10. Bei den vielen verschiedenen Kirchen weiß man doch gar nicht, was richtig ist.

Dieses Argument tut weh. Denn es spricht einen schmerzlichen Sachverhalt an, mit dem wir uns als Christen niemals einfach abfinden sollen und dürfen: die Tatsache, dass es trotz des Bekenntnisses der Christen zu der Einen Kirche so viele verschiedene christliche Kirchen und Bekenntnisse gibt.
Gewiss lässt sich auch dieses Argument als Vorwand missbrauchen, um sich gar nicht erst ernsthaft mit dem Anspruch des christlichen Glaubens auseinanderzusetzen: „Die Christen widersprechen sich doch selber dauernd; was soll ich mich da noch mit den Inhalten des christlichen Glaubens auseinandersetzen, wenn sogar die Christen selber eigentlich nicht wissen, was sie wollen?“ Dass man es sich nicht so einfach machen kann, werden wir im Weiteren noch sehen. Aber es ist in der Tat richtig: Wenn ein Mensch, der bisher vom christlichen Glauben noch keine Ahnung hatte, nun auf dem Weg zu Christus ist und dabei konfrontiert wird mit der Vielzahl christlicher Kirchen, die sich oftmals noch nicht einmal dazu in der Lage sehen, miteinander das Mahl des Herrn zu feiern, dann kann das die Freude derer, die dabei sind, Christen zu werden, doch deutlich trüben und kann auf sie geradezu verwirrend wirken. Und nicht nur auf Außenstehende wirkt diese Unterschiedlichkeit der christlichen Kirchen verwirrend; sie kann auch für Menschen, die schon in der Kirche zu Hause sind, immer wieder zu einer Anfrage, ja Anfechtung werden: Wie kann ich denn wissen, ob ich nun in der richtigen Kirche bin? Vielleicht hat ja eine andere Kirche recht – doch woran soll ich das letztlich festmachen und beurteilen?

Es gibt angesichts des Phänomens der Existenz verschiedener christlicher Kirchen zwei Positionierungen, die auf den ersten Blick faszinierend erscheinen, sich aber bei näherem Hinschauen doch als sehr kurzschlüssig erweisen:
Die eine Positionierung lautet: „Schaut euch die vielen verschiedenen christlichen Kirchen an, wie zerstritten sie sind. Die können die Wahrheit doch gar nicht haben, denn sonst würden sie sich nicht alle so widersprechen. Bei uns dagegen herrscht keine Unklarheit. Bei uns ist die Wahrheit ganz klar zu finden. Ja, gerade die Zerstrittenheit der anderen Kirchen ist ein Beweis dafür, dass wir die richtige Kirche, die richtige Organisation sind.“ Dieses Argument wird von den verschiedensten Seiten angewandt – von den Zeugen Jehovas habe ich es schon genauso gehört wie von Vertretern orthodoxer Kirchen.

Das Argument klingt auf den ersten Blick verlockend: Da gibt es scheinbar eine Möglichkeit, der verwirrenden Vielfalt der Meinungen und Lehren entkommen und die Wahrheit in einer bestimmten Organisation finden und festmachen zu können. Doch in Wirklichkeit ist dieses Argument eben doch sehr kurzschlüssig: Es blendet aus, dass natürlich auch die eigene Kirche oder Gruppierung, die dieses Argument vertritt, zugleich Teil jenes großen Spektrums von Kirchen und religiösen Gemeinschaften ist, das gerade von Außenstehenden immer wieder als Anfrage an den christlichen Glauben wahrgenommen wird. Es ist gewiss jeder einzelnen Kirche und Gruppierung unbenommen, die eigene Position als Wahrheit des christlichen Glaubens zu vertreten – nur ist es ein logischer Kurzschluss, die Einheitlichkeit der Lehre innerhalb der eigenen Gruppierung als Beweis ihrer Wahrheit im Gegenüber zur Vielzahl anderer Kirchen anzuführen. Diesen Anspruch könnte mit gleichem Recht eben auch jede andere Gruppe innerhalb des konfessionellen Spektrums erheben, und die Wahrheit des eigenen Anspruchs lässt sich auch nicht dadurch absichern, dass man ihn nun in besonders dröhnendem Brustton der Überzeugung vorträgt.

Die andere Positionierung lautet: Es gibt überhaupt keine allgemeingültige Wahrheit. Jeder Mensch und auch jede kirchliche Gruppierung hat eben ihre eigene Wahrheit, und die soll und kann man einfach nebeneinander stehen lassen. Dass es viele verschiedene christliche Kirchen gibt, ist kein Ärgernis, sondern etwas Schönes: Jeder findet da in einer der Kirchen sicher das Angebot, das gerade seinen Bedürfnissen in besonderer Weise entspricht, und zusammengenommen ergeben die Kirchen ein richtig schönes buntes Bild, das man gerade nicht uniformieren sollte.

In diesem Argument steckt natürlich ein Körnchen Wahrheit: Selbstverständlich sind die verschiedenen christlichen Kirchen auch geprägt von bestimmten Mentalitäten und auch von bestimmten geistlichen Erfahrungen, die sie im Verlauf der Kirchengeschichte gemacht haben. Syrisch-orthodoxe Christen werden ihre Gottesdienste immer anders feiern als deutsche Lutheraner – ganz gleich, wie nahe wir uns auch in Fragen der Lehre sein mögen. Jede Kirche sollte da auch zu ihrer eigenen Prägung, auch zu ihrer eigenen Mentalität stehen und nicht krampfhaft versuchen, diese zu verleugnen und durch andere Prägungen zu ersetzen. Gewiss können Christen aus den geistlichen Erfahrungen anderer Kirchen und Konfessionen immer wieder auch einiges lernen – wer wollte das bestreiten? Aber wenn man etwa in einer evangelischen Kirche versucht, Elemente aus der orthodoxen Liturgie darum aufzunehmen, weil man dies ja ganz „chic“ findet, auch ein wenig auf orthodox zu machen, dann ist das zumeist nicht weniger krampfig als die immer wieder erhobene Forderung, wir müssten in unseren Gottesdiensten in Deutschland nun endlich auch so zu tanzen anfangen, wie man dies in Gottesdiensten afrikanischer Christen erleben kann. So wenig wie man die deutsche Kultur übernehmen muss, wenn man Christ wird, so wenig ist die Verleugnung der eigenen deutschen Herkunft und Prägung ein Rezept, um nun Kirche lebendig zu machen.

Doch der Verweis auf die unterschiedlichen Prägungen und geistlichen Erfahrungen reicht eben allein nicht aus, um die Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen recht zu erfassen: Die Frage, ob ich im Heiligen Mahl nun wirklich und wahrhaftig den Leib und das Blut Christi empfange oder nur ein Erinnerungsmahl feiere, ist keine Frage der kirchlichen Folklore und auch keine Mentalitätsfrage und erst recht nicht bloß die Frage eines bestimmten Kulturkreises. Und wer meint, hier einander sich widersprechende Lehren und Praktiken einfach im Zeichen einer bunten Vielfalt nebeneinander stehen lassen zu können, der bezieht damit auch wiederum eine bestimmte dogmatische Position, die im Übrigen dadurch nicht richtiger und überzeugender wird, dass sie von ihren Vertretern mit nicht weniger Vehemenz als unumstößliche aktuelle Wahrheit vertreten wird als die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes von der römisch-katholischen Kirche.

Ein Ableger dieser Positionierung ist im Übrigen auch die Praxis, das Ärgernis der Vielzahl christlicher Kirchen dadurch überwinden zu wollen, dass man sie einfach zu einer organisatorischen Einheit zusammenschließt. Dies ist beispielsweise der Irrweg, den der deutsche Protestantismus im 19. Jahrhundert mit der Einführung der Union zwischen zwei ganz unterschiedlichen Konfessionen, der lutherischen und der calvinistischen Kirche, gegangen ist: Unterschiede in Lehre und Praxis wurden ignoriert und verschleiert; gewährleistet wurde die Einheit durch die gemeinsame Unterstellung unter den König bzw. Kaiser als Oberhaupt der Kirche. In gewisser Weise lässt sich diese Frage durchaus auch an die römisch-katholische Kirche stellen: So faszinierend der Ansatz ist, die Einheit der Kirche durch die gemeinsame Unterstellung unter den Papst als Oberhaupt der Kirche zu gewährleisten – wobei man zugeben muss, dass das Petrusamt zu diesem Zweck allemal besser geeignet ist als die Position eines Landesfürsten –, bleibt doch die Frage, ob sich die Einheit der Kirche in dieser Weise organisatorisch absichern lässt, wenn Lehre und Praxis innerhalb derselben Kirche zugleich immer weiter auseinanderdriften, wie man dies bedauerlicherweise heutzutage gerade auch in der römisch-katholischen Kirche beobachten kann und muss.

Schnelle und einfache Antworten auf den anfangs vorgebrachten Einwand gegen den christlichen Glauben lassen sich also nicht finden. So können wir uns an eine Antwort nur mit einigen Hinweisen herantasten:
Zunächst einmal müssen wir zugestehen, dass die Erwartung an die Kirche, dass sie eine sein sollte und dass die, die zu Christus gehören, eins sein sollten, zu Recht besteht und biblisch begründet ist: Christus bittet in Johannes 17,20-21: „Ich bitte auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“ Einssein der Jünger und Glaube der Welt an Christus werden also miteinander in Beziehung gesetzt – allerdings gerade nicht so, dass Christus hier organisatorische Zusammenschlüsse fordert, sondern dieses Einssein seiner Jünger, der Kirche, begründet in der Anteilhabe der Christen an der Lebensgemeinschaft des Vaters und des Sohnes und eben damit in der Einheit Gottes selber. Diese Einheit ist jedoch menschlicher Verfügungsgewalt entnommen und kann immer wieder nur erbeten und geschenkt werden.
Weiterhin müssen wir nüchtern bekennen und beklagen, dass christliche Kirchen in der Vergangenheit durch die Art und Weise, wie sie sich bekämpft haben – oft sogar in ganz handgreiflichem Sinne –, oft genug ein ganz schlechtes Zeugnis für den christlichen Glauben gegenüber Außenstehenden abgegeben haben. Es ist beschämend, dass sich Gegner des christlichen Glaubens darauf immer wieder mit Recht beziehen können.

Zugleich muss aber auch der Ehrlichkeit halber festgehalten werden, dass Christen gerade im letzten Jahrhundert sehr wohl gelernt haben, gemeinsam für das einzustehen, was sie miteinander verbindet, und sich davon auch in ihrem Umgang miteinander bestimmen zu lassen. Es ist keine Schönfärberei, sondern in der Tat die Wahrheit, dass die verschiedenen „seriösen“ christlichen Kirchen eine ganz breite gemeinsame Grundlage haben, die gewichtiger ist als alle noch zu beklagenden Unterschiede. Papst Benedikt XVI. hat diese gemeinsamen Grundlagen bei seiner Rede im ökumenischen Gottesdienst in Erfurt skizziert: Sie umfassen nicht weniger als das gesamte Glaubensbekenntnis der Christenheit, das Nizänische Credo. Ausdruck dieses Wissens um den tiefen gemeinsamen Grund, der die verschiedenen Kirchen verbindet, ist beispielsweise auch die sogenannte „Magdeburger Erklärung“, in der im Jahr 2007 elf verschiedene Kirchen in Deutschland die in ihnen vollzogenen Taufen jeweils wechselseitig anerkannten, darunter natürlich auch unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche. Dies ist schon ein ganz gewichtiges Argument, das man dem Verweis auf die Existenz so vieler verschiedener Kirchen entgegenhalten kann.

Von daher gilt zugleich auch: Keine christliche Kirche kann und darf den Anspruch erheben, in ihr allein könne man selig werden. Menschen werden überall dort selig, wo sie durch die Heilige Taufe zum ewigen Leben wiedergeboren werden und durch das Evangelium und die Heiligen Sakramente im Glauben an Jesus Christus bewahrt werden. Christus, der Herr der Kirche, wirkt diesen Glauben durch den Heiligen Geist, wo auch immer seine frohe Botschaft verkündigt und seine Sakramente gespendet werden. Entsprechend ist die Eine Kirche, von der das Glaubensbekenntnis spricht, keine Utopie, sondern jetzt schon bestehende Realität in all den verschiedenen christlichen Kirchen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es egal wäre, zu welcher Kirche man sich hält. Maßstab hierfür kann und darf nur sein, ob eine Kirche sich ganz an die Stiftung Christi hält, also sein Wort, wie es in der Heiligen Schrift zu finden ist, nicht durch andere Lehren ergänzt oder verfälscht und die Sakramente ganz nach Seiner Einsetzung austeilt. Die Entscheidung darüber, ob eine Kirche die rechte Kirche ist, fällt also ganz konkret im gottesdienstlichen Vollzug, der natürlich eingebettet ist in das Bekenntnis der Kirche und die Bekenntnisverpflichtung derer, die diesen Gottesdienst zu verantworten haben. Diese Verantwortung bezieht sich im Übrigen auf Gottes letztes Gericht; in seinem Angesicht handeln und verkündigen diejenigen, die den Gottesdienst leiten. Eben darum kann aber der Glaube der Kirche auch niemals Verhandlungsmasse sein. Gerade weil sich Wahrheit im Angesicht dieser Letztverantwortung vor Gottes Gericht nicht relativieren lässt, gibt es auch weiter unterschiedliche Kirchen und bleibt denen, die zu der  Einen Kirche gehören, zugleich das Ringen um die rechte Kirche, in der sie Gottes Wort hören und die Sakramente empfangen, nicht erspart. Es kann nur erhofft und erbetet werden, dass Menschen, denen die Vielzahl der Kirchen ein Glaubensanstoß ist, sich nicht auf einen resignierenden Relativismus zurückziehen, sondern sich gerade durch das leidenschaftliche Ringen der Kirchen und der Christen selber davon überzeugen lassen, worum es in den christlichen Kirchen letztlich gemeinsam geht: um den, der die Wahrheit ist: CHRISTUS.