8. Die Kirche hat in ihrer Geschichte viele Verbrechen begangen

Der Verweis auf die angebliche „Kriminalgeschichte des Christentums“, wie der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner sein auf zehn Bände angelegtes Werk genannt hat, gehört zweifelsohne zu den beliebtesten Argumenten gegen den christlichen Glauben.

Nun kann man zunächst einmal natürlich zurückfragen, warum der Verweis auf Verfehlungen der christlichen Kirche in der Vergangenheit tatsächlich ein Argument sein kann und soll, sich mit dem Anspruch des christlichen Glaubens, und das heißt ja zunächst und vor allem: mit dem Anspruch Jesu Christi selber, nicht auseinandersetzen zu müssen. Gewiss gibt es Menschen, die in ihrer eigenen Lebensgeschichte entsetzliche Erfahrungen mit Vertretern der Kirche haben machen müssen: Dass sich jemand, der als Kind oder Jugendlicher von einem Pfarrer oder in einem kirchlichen Heim sexuell missbraucht worden ist, später in seinem Leben schwertut, der Botschaft, die in der Kirche verkündigt wird, zu glauben, ist nachvollziehbar. Jesus selber hat hierzu bereits klar Stellung bezogen: „Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“ (St. Matthäus 18,6) Doch in den meisten Fällen, in denen Menschen sich auf frühere Verfehlungen und Verbrechen der Kirche beziehen, ist solch eine persönliche Betroffenheit schwerlich zu erkennen und nachzuvollziehen; in aller Regel dient der Verweis auf diese Verfehlungen nur dazu, sich die Frage nach dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens vom Halse halten zu können.

Versuchen wir das Argument dennoch einmal ernst zu nehmen: Dann müssen wir zunächst einmal fragen, wer denn mit „der Kirche“ gemeint ist, die als handelndes Subjekt bei der Begehung von Verbrechen genannt wird. „Die Kirche“ ist nach unserem lutherischen Bekenntnis dort erkennbar und fassbar, wo das Evangelium verkündigt wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi gespendet werden, also im Gottesdienst. Gewiss: Dazu gehören immer auch Menschen, die mit der Verwaltung der Gnadenmittel persönlich durch die Ordination beauftragt worden sind – und eben darum gibt es in der Kirche dann auch Menschen, die ihrerseits den Auftrag zur Ordination und zur Visitation in der Kirche haben. Und weil die Kirche ihrem Wesen nach Menschen aus allen Ländern und Völkern umfasst, das heißt auf Griechisch: „katholisch“ ist, gibt es in der Kirche auch Strukturen, die diesen Zusammenhalt zwischen den Gemeinden in der Lehre und im Leben gewährleisten sollen. Doch niemand, der in der Kirche Jesu Christi ein Amt innehat, und auch keine Ortsgemeinde und auch keine ganze Konfessionskirche kann schlicht und einfach von sich behaupten: Wir sind „die Kirche“, so gewiss auch jede Ortsgemeinde je für sich ganz Kirche – aber eben nicht die ganze Kirche – ist und darum den Auftrag hat, die Gemeinschaft mit denen zu suchen und zu bewahren, die gemeinsam mit ihr Kirche sind.

Wenn Menschen also auf die Verbrechen verweisen, die „die Kirche“ in der Vergangenheit begangen hat, dann sollten wir zunächst einmal differenzieren: Verbrechen sind begangen worden von Gliedern der Kirche, ja, gerade auch von Amtsträgern der Kirche, und Verbrechen sind begangen worden angeblich im Namen „der Kirche“, die sich nicht dagegen wehren konnte, für eben diese Zwecke missbraucht zu werden. Andererseits ist es richtig, dass christlicher Glaube seinem Wesen nach nur in der Gemeinschaft der Kirche praktiziert werden kann. Von daher hat das Verhalten der einzelnen Glieder der Kirche sehr wohl konkrete Rückwirkungen auf das Leben der Kirche als ganzes; dies machen schon die Apostel im Neuen Testament sehr deutlich. Wir können uns auch aus theologischen Gründen nur schwer dagegen wehren, wenn vom Verhalten von Christen auf „die Kirche“ zurückgeschlossen wird. Dennoch sollte man gerade diejenigen, die den christlichen Glauben nicht teilen, fragen, ob sie sich dessen bewusst sind, auf welcher Grundlage sie das Verhalten von Christen mit „der Kirche“ identifizieren und warum sie dann in aller Regel den Maßstab, den sie an die Kirche anlegen, nicht auch an andere Weltanschauungen anlegen: Wenn der christliche Glaube durch das Verhalten von Päpsten und Großinquisitoren widerlegt werden kann, müsste mit derselben Konsequenz auch der Atheismus durch das Verhalten von Josef Stalin oder auch allein vieler Anhänger der Französischen Revolution widerlegt sein. Es bleibt argumentativ ganz schwierig, vom Verhalten einzelner Vertreter einer Religion oder einer Weltanschauung auf den Wahrheitsgehalt dieser Religion oder Weltanschauung zurückzuschließen.

