07.05.2014 | Apostelgeschichte 20,17-31 | Mittwoch nach Misericordias Domini
Pfr. Dr. Gottfried Martens

Ich erinnere mich noch gut an ein liebes Gemeindeglied, das ich regelmäßig im Pflegeheim besuchte, um mit ihm das Heilige Abendmahl zu feiern. Sobald es mich sah, rief es immer die gleichen Worte: „Der gute Hirte vergisst seine Schafe nicht!“ Immer wieder habe ich versucht, diese Worte in meiner Begrüßung ein wenig theologisch zurechtzubiegen und auf Christus, den guten Hirten, zu verweisen. Ja, Hirte bin ich natürlich auch, das kann und will ich nicht bestreiten – aber „guter Hirte“: Das ist dann doch Jesus Christus allein, diese Worte kann ich nun wirklich nicht auf mich beziehen. Doch meine Versuche hatten nur sehr begrenzten Erfolg: Offenbar verschmolzen für dieses Gemeindeglied mit fortschreitendem Alter immer mehr das Bild des einen guten Hirten Jesus Christus und das Bild des Hirten, den es nun direkt vor Augen hatte.

Genau dieses Doppelthema, Schwestern und Brüder, bestimmt auch die Lesungen und die Verkündigung der Woche nach dem zweiten Sonntag nach Ostern, Misericordias Domini. Ja, auch in dieser Woche soll allein er, Jesus Christus, der gute Hirte, ganz im Mittelpunkt stehen. Und doch ist in den Lesungen zugleich auch immer wieder von den Hirten die Rede, die den Hirtendienst an der Herde Gottes im Auftrag des guten Hirten versehen, und es geht deshalb in dieser Woche auch immer wieder darum, in welchem Verhältnis diese Hirten zu dem einen guten Hirten Jesus Christus stehen.

Genau darum geht es auch in der Predigtlesung dieses heutigen Abends. Da ist zwar nicht von Hirten, sondern von Bischöfen die Rede, aber diese Bischöfe sollen eindeutig Hirtenaufgaben wahrnehmen, sollen die Herde weiden und sie vor dem Eindringen von Wölfen schützen. Paulus persönlich hatte den ganzen Pfarrkonvent von Ephesus nach Milet kommen lassen, um sich von den versammelten Hirten zu verabschieden: Er war auf dem Weg nach Jerusalem, und ihm war klar, dass er dort in Jerusalem verhaftet werden würde und darum diese Hirten nicht noch einmal zu seinen Lebzeiten zu sehen bekommen würde. Und so hält er ihnen zum Abschied eine Rede, in der er noch einmal sehr deutlich macht, was Aufgabe eines Hirten, eines Bischofs ist. Ja, in solchen Übergangssituationen, in solchen Abschiedssituationen wird diese Verhältnisbestimmung zwischen dem einen guten Hirten Jesus Christus und seinem Hirten-Bodenpersonal noch einmal besonders wichtig, muss von daher noch einmal besonders deutlich markiert werden. Und so erweist sich das, was Paulus damals den Hirten in Milet sagte, auch für uns heute, mehr als 1900 Jahre später, immer noch als sehr aktuell:

Zunächst einmal macht Paulus hier sehr deutlich, von wem die Hirten denn ihren Auftrag haben: Sie haben ihr Amt nicht, weil sie bei einer Casting-Show gewonnen haben, sie haben ihr Amt nicht, weil sie sich selber darum beworben hätten oder bewiesen hätten, wie gut und qualifiziert sie doch sind, sie haben sich auch nicht in einem Wahlkampf um dieses Amt durchgesetzt. Sondern Paulus sagt von sich selber, dass er sein Amt von dem Herrn Jesus empfangen habe, und entsprechend sagt er zu den Hirten aus Ephesus, dass der Heilige Geist sie in der Herde, auf die sie Acht haben sollen, zu Bischöfen eingesetzt habe. Recht verstanden kann es also niemals um eine Konkurrenz zwischen dem einen guten Hirten und den vielen Hirten hier auf Erden gehen, denn Christus selber ist es ja, der als der gute Hirte durch seinen Heiligen Geist Hirten in ihr Amt einsetzt, ja, auch heute noch, bei jeder Heiligen Ordination. An diesen einen guten Hirten rückgebunden ist darum jeder ordinierte Hirte, bin darum auch ich; von ihm habe ich das Amt, vor ihm habe ich mich darum auch zu verantworten. Niemals soll und darf ich mein Amt so ausführen, dass ich den Blick auf den einen guten Hirten verdecke, dass ich Menschen an mich ziehe, wie Paulus es hier warnend formuliert. Wo Hirten in ihrem Dienst Menschen an sich statt an Christus binden, da versehen sie ihr Amt nicht recht, da besteht die Gefahr, dass ein Abschied, wie er hier von St. Lukas beschrieben wird, dann nicht nur das Ende der Beziehung zu einem Menschen im Hirtendienst, sondern das Ende der Beziehung von Menschen zu Jesus Christus selber bedeutet – was für eine furchtbare Vorstellung!

