran und Afghanistan nach Deutschland hinter sich gebracht haben. Flüchtlinge sind wir alle miteinander, unterwegs zu einem Zuhause, das wir noch nicht erreicht haben. Es ist gut, wenn wir uns daran durch Gottes Wort immer wieder erinnern lassen. Denn die Gefahr ist groß, dass wir unser Flüchtlingsdasein vergessen, dass wir uns auf dieser Seite des Jordan niederlassen und glauben, damit das Ziel unseres Lebens erreicht zu haben. Die Gefahr ist groß, dass wir glauben, wir hätten in unserem Leben alles erreicht, was wir erreichen können, wenn wir einen Beruf haben, eine Familie haben, uns vielleicht so manche Annehmlichkeit leisten können. Die Gefahr ist groß, dass wir glauben, wir hätten das Ziel erreicht, wenn wir endlich Aufenthaltspapiere in Deutschland in der Tasche haben. Doch Deutschland ist nicht das gelobte Land, zu dem wir unterwegs sind. Das Ziel unseres Lebens liegt auf der anderen Seite des Jordan, für uns, mit unseren Möglichkeiten und Kräften gar nicht erreichbar. Kein Wunder, dass es so viele Menschen in ihrem Leben so leicht aus den Augen verlieren. Und darum ist es so gut und wichtig für uns, dass wir hören, was Gottes Wort auch uns heute Abend ans Herz legt: Zieh weiter zum Ziel – immer der Lade nach, und mitten durchs Wasser hindurch.

Die Israeliten versuchten damals nicht auf eigene Faust, über den Jordan zu kommen. Sie wussten: Wir haben uns an der Bundeslade zu orientieren, haben ihr zu folgen. So kamen sie schließlich am Ziel an. Bei uns ist das nicht anders: Wer versucht, auf eigene Faust das Ziel seines Lebens zu erreichen, wer darauf vertraut, dass er mit seinen eigenen guten Werken, mit seinem anständigen Leben irgendwann schon mal im Himmel ankommt, der täuscht sich gewaltig: Es gibt nur einen Weg ins gelobte Land, nur einen Weg ins Ziel unseres Lebens, in Gottes neue Welt. Und das ist die Lade, das ist der Ort der Gegenwart Gottes, kein anderer, als er, Jesus Christus selber. Wo er ist, ist Gott; er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch ihn allein. Orientieren wir uns in unserem Leben darum immer wieder an Jesus Christus, kommen wir dorthin, wo er zu finden ist, lassen wir uns in seine Nachfolge rufen. Dann gehen wir auf dem Weg zum Ziel nicht unter; dann kommen wir schließlich dort an, wo wir einmal endgültig zu Hause sein dürfen.

Doch dieser Weg zum Ziel geht auf jeden Fall durchs Wasser hindurch, durch das Wasser der Heiligen Taufe. Wie damals die Israeliten beim Durchmarsch durch den Jordan gnädig davor bewahrt wurden, im Wasser umzukommen, so wurden und werden auch wir in der Taufe gnädig vor dem Tod bewahrt. Nein, ganz so trocken wie die Israeliten sind wir in unserer Taufe nicht davongekommen. Da ist schon Wasser geflossen, da gab es schon ein Todesopfer: unser alter Mensch ist in diesem Wasser umgekommen. Aber mitten im Wasser sind wir zugleich neu geschaffen worden, neue Menschen in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, der sich in eben demselben Jordan viele hundert Jahre später selber hat taufen lassen. Mit dem Durchzug durch das Wasser der Taufe sind wir allerdings noch nicht am Ziel angekommen. Noch stehen uns in unserem Leben so manche schwere Wege bevor, Wege, von denen wir nicht wissen, wie wir sie denn durchstehen sollen. Doch wir dürfen gewiss sein: Das Ziel unseres Weges kann uns keiner mehr nehmen. Niemand kann uns mehr daran hindern, schließlich dort anzukommen, wo uns nicht mehr wie die Israeliten damals noch weitere Kämpfe erwarten, sondern wo wir endgültig zu Hause sein werden, wo wir nie mehr werden Angst haben müssen, wieder hinausgeworfen zu werden, abgeschoben zu werden, wieder auf der Flucht sein zu müssen. Bleiben wir also ganz bewusst Flüchtlinge, richten wir uns auf unserem Weg zum Ziel niemals ganz fest ein, sondern halten wir uns an das, was wirklich zählt: an die Lade, an Christus, und an das Wasser unserer Taufe. Es lohnt sich. Amen.