Schauen wir uns nun die angeblichen und tatsächlichen Verbrechen der Kirche einmal genauer an: Historisch müssen wir zunächst einmal feststellen, dass die Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte eine verfolgte Minderheit waren und logistisch nicht dazu in der Lage waren, „die Bibel zu fälschen“, wie es von historisch ahnungslosen Zeitgenossen immer wieder einmal vermutet wird, geschweige denn Strukturen besaßen, um damit organisierte Verbrechen begehen zu können. Dies ändert sich, als das Christentum im 4. Jahrhundert zunächst erlaubte Religion und schließlich sogar Staatsreligion wird. Nur allzu leicht sind Vertreter der Kirche im Laufe der Jahrhunderte immer wieder der Versuchung erlegen, politische Macht zur Durchsetzung kirchlicher Ziele einzusetzen und überhaupt politisches und kirchliches Handeln miteinander zu vermischen. Immer wieder hat es jedoch in der Kirche auch Reformbewegungen gegeben, die genau diese Verflechtung kirchlicher und politischer Interessen kritisiert und die Vertreter der Kirche vom Wort der Heiligen Schrift her zur Umkehr gerufen haben. Dennoch müssen wir bis zum heutigen Tag mit Erschrecken feststellen, dass ganze Kirchen und ihre Vertreter sich immer wieder mehr am jeweiligen Zeitgeist denn am Wort der Heiligen Schrift orientiert haben und darum Dinge getan haben, die von der Heiligen Schrift selber her niemals hätten geschehen dürfen: Kriege im Namen Gottes zu führen ist ebenso furchtbar und absurd wie die Anwendung von Gewalt und Folter zur Erzwingung des rechten Glaubens.

Wenn dies klar ausgesprochen ist, wird man zugleich jedoch auch festhalten können und dürfen, dass die übliche Litanei der Verbrechen der Kirche immer wieder auch grobe historische Irrtümer und einigermaßen unsinnige Klischees enthält und zum Teil auch einfach unhistorische Maßstäbe an Geschehnisse damaliger Zeit anlegt. Zu den Klischees, die durch beständige Wiederholung nicht richtiger werden, gehört zum Beispiel die Behauptung, die spanische Inquisition habe im Auftrag der Kirche Hexen verbrannt. Richtig ist vielmehr, dass der Glaube an Hexen von der Kirche, auch von vielen Päpsten, immer wieder als ein heidnischer Aberglaube kritisiert wurde, der im Übrigen vor allem im deutschsprachigen Raum, jedoch zum Beispiel überhaupt nicht in Spanien verbreitet war. Hexenprozesse wurden von daher zumeist vor weltlichen, nicht vor kirchlichen Gerichten verhandelt, wobei es hier allerdings angesichts der engen Verquickung von Kirche und Staat in manchen Gegenden immer wieder auch Überschneidungen gab und es auch Vertreter der Kirche gab, die, oft genug gegen den Widerstand der Verantwortlichen in der Kirche, den Hexenwahn in der Bevölkerung schürten, der eine sozialpsychologisch entlastende Funktion hatte, weil er scheinbar unerklärliche Schicksalsschläge wie etwa Seuchen oder anderes Unglück erklären zu können schien, indem man der Bevölkerung bevorzugt Frauen als Sündenböcke präsentierte. Richtig ist: Die kirchliche Inquisition hat mit völlig inakzeptablen Methoden versucht, die kirchliche Lehre zu bewahren – und gewiss darüber hinaus auch kirchliche Macht zu sichern. Doch mit dem Hexenwahn hatte gerade die spanische Inquisition herzlich wenig zu tun.