Was sollen die Hirten, die Christus eingesetzt hat, machen? Sie sollen die Herde weiden, so betont es Paulus. „Weiden“ heißt nicht: unterhalten, heißt nicht: sich bei Menschen beliebt machen. Sondern „weiden“ geschieht dadurch, so betont es Paulus, dass das Evangelium von der Gnade Gottes verkündigt wird, ja, dass der ganze Ratschluss Gottes verkündigt wird. „Weiden“ geschieht also immer durch das Wort Gottes, nicht dadurch, dass man sich selber mit seiner Persönlichkeit in den Vordergrund drängt. Darum dürfen wir für den Hirtendienst dankbar sein, den Christus in seiner Kirche gestiftet hat, weil durch diese Hirten Gottes Wort laut wird, weil durch diesen Hirtendienst Menschen zu Christus gerufen werden, von ihm erfahren, durch das verkündigte Wort zum Glauben geführt oder im Glauben gestärkt werden.  

Und die, die diesen Hirtendienst versehen, tragen dabei eine ganz große Verantwortung: Paulus formuliert hier in seiner Abschiedsrede sehr drastisch, er sei rein vom Blut aller, weil er nicht unterlassen habe, den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen. Damit erinnert er an das Wort, das Gott einst dem Propheten Hesekiel gesagt hatte: Wenn du den Sünder nicht warnst, ihm nicht verkündigst, was ich dir aufgetragen habe, dann werde ich sein Blut von dir fordern. Wenn ein Hirte nicht verkündigt, was ihm zu verkündigen aufgetragen ist, wenn er verschweigt, was er hätte sagen sollen, und dadurch Menschen nicht hören, was zu ihrem Heil nötig ist, dann wird Gott ihn dafür einmal zur Rechenschaft ziehen. Ja, Schwestern und Brüder, das sind Worte, die mich selber immer wieder nicht loslassen, mich immer wieder erkennen lassen, wie wenig ich oft dem Hirtenauftrag gerecht geworden bin, den ich von Christus bekommen habe.

Und zu diesem Hirtenauftrag gehört eben auch noch etwas Anderes: Die Hirten sollen achtsam sein, wachen über die Herde, weil in ihrer Mitte immer wieder Menschen aufstehen werden, die falsche Lehre verkündigen, die die Gemeinde verführen und Menschen an sich statt an Christus binden. Paulus macht auch uns damit etwas ganz Wichtiges deutlich: Die größte Gefahr für die Kirche, für die Herde Gottes, kommt nicht von außen. Diejenigen Glieder aus unserer Gemeinde, die hierher nach Deutschland gekommen sind, weil sie schon im Iran oder in Afghanistan heimlich Christen waren, die wissen, dass Angriffe von außen die Kirche immer wieder nur stärker machen. Doch viel größer ist die Gefahr, die von innen kommt, durch Irrlehrer und Sektierer, durch Menschen, die im Inneren der Kirche Streit und Verwirrung stiften. Da müssen die Hirten dann tatsächlich kämpfen, unter Einsatz von allem, was sie haben. Es geht nicht um sie, nicht um ihre Stellung, sondern darum, dass keiner von denen, die ihnen anvertraut sind, verlorengeht. Unter Tränen hat Paulus drei Jahre lang in seinem Dienst die ermahnt, die ihm anvertraut waren. Ja, ohne Tränen geht der Hirtendienst in der Tat oft nicht ab. Es geht im christlichen Glauben, es geht bei der Zugehörigkeit zur Kirche Gottes eben niemals um ein unverbindliches Hobby. Es geht darum, dass Menschen bei Jesus bleiben, dass sie bei ihm und in ihm das ewige Leben haben. Dem sollen die Hirten mit ihrem Einsatz dienen. Doch wie gut, dass sie dabei nicht allein sind. Er, der eine gute Hirte, Jesus Christus, hat sich ja nicht aus seiner Herde zurückgezogen. Er gebraucht die Hirten als seine Werkzeuge, um seinen rettenden Plan auszuführen. Er weiß, wie er die Hirten gebrauchen kann – und auch, wie lange er sie gebrauchen kann, wann er sie durch andere ersetzt, wie damals den Paulus eben auch. Ja, jene Frau im Pflegeheim hatte doch so recht: Der gute Hirte vergisst seine Schafe nicht. Jesus sei Dank! Amen.