08.07.2014 | Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 | Dritter Sonntag nach Trinitatis
Pfr. Dr. Gottfried Martens

„Das ist doch nicht gerecht!“ – So klagten die Bewohner des Flüchtlingsheims. Warum lässt uns Gott hier so viel Schweres erfahren, warum lässt er uns fern von unserer Heimat unter solch primitiven Umständen leben? Wir haben doch gar nichts gemacht, weswegen er uns so sehr strafen sollte!

Mehr als zweieinhalbtausend Jahre ist es schon her, dass sich der Prophet Hesekiel an Menschen wandte, die genau solche Worte auf ihren Lippen hatten: Worte der Klage, ja, der Anklage gegen Gott, der sie scheinbar verlassen hatte, sie scheinbar so ungerecht behandelte. Und doch gibt es so viele unter euch heute Morgen, die die Bewohner in ihren Flüchtlingscamps im Gebiet des heutigen Irak nur allzu gut verstehen können. Gewiss, Worte der offenen Anklage gegen Gott habe ich aus eurem Mund bisher selten nur vernommen. Aber dieses Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, das kennen viele von euch doch auch: Was haben wir denn gemacht? Wir haben uns heimlich getroffen und in der Bibel gelesen – und dafür mussten wir nun alles aufgeben, was wir hatten: unser Haus, unseren Beruf, unsere Heimat! Wir haben doch nur gewagt, unseren Mund aufzumachen und für Freiheit zu demonstrieren – und dafür haben sie uns verprügelt und gefoltert. Wir wollten doch nur unseren christlichen Glauben in Freiheit leben können – und dafür haben wir hier in Europa monatelang im Gefängnis gesessen oder auf der Straße leben müssen. Das ist doch alles nicht gerecht! Und wenn man denn ein wenig weiter denkt, dann liegt die Frage eben gar nicht mehr so fern: Warum lässt du, Gott, das eigentlich alles zu? Und diese Frage stellen sich eben nicht nur Flüchtlinge aus dem Iran und Afghanistan, diese Frage mag sich auch so mancher Einheimische stellen, der auf sein Leben zurückblickt und darin so vieles eben auch gar nicht verstehen kann.

Die Israeliten damals im Exil in Babylon, die hatten die Schuldigen schließlich ausgemacht: Es waren ihre Väter, die Schuld auf sich geladen hatten, deretwegen sie ihre Heimat Israel verlassen mussten. Aber warum mussten sie, die nachfolgenden Generationen, dafür nun immer noch büßen? Doch Gott selber lässt sich auf diese Diskussion nicht ein. Er verteidigt sich nicht, dass er doch gerecht gehandelt hat, er versucht auch nicht zu erklären, warum das, was die Israeliten nun erfahren, doch gerecht und nachvollziehbar ist. Sondern er lenkt den Blick der Israeliten in eine andere Richtung, lenkt ihn nach vorne: Hört auf, euer Leben nur von dem her zu verstehen, was gewesen ist. Schaut vielmehr nach vorne: Es geht für euch um Leben und Tod, und zwar in einem noch viel grundlegenderen Sinne: Es geht darum, ob ihr euch von mir trennt, ob ihr euer Leben getrennt von mir führt und beendet oder nicht. Es geht darum, ob jeder einzelne von euch sein Leben verfehlt oder nicht.

Schwestern und Brüder: Das ist ein heilsamer Perspektivwechsel auch für euch, für uns heute. Gewiss, es ist unausweichlich, dass ihr euch immer wieder auch mit eurer Vergangenheit beschäftigen müsst. Das Bundesamt erwartet das von vielen von euch, Richter erwarten das von euch – und in vielen Fällen dient es auch einfach der Heilung eurer Seele, wenn ihr anderen von dem erzählen könnt, was ihr in der Vergangenheit durchgemacht habt, ganz gleich ob nun im Iran oder Afghanistan, in der Ukraine oder etwa auch im Krieg hier in Deutschland. Aber dass sich dadurch all das, was ihr erlebt habt, als sinnvoll verstehen lässt, das können wir nicht erwarten. Aber sehr viel besser verstehen können wir unser Leben in der Tat, wenn wir uns von Gott dafür die Augen öffnen lassen, dass nicht bloß hinter uns, sondern vielmehr vor uns ein Leben liegt, über das die Entscheidung nicht schon in der Vergangenheit gefallen ist, sondern hier und jetzt noch fällt. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre es doch völliger Wahnsinn gewesen, weshalb viele von euch sich im Iran in den Hausgemeinden getroffen haben und damit ihr Leben riskiert haben. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre es doch völliger Wahnsinn, alles aufzugeben, was man in seinem Leben hat, und sein Leben auf der Flucht zu riskieren. Ja, dann wäre es doch auf völlig sinnlos, sich nach all dem Schweren, was man in seinem Leben in Russland oder in Deutschland erfahren hat, noch hierher in die Kirche zu begeben. Damit lassen sich die Jahre im Arbeitslager, damit lassen sich die Jahre der schweren Krankheit doch auch nicht mehr rückgängig machen!

Doch das Leben liegt eben noch vor uns, ganz gleich, wie alt wir auch sein mögen, das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, ja, das Leben, das Gott für uns will, so betont er es hier in den Worten des Propheten Hesekiel. Doch ob wir an diesem Leben Anteil gewinnen, hängt eben auch nicht an dem, was in der Vergangenheit gewesen ist, das entscheidet sich in der Tat hier und jetzt, so betont es Hesekiel im Auftrag Gottes hier: Kein Israelit kann sich einfach darauf berufen, dass er ja fromme Vorfahren, fromme Stammväter gehabt hat. Ja, kein Israelit kann sich darauf berufen, dass er doch in der Vergangenheit ein gerechtes und anständiges Leben geführt hat. Wenn er sich von Gott abwendet, von ihm nichts mehr wissen will, dann nützt ihm dies alles nichts, aber auch gar nichts mehr, so betont es der Prophet hier mit großem Nachdruck.

Und das gilt für uns heute ganz genauso wie für die Israeliten damals: Du kommst nicht deshalb ins ewige Leben, weil du schon lutherische Vorfahren hattest und zeit deines Lebens zur lutherischen Kirche gehört hast. Deine fromme Großmutter nützt dir gar nichts, wenn du von dem, was sie geglaubt hat, selber nichts mehr wissen willst. Und du kannst dir in deinem Leben auch nicht gleichsam ein Polster zulegen, von dem du dann später in deinem Leben einmal zehren kannst. Du kannst nicht sagen: Ich bin früher ja ganz regelmäßig in die Kirche gegangen, habe früher ja ganz regelmäßig das Heilige Abendmahl empfangen, da brauche ich jetzt nicht mehr so oft zu kommen; im Durchschnitt gerechnet stehe ich beim lieben Gott eigentlich immer noch ganz gut da! Nein, deine Vergangenheit nützt dir gar nichts, wenn du jetzt nichts mehr von Gott, von Christus wissen willst! Wenn du solange, wie du noch nicht als Flüchtling anerkannt warst, ganz regelmäßig in der Kirche warst, und jetzt, wo du deinen Pass hast, kaum noch kommst, dann nützt dir die Zeit, in der du vorher in der Kirche warst, gar nichts, und der Pass, den du nun bekommst, mit dem kannst du zwar hier in Deutschland leben – aber in den Himmel kommst du mit dem nicht!

Ja, hier und jetzt fällt in deinem Leben die Entscheidung, ob dein Leben im Tod endet oder einmündet in das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Wenn du jetzt von Gott nichts mehr wissen willst, wenn seine Einladung für dich jetzt unwichtig wird, dann stehst auch du in der Gefahr, dein Leben endgültig zu verfehlen. Ja, Schwestern und Brüder, diese Worte des Propheten sollen uns in der Tat aufrütteln, sollen uns aufwecken, dass wir ja nicht unser Leben verpennen. Ja, was sollen wir also tun, damit wir unser Leben retten, damit wir das ewige Leben gewinnen? Ganz einfach, sagt Hesekiel: „Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.“ Na, denn man los – dann werft man schön, dann fangt mal an, euch ein neues Herz zu schaffen! Das klappt nicht, das schafft ihr nicht, meint ihr? Ja, hoffentlich meint ihr das, hoffentlich erkennt ihr das, dass ihr von euch aus keine Chance habt, das ewige Leben zu gewinnen. Hoffentlich gibt es keinen unter euch, der meint, er sei ja so gut, so gerecht, da solle der liebe Gott doch froh sein, ihn in seiner Nähe haben zu dürfen. Doch gerade wenn du erkennst, dass du dir nicht selber den Weg ins ewige Leben bahnen kannst, darfst du die gute Nachricht hören, dass du nicht selber deine Übertretungen von dir werfen musst, dass du dir nicht selber ein neues Herz schaffen musst. Nein, du musst nicht selber deine Übertretungen, deine Schuld von dir werfen. Christus, dein Heiland, hat sie auf sich genommen und getragen, als er für dich am Kreuz gestorben ist. Immer wieder will er dir seine Vergebung schenken, wenn er dich einlädt hier an seinen Altar, wenn er dir die Hand auflegt und zu dir sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Immer wieder will er sich mit dir verbinden im Heiligen Mahl, wenn er zu dir kommt mit seinem heiligen Leib und Blut, will gerade so in dir schaffen, was du nie schaffen könntest: ein neues Herz, in dem er lebt, den Glauben an ihn, der dein Leben bestimmt.   

Ja, das will er heute tun, für dich und in dir, und das will er auch weiter immer wieder für dich und in dir tun. Glaube ja nicht, du könntest darauf jemals verzichten, bleibe nur dran an ihm! Lass dir von ihm immer wieder den Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft lenken, weg von dem, was war, was du oder andere getan haben, hin auf das, woran er dir Anteil geben will, was er dir schenken will. Das ist die Bekehrung, die Christus selber an dir und in dir wirkt. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben! Amen.