Man könnte in dieser Hinsicht nun noch viele weitere Beispiele anführen, die immer wieder dies eine erkennbar werden lassen: Vertreter der Kirche haben sich im Verlaufe der Kirchengeschichte immer wieder an Jesu Wort und Weisungen versündigt; dies geschah nicht nur individuell, sondern auch organisiert. Doch historisch betrachtet wird man dem kirchlichen Handeln vergangener Jahrhunderte auch nicht gerecht, wenn man die Kirche nur zur Projektionsfläche allen Unheils und aller Verbrechen dieser Weltgeschichte macht. Auch Päpste haben in vergangenen Jahrhunderten nicht selten sehr viel differenzierter gehandelt, als so manches Klischee dies wahrhaben will.

Doch Christen gehen eben gerade nicht so mit Schuld um, dass sie anfangen, begangene Schuld mit ebenfalls vollbrachten guten Taten aufrechnen zu wollen. Christlicher Umgang mit Schuld besteht darin, Schuld zu bereuen, sie zu bekennen und Gott dafür um Vergebung zu bitten. Dies gilt jedoch zuerst und vor allem für die je eigene, persönlich zu verantwortende Schuld. Ich kann nicht die Schuld anderer vor Gott wie meine eigene Schuld und als meine eigene Schuld bekennen; alle Versuche, dies zu tun, führen immer wieder zu einem zutiefst ungeistlichen Pharisäismus. Christen wissen dagegen, dass sie nicht besser sind als diejenigen, die – vielleicht sogar Jahrhunderte – vor ihnen gelebt und gehandelt haben, und maßen sich von daher nach St. Matthäus 7,1-5 auch nicht an, über frühere Generationen zu Gericht zu sitzen. Sie sollten allemal genug damit beschäftigt sein, nicht selber immer wieder das Gleiche zu tun, worüber sie bei anderen mit Recht erschrecken.

Von daher haben wir es als Christen aber auch nicht nötig, die Fassade einer „sündlosen Kirche“ aufzubauen. Im Gegenteil: Wir bleiben immer Kirche der Sünder, in der niemand befürchten sollte, dass auf ihn herabgeblickt wird, weil es niemanden in der Kirche gibt, der nicht immer wieder ganz und gar auf Gottes Vergebung und Erbarmen angewiesen wäre. Auf diesem Hintergrund brauchen wir dann auch nicht zu verschleiern, was in vergangenen Zeiten in der Kirche nicht in Ordnung war, und wir brauchen uns von der Kirche, in der Menschen immer wieder so massiv schuldig geworden sind, auch nicht historisch zu distanzieren, als ob dies ja gar nicht unsere Kirche sei und die wahre Kirche erst mit der Gründung der SELK im Jahr 1972 begonnen habe. Die ganze Geschichte der Kirche ist auch unsere Geschichte und bewahrt uns hoffentlich immer wieder vor dem hochmütigen Gedanken, Christen seien vielleicht doch bessere Menschen als andere.

Logisch gesehen ist das Argument, die Kirche habe in ihrer Geschichte viele Verbrechen begangen, eigentlich gar kein zwingendes Argument gegen den christlichen Glauben. Es verweist nur darauf, dass Menschen an dem Anspruch der Normen, die sie doch eigentlich auch für sich selber akzeptiert haben, in schlimmer Weise gescheitert sind. Doch über den Wahrheitsgehalt der Normen sagt dies nichts aus. Und die Normen, also die Heilige Schrift, zumal die Worte Jesu im Neuen Testament, sind für den christlichen Glauben völlig klar: Sie lassen auch keinen Deutungsspielraum zu, der beispielsweise Religionskriege oder eine blutige Verfolgung Andersgläubiger ermöglichen könnte. Wo dies doch geschah, geschah es dem Wort der Heiligen Schrift zuwider. Ob man dies in derselben eindeutigen Weise beispielsweise vom Koran behaupten kann, lässt sich zumindest bezweifeln.

Auch wenn also das oben genannte Argument kein logisch zwingendes ist, erinnert es uns Christen doch daran, dass Nichtchristen oftmals sehr viel stärker auf das Leben und Handeln von uns Christen schauen, als dass sie nur auf unsere Worte hören, die in der Flut der Wörter unserer heutigen Zeit oftmals schnell untergehen. Dass nicht auch wir selber mit unserem Leben anderen Menschen zu einem Argument gegen den christlichen Glauben werden, erbitten wir ja immer wieder auch im Vaterunser: „Geheiligt werde dein Name